„Wortsprache“: Charakteranalyse in der Frühphase einer medizinischen Orgontherapie
David Holbrook, M.D.
The Journal of Orgonomy vol. 43/1, 2009 The American College of Orgonomy
AbstractDie folgende Falldarstellung zeigt die Wirksamkeit der Charakteranalyse, eines verbalen Prozesses, bei einem Patienten, der bisher zu sehr darauf bedacht war, sich mit den nonverbalen Aspekten der medizinischen Orgontherapie zu befassen.
Wilhelm Reich unterschied zwischen „Wortsprache“ und „Ausdruckssprache“ (Reich 1949, S. 473-477). „Wortsprache“ bezieht sich auf verbale Sprache und deren Inhalt. „Ausdruckssprache“ ist ein umfassenderer Begriff, der sich auf den bioemotionalen Ausdruck des gesamten menschlichen Organismus bezieht, der in der Regel aufschlußreicher ist als das, was bloße Worte auszudrücken vermögen. Tatsächlich zeigt die klinische Erfahrung, daß Wörter oft eine Abwehr gegen den natürlichen spontanen Ausdruck darstellen, statt ihm zu dienen.
Reich definierte Emotion als „Plasmabewegung“ [an expressive plasmatic motion, „plasmatische Ausdrucksbewegung“] (S. 472). Diese revolutionäre Definition von Emotion als eher physisches als ausschließlich psychologisches Phänomen lieferte ein Verständnis dafür, wie Psyche und Soma zusammenhängen. Beispielsweise können kontaktvolle verbale charakteranalytische Interventionen starke Emotionen und körperliche Reaktionen hervorrufen, einschließlich solcher, die durch das Autonome Nervensystem (ANS)(1) vermittelt werden. Dies zeigt, daß die Wortsprache bis in den Kern der bioemotionalen Funktionsweise hineinreichen kann.
Obwohl Reich die allgemein größere Tiefe der Ausdruckssprache betonte, bezog er die Wortsprache in den Bereich des Bioemotionalen ein.
Es ist offenkundig, daß die Sprache in ihren Wortbildungen sich an die Wahrnehmung innerer Bewegungszustände und Organempfindungen anlehnt und daß die Worte, die emotionelle Zustände beschreiben, die entsprechenden Ausdrucksbewegungen des Lebendigen unmittelbar widergeben.
Ähnlich:
Ob wir nun Emotionen aus der charakterlichen Panzerung mittels „Charakteranalyse“ oder ob wir sie aus der muskulären Panzerung mittel „Vegetotherapie“(2) mobil machen: Wir veranlassen in jedem dieser Fälle plasmatische Erregungen und Bewegungen. (…) Wir arbeiten also in jedem Fall, gleichgültig ob wir Erinnerungen hervorrufen, Abwehrmechanismen auflösen oder muskuläre Spannungen beseitigen, stets an der Orgonenergie des Organismus. (…) „Orgontherapie“ [umfaßt] auch die Charakteranalyse und die Vegetotherapie (…) Das Gemeinsame ist durch (…) die Mobilisierung seiner plasmatischen Strömungen gegeben. Mit anderen Worten, wir können unter keinen Umständen, einen lebenden Organismus in Charaktereigenheiten hier, Muskeln und Plasmafunktionen (…) aufteilen (…). (S. 472f)
Reich revolutionierte die Psychiatrie, als er betonte, wie therapeutisch unentbehrlich es ist, über die Wortsprache hinaus auf den Ausdruck des Gesamtorganismus zu schauen. Auf diese Weise bewegte er sich von der Psychologie in den Bereich der Biologie.
Die folgende Falldarstellung zeigt das Potential der charakteranalytischen Therapie, wo die Möglichkeit zur nonverbalen Arbeit bisher durch die extreme Angst des Patienten begrenzt war.
