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Fragen und Antworten

 

 

 

 

Sex und Liebe

David Holbrook, M.D.

 

Frage: Ich höre sehr oft, daß junge Menschen heutzutage weniger an Liebe interessiert sind als frühere Generationen, während sie gleichzeitig sexuell weitaus aktiver sind als frühere Generationen. Wilhelm Reich schrieb über die Bedeutung des Orgasmus im besonderen und das sexuelle Funktionieren im allgemeinen bei der psychischen und körperlichen Gesundheit. Warum scheint es so, daß all die sexuellen Aktivitäten heutzutage die Menschen nicht psychisch gesünder machen?

Antwort: Reichs Entdeckungen werden allgemeinhin dahin mißverstanden, als hätte er behauptet, daß zwischen sexueller Aktivität und psychischer Gesundheit ein mechanischer Zusammenhang bestehe. Reich hat jedoch sehr deutlich gemacht, daß er über sexuelle Liebe spricht und nicht über Sex ohne Liebe oder Liebe ohne Sex. Liebe ist ein biophysikalisches Phänomen, und als Reich über Lust- und Orgasmusangst schrieb, schrieb er nicht nur über Sexualangst an sich. Er beschrieb die Angst vor einer vollständigen physio-emotionalen Beteiligung am Leben im allgemeinen und insbesondere in der genitalen Umarmung:

Die Fähigkeit, sich trotz mancher Widersprüche mit der gesamten affektiven Persönlichkeit zeitweise auf das genitale Erleben einzustellen, ist eine (…) Eigenschaft der orgastischen Potenz. (Reich 1927, S. 43, kursiv im Original)
Was ich meine, ist die emotionale, die primäre emotionale Erfahrung der Verschmelzung zweier Organismen ... Es ist nicht nur das Ficken, Sie verstehen, nicht die Umarmung an sich, nicht der Geschlechtsverkehr. Es ist die wirkliche emotionale Erfahrung: der Verlusts des Ichs, des gesamten geistigen Selbst. (Reich 1952, S. 24)
Die Genitalien sind bloß ausführende Organe der physischen Durchdringung, nachdem die gegenseitige Verschmelzung der Orgonenergiefelder schon einige Zeit vor der schließlichen Erfüllung geschah. (Reich 1953, S. 76)
Die innere Beschaffenheit der Liebesfunktion hat auf jede einzelne Teilfunktion auch aller anderen Aktivitäten des Individuums bestimmenden Einfluß. (Reich 1953, S. 80)
Die Quantität an sexueller Aktivität kann niemals die Qualität der vollen emotionalen Beteiligung an der Sexualität ersetzen. Das Konzept der Orgasmusangst beinhaltet implizit ein Konzept der „Liebesangst“. Das ist der Grund, warum Orgasmusangst, ein scheinbar psychisches Phänomen, die Grundlage allen Panzers sein kann, sei es physisch (quantitativ) oder charakterologisch (qualitativ):

Letzten Endes steckt die Orgasmusangst hinter allen Manifestationen der Panzerung. (Baker 1967, S. 32)
Orgasmusangst ist keine mechanische Sache. Es ist eine Funktion der Unfähigkeit des menschlichen Organismus, sich vollständig der Liebeserfahrung zu ergeben, und diese Unfähigkeit ist sowohl auf somatische als auch auf charakterologische Panzerung zurückzuführen. Daher ist alle Orgasmusangst auch „Liebesangst“.

Auf der tiefstmöglichen Ebene bildet „Pulsationsangst“, die Unfähigkeit, volle Pulsation zu ertragen, die Grundlage aller Lustangst, einschließlich Orgasmusangst und Liebesangst. In diesem Sinne sind dies alles unterschiedliche Begriffe für dasselbe.

 

Nachbemerkung: Ich habe eine Menge Teenager und Studenten im College-Alter, die auf das fast völlige Fehlen jeglicher Art tiefer emotionaler Bindung unter Gleichaltrigen und die fast vollständige Trennung der Sexualität von jeglicher Art von Liebe verweisen. Es ist, als ob die Liebe jetzt irgendwie politisch unkorrekt ist, etwas, das man vermeiden sollte wie die Pest, und gelegentlicher Sex ist nicht nur akzeptabel, sondern auch zwingend, so als würde man damit zeigen, daß man Sexualität nicht ernst nimmt und daß es sich um etwas „Beiläufiges“ handeln sollte. Was sie nicht gewärtigen, ist, daß sexuelle Begegnungen meiner Meinung nach immer Emotionen beinhalten, unabhängig davon, ob diese erkannt werden oder nicht, und ich denke, es hinterläßt Narben, wenn der emotionale Aspekt ignoriert oder verleugnet wird. Ich rede hier nicht irgendeiner Art von Moralismus das Wort, ich erörtere nur die Wichtigkeit der Liebe und wie schädlich es, meiner Meinung nach, sein kann, körperlich intim zu sein ohne Liebe. Ich denke, es gibt viele sexuelle Aktivitäten, aber Liebe wird um jeden Preis vermieden! Für mich ist Sex der Zuckerguß über der romantischen Liebe. Ich glaube, daß er in seiner natürlichen und gesunden Form ein Vehikel für liebevolle Zärtlichkeit und emotionale Verschmelzung ist, nicht etwas, das du „tust“. Offensichtlich gibt es einen enormen sensorischen Aspekt, sinnliche Lust, aber ohne die emotionale Verbindung und Verschmelzung befriedigt die Lust nie vollständig. Zumindest ist das mein Eindruck.

 

Literatur

  • Baker EF 1967: Der Mensch in der Falle, München: Kösel, 1980
  • Reich W 1927: Genitalität, Köln: KiWi, 1982 [Ursprünglich 1927 mit dem Titel Die Funktion des Orgasmus veröffentlicht. Das ist ein komplett anderes Buch als das von 1942 mit dem gleichen Namen.]
  • Reich W 1952, In: Higgins MB, Raphael CM (Hrsg.) 1967: Reich Speaks of Freud, New York: Farrar, Straus and Giroux, 1967
  • Reich W 1953: Christusmord, Freiburg: Walter-Verlag, 1978

 

 

zuletzt geändert
06.09.19

 

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