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LiebesangstDavid Holbrook, M.D.
F: Warum können Liebesbeziehungen manchmal so beängstigend sein? A: Es gibt nichts Wunderbareres als die Liebe. Sind diese beiden Aussagen widersprüchlich? Nein. Denn je mehr man jemanden liebt, desto schmerzhafter kann es sein, ihn zu verlieren... Es gibt keine Grenze bei dem, wie sehr man jemanden lieben kann, außer der Grenze, die die Angst setzt. Man könnte diese Angst als „Liebesangst“ bezeichnen. Die Liebesangst ist ein spezifischeres Beispiel für das, was der Psychiater Wilhelm Reich „Lustangst“ nannte: die Angst vor der Lust. Die beste Art und Weise, die ich kenne, um die Angst vor der Lust zu beschreiben, basiert auf einem einfachen Experiment, über das ich vor Jahrzehnten gelesen habe. Es stellte sich heraus, daß man eine Amöbe ganz klassisch darauf konditionieren kann, eine „lustvolle“ Ausdehnung zu „fürchten“. Amöben „mögen“ Licht. Wenn man einen Objektträger mit lebenden Amöben beleuchtet, dehnen sie sich aus und bewegen sich nach oben in Richtung Licht. Wenn man dem Objektträger einen leichten elektrischen Strom zuführt, ziehen sich die Amöben zusammen; sie ziehen sich von der Welt zurück. Wenn man sie mit Licht bestrahlt und dann ein paarmal abwechselnd den Strom zuführt, werden die Amöben nun darauf konditioniert, sich zusammenzuziehen, sobald man das Licht auf sie richtet, anstatt sich auszudehnen. Dies ist eine experimentelle Demonstration von „Lustangst“ in ihrer einfachsten und primitivsten Form. Die Amöbe hat nun „Angst“ vor dem Licht (obwohl sie kein Nervensystem besitzt) und zieht sich als Reaktion auf denselben Reiz zusammen, der zuvor eine „lustvolle“ Ausdehnung verursacht hat: die Bewegung ihres strömenden Protoplasmas in Richtung Welt, anstatt von ihr weg. Liebesangst ist in allen romantischen Beziehungen anzutreffen. Sobald dir bewußt wird, daß es so etwas wie Liebesangst gibt, bist du in der Lage, ihr regelmäßig in deiner romantischen Beziehung gewahr zu werden. Das ist sehr wichtig und wertvoll, denn typischerweise ist es die Liebesangst, die Menschen dazu bringt, unbewußt Dinge zu tun, die die potentielle Tiefe und die Lust, die mit einer Beziehung einhergeht, einschränken oder sogar die Beziehung zerstören. Beim Navigieren in romantischen Beziehungen zahlt es sich aus, ständig auf der Suche nach Anzeichen von Liebesangst zu sein. In der Regel wird nicht erkannt, daß das, was geschieht, von der Angst ausgelöst wird. Sind wir aber aufmerksam genug, können wir erkennen, daß es das ist, was vor sich geht. Dies ist besonders zu Beginn einer Beziehung nützlich, wo es sehr wahrscheinlich ist, daß eine oder beide Personen aufgrund der wachsenden Liebe und der Verletzlichkeit, die die aufkeimende Beziehung mit sich bringt, Angst bekommen. Am dramatischsten ist dies zu beobachten, wenn sich nach einer besonders schönen und liebevollen Zeit, die ein neues Paar miteinander verbringt, einer der beiden plötzlich und unerklärlicherweise aus der Beziehung zurückzieht! Derjenige, der sich zurückzieht, ist vielleicht nicht einmal in der Lage, sich selbst schlüssig zu erklären, warum er sich zurückzieht. Wenn man sich der Angst in sich selbst bewußt ist, kann man sie dem Partner vermitteln und erklären, daß man sich zurückzieht, weil man Angst hat, sich immer tiefer in ihn zu verlieben. So kann man verhindern, daß sich der Partner zurückgewiesen fühlt, wenn er merkt, daß man sich zurückzieht oder distanziert ist. Ich glaube, daß die einfache Erkenntnis dieses Phänomens der Liebesangst viele Beziehungen retten kann, sowohl in der Anfangsphase als auch im Verlauf einer langfristigen Beziehung. Die Liebesangst kann auch im Verlauf einer Langzeitbeziehung in verschiedenen Stadien auftauchen. Beziehungen vertiefen sich im Laufe der Zeit Stück für Stück, sogar Beziehungen, die über Jahrzehnte andauern. In Langzeitbeziehungen kann sich die Liebesangst auf vielfältige Weise äußern, zum Beispiel manchmal in Form eines belanglosen und bedeutungslosen kleinen Streits, der nur dazu dient, ein Paar vorübergehend auseinanderzutreiben. Eine andere sehr häufige Form der Liebesangst ist die Beeinträchtigung der sexuellen Erregung oder Leistung. Wenn sich das Paar des Phänomens der Liebesangst bewußt ist, kann es leichter verstehen, daß die Einschränkungen des einen Partners sehr wohl darauf zurückzuführen sein können, daß er sich verletzlich und gehemmt fühlt, wenn es um den Genuß des Liebesspiels geht. Diese Art von Angst ist völlig unwillkürlich, sie ist keine Wahl. Wenn ein Paar dies versteht, kann es viel dazu beitragen, daß sich ein Partner vom anderen nicht zurückgewiesen fühlt. Es kann auch verhindern, daß der sich zurückziehende Partner seinen eigenen Rückzug als Zeichen dafür interpretiert, daß er seinen Partner vielleicht nicht mehr liebt: Das genaue Gegenteil kann der Fall sein! Wenn der sich zurückziehende Partner seine eigene Angst wahrnehmen kann, wird deutlich, daß er sich nicht wegen des Scheiterns der Liebe zurückzieht, sondern weil er Angst vor der Vertiefung der Liebe hat. Sex ohne Liebe ist nicht besonders beängstigend. Aber wenn man Liebe und Sex miteinander verbindet, verstärken sie sich gegenseitig. Es gibt keinen natürlichen „Boden“ für die potentielle Tiefe, die eine Beziehung erreichen kann. Nur die Angst schafft den „Boden“.
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