Informationen zum Patienten
Der Patient ist ein 55jähriger, verheirateter weißer Mann ohne Kinder. Als paranoider schizophrener Charakter stellte er sich im Alter von 50 Jahren zur Therapie vor und klagte über lang anhaltendes Unglücklichsein und Wutgefühle. Mit 49 Jahren hatte er eine fünfjährige psychoanalytische Psychotherapie mit seiner ersten Therapeutin abgebrochen, angeblich weil diese ihn angeschrien hatte und ihn beschuldigte, ein „Narzißt“ zu sein. Insbesondere ist zu vermerken, daß er dreißig Jahre lang täglich Marihuana geraucht hat, bis er mit 44 auf Wunsch seiner Therapeutin hin damit aufhörte. Mit 47 konnte er nach einer äußerst erfolgreichen, aber unbefriedigenden Karriere in einem sehr anspruchsvollen und kompetitiven Fachgebiet in die Altersteilzeit eintreten. Seitdem hat er seine Zeit zwischen dem Pferdetraining und der Aufrechterhaltung einer Teilzeiteinzelpraxis in seinem Fachgebiet aufgeteilt. Ich habe ihn über einen Zeitraum von vier Jahren 329 Mal gesehen.
Behandlungsverlauf
Der Patient empfindet nonverbale Arbeit normalerweise als zu furchterregend. Auf der Couch fühlt er sich, als würde er „auseinanderfallen“ und sich nicht „wieder zusammenreißen“ können, und er fühlt sich auch mit anderen nonverbalen Techniken, wie dem Schlagen eines Boxsacks, unwohl. Folglich war und ist die therapeutische Arbeit meistens verbal. Ich gehe manchmal seine Augensegmentpanzerung an, indem ich Klarheit und damit Perspektive vermittle. Zum Beispiel beschrieb er einmal, wie „schöne Dinge, die mir passieren, sich wie ein Angriff anfühlen“. Ich sagte ihm, daß sein Gefühl, angegriffen zu werden, buchstäblich das Ergebnis seiner eigenen expansiven, lustvollen Impulse oder Energie ist, die von seinem Panzer abprallt und zu ihm zurückkommt, wie das „Ping-Signal“ beim Radar.
Trotz meiner Geduld mit ihm fühlt er sich manchmal immer noch „gedrängt“. In diesem Fall verwende ich die „Radar-Ping-Metapher“, um ihm bei dem Bewußtwerden zu helfen, daß er seine eigene Energie falsch wahrnimmt, die gegen seinen Panzer drückt, als ob sie von außerhalb seiner selbst kommt, d.h. in klassischen psychiatrischen Begriffen „projiziert“ er. Selbst wenn er intellektuell oder zerebral ist („in seinem Kopf“), hat er Manifestationen von Strömungen erlebt. Zum Beispiel Empfindungen von Kribbeln in den Füßen. Ihm zu erklären, daß dies seine eigene Energie ist, die sich da bewegt, erlaubt es ihm zu akzeptieren und zu verstehen, was er fühlt. Verbale Interaktionen zwischen uns mögen sich anfangs zerebral anfühlen, führen aber oft zu einem emotionalen Ergebnis.
Obwohl er noch nie offen psychotisch war, spricht er von einer „Stimme“ in seinem Kopf. Er meint dies teils metaphorisch, teils in dem Sinne, daß er seine eigenen Gedanken hört. Es ist keine auditive Halluzination, sondern seine Wahrnehmung der Erregung in seinem gepanzerten Körper und Gehirn. In gewisser Weise spricht tatsächlich sein Panzer mit ihm. Ich habe ihm das gesagt und er versteht es vollkommen.
Er hat einen ausgezeichneten Sinn für Humor und bezeichnet die Stimme als „Al“ nach dem politischen Aktivisten Al Sharpton. Er beschreibt sowohl Sharpton als auch seine Stimme als „Terroristen, die arbeitslos wären, wenn wir aufhören würden, ihnen zuzuhören. Wenn es dir besser geht, haben sie keine Funktion.“ Er bringt dies mit seiner Hemmung in Verbindung, in der Therapie körperliche Aggression auszudrücken: „Wenn ich Al fallenlassen könnte, könnte ich mich schlafen legen.“ Die Stimme „sagt mir, daß ich es einfach vermasseln werde, wenn ich bei mir Gefühle zulassen würde.“ „Al schafft Sicherheit für mich.“ Er sagt, daß es nur drei Situationen gibt, in denen die Stimme aufhört zu sprechen: 1) beim Sex; 2) beim Reiten mit seinen Pferden; und 3) wenn er an Zahlen denkt. In einer späteren Sitzung fügte er eine vierte hinzu: „Wenn ich rede, bringt ihn das zum Schweigen.“ „Vielleicht wären Gedanken und Gefühle ein und dasselbe ohne einen Al.“
Nachdem er etwas weniger paranoid geworden ist, ist er sich seiner Schuldgefühle bewußter geworden, die wie seine paranoiden Ideen eine Qualität des Verfolgtwerdens haben. Er sagt: „Mein Gehirn schmückt die paranoide Erzählung nicht mehr weiter aus, aber ich fühle immer noch die Schuld.“ Manchmal fühlt er die Schuld in seinem Körper, im Gegensatz zu den paranoiden Ideen, die nur in seinem Kopf sind. Zu anderen Zeiten beschreibt er die Schuld als „das Gefühl, beobachtet zu werden“ oder „der Typ auf meiner Schulter“. „Al“ (die Stimme) nimmt normalerweise die Form einer schuldprovozierenden Stimme oder eines Gefühls an, das zu ihm sagt: „Du taugst nichts“ oder „Du hast es nicht verdient, um Hilfe zu bitten.“ Ich habe ihm gesagt, daß „Paranoia etwas ist, was das Gehirn tut “, um ihm dabei zu helfen, zu unterscheiden, was in seinem Kopf vorgeht und was in seinen Gefühlen, seinem Körper, vor sich geht.
Manchmal weise ich darauf hin, daß er redet, weil er ängstlich ist. Er hat jahrelange Therapie gebraucht, um einen solchen Kommentar nicht als Kritik zu empfinden. Während einer Sitzung sagte ich zu ihm: „Sie müssen nicht immer wissen, warum oder sogar was Sie fühlen, sondern können sich einfach den Gefühlen hingeben.(3) Emotionen sind spontan und werden ihre ‚Bedeutung‘ nach dem eigenen Zeitmaß offenbaren, wenn sie soweit sind.“ Er schwieg zwei Minuten und fing dann ungewöhnlich tief zu schluchzen an (tief für ihn – er kann kaum weinen – er nennt es „undicht zu sein“). Diese Intervention war erfolgreich, andere jedoch nicht. Sie prallen von seinem paranoiden Panzer ab. Zum Beispiel als ich ihn einmal ermutigt hatte, „bleiben Sie einfach bei Ihren Gefühlen“, antwortete er, daß die Gefühle verschwunden seien, sobald ich das gesagt hatte. Er wird „beunruhigt“ durch den „Ansturm von Gefühlen“.
Nach vierjähriger Therapie bemerkte er, daß er zum ersten Mal in seinem Leben in der Lage war, Gedanken von Emotionen und eine Emotion von einer anderen zu unterscheiden. Er kam zu der Einsicht: „Vor sechs Monaten hätte ich gesagt, ich sei ‚depressiv‘ oder ‚entmutigt‘ – aber ich denke tatsächlich, daß das, was ich fühle, Ängstlichkeit ist.“ Bei einer anderen Gelegenheit sagte er: „In letzter Zeit merke ich das Dinge, die ich als Emotionen bezeichnet habe, eigentlich Gedanken sind.“ Während einer Sitzung weinte er, hielt dann inne und sah aus, als würde er nachdenken. Dann sagte er: „Sobald ich über eine Emotion nachdenke, hört sie auf.“ Ihm ist auch bewußt geworden, wie seine Gefühle aufhören, wenn er seine Atmung einschränkt. Kürzlich sagte er: „Ich komme dem Gefühl näher, so wie es normale Menschen tun. Ich muß mich immer noch mit ‚Al‘ herumschlagen, aber manchmal ist er überhaupt nicht da – und das ist unglaublich.“ In einer anderen Sitzung beschrieb er kürzlich, wie „Al“ manchmal jetzt unterstützend und beruhigend ist, statt kritisch und abfällig.
Infolge der Therapie wurde ihm klar, wieviel er im Leben verpaßt hatte. Er wurde sich auch bewußt, wie er seinen Zorn dazu benutzt hatte, sich vor Angstzuständen und Gefühlen von Verletzlichkeit zu schützen. Die 30 Jahre, in denen er Marihuana konsumierte, hatten ihn zerebral gehalten, in Abstand von und geschützt vor seinen Gefühlen wie auch vor seinem Elend. Zuletzt wurde er sich seiner Sehnsucht bewußt und seiner Hemmungen, um Hilfe und Liebe zu bitten. Er ist sich auch seiner Gefühle mir gegenüber bewußter geworden, ein Zeichen für verbesserten Kontakt und Verbundenheit in der Therapie.
Schlußfolgerungen
Der Patient ist ein Beispiel für jemanden mit einer starken Motivation zur Therapie, bei der es nicht nur um Symptomlinderung geht. Trotz des Drucks von Freunden und Familie hat er nie um Psychopharmaka gebeten und er erklärt: „Ich bin nicht bereit zu glauben, daß mein Wunsch nach einem besseren Leben eine Störung ist.“ Als Ergebnis seines Mutes und seiner Bereitschaft sich seiner Angst und seinem Elend zu stellen, hat er echte Gewinne in der Therapie erzielt. Obwohl er dankbar ist, ist das Leben für ihn jetzt in gewisser Weise schwieriger, weil er sein Elend und seine Angst mehr spürt. „Früher hatte ich so viel Gewißheit – obwohl ich falsch lag, war es beruhigend.“
Obwohl versucht wurde, nonverbal zu arbeiten, z.B. einen Sack zu boxen oder ihn Augen und Gesicht bewegen zu lassen, während er auf der Couch lag, ist er im Allgemeinen zu ängstlich, sodaß die Therapie weitgehend auf das verbale Arbeiten beschränkt blieb. Die Charakteranalyse hat ihm geholfen, Kontakt mit tieferen Emotionen aufzunehmen: Er sagte, er habe in den ersten zwei Monaten unserer Zusammenarbeit mehr Emotionen verspürt als in den fünf Jahren seiner vorherigen psychoanalytischen Therapie.
Er verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in einem zerebralen, intellektualisierten Modus, ohne mit seinen Emotionen in Berührung zu kommen. Dies begann in früher Kindheit als Zuflucht vor der elenden und bedrohlichen Gefühlsatmosphäre in seiner Familie. Infolge der charakteranalytischen Behandlung hat sich die für Schizophrenie charakteristische Spaltung zwischen Wahrnehmung und Erregung verbessert. Infolgedessen kann er viel klarer sagen, was er empfindet: „Ich kann klarer unterscheiden, was in mir und außerhalb von mir ist.“ Er hat in seiner Ehe Probleme, aber nach und nach hat sich seine Fähigkeit, mit seiner Frau in einer nicht-paranoiden Weise zu kommunizieren, verbessert. Er arbeitet daran, sie zu sehen, anstatt sich auf die Projektionen seines Innenlebens zu beziehen. Wo er sich zuvor mit Paranoia und Wut verteidigt hatte, ist er sich nun seiner Angst und Sehnsucht bewußter und in der Lage, diese besser zu tolerieren und zum Ausdruck zu bringen. Er ist sehr lebhaft und hat eine sehr hohe energetische Ladung, was eine Herausforderung darstellt, da er sich bisher stark auf seine Augenpanzerung und seine Wahrnehmungsverzerrungen verlassen hat, um überwältigende Angst und Verzweiflung zu verhindern. Ohne diesen Panzer würde er höchstwahrscheinlich psychotisch werden. Infolgedessen muß die therapeutische Arbeit mit einer Geschwindigkeit erfolgen, die er tolerieren kann. Die geduldige Klärung und das In-Perspektive-setzen durch die charakteranalytische Behandlung hat es diesem Patienten ermöglicht, wesentliche Fortschritte auf dem Weg zu einem gesünderen und zufriedenstellenderen Leben zu erzielen.
Literatur
- Reich W 1949: Charakteranalyse, Köln: KiWi, 1989
Anmerkungen
(1) Die Beobachtung dieser Reaktionen bei seinen Patienten stellte eine der Quellen für die Belege dar, die zu Reichs Formulierung der „grundlegenden Antithese des vegetativen Lebens“ führten, den biologischen Gegensatz von Sexualität und Angst.
(2) Der unmittelbare Vorläufer der medizinischen Orgontherapie.
(3) Dieses paranoide Mißtrauen führt ihn dazu, daß er wissen will, was er fühlt, bevor er es überhaupt fühlt.
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