W W W . O R G O N O M I E . J I M D O S I T E . C O M

 

Artikel von David Holbrook, M.D.

 

 

 

 

Ein Schizophrener nähert sich der Couch

David Holbrook, M.D.

The Journal of Orgonomy vol. 44/2, 2010/11
The American College of Orgonomy

 

Abstract

Der Kampf eines Patienten mit einer schizophrenen Charakterstruktur wird beschrieben, Vertrauen in den Prozeß der medizinischen Orgontherapie zu setzen. Die verbale charakteranalytische Arbeit befaßte sich mit dem Mißtrauen des Patienten, was ihm schließlich ermöglichte, sich auf den nonverbalen Aspekt der Therapie einzulassen. Letzterer, der normalerweise auf der Couch durchgeführt wurde, hatte zuvor starke Angstzustände bei ihm ausgelöst.

Einige der Unterschiede und Ähnlichkeiten der verbalen und nonverbalen Aspekte der medizinischen Orgontherapie werden beschrieben. Die Art und Weise, wie die Charakteranalyse als eine Form der biophysischen Arbeit betrachtet werden kann, wird ebenfalls berücksichtigt. Der Fall zeigt, wie das Drängen des Therapeuten beim Patient nonverbal vorzugehen kontraproduktiv sein kann, und wie ein charakteranalytischer Ansatz verwendet werden kann, um die Situation zu richten und die Therapie voranzutreiben.

 

Einführung

Es gibt verbale und nonverbale Aspekte der medizinischen Orgontherapie. Obwohl in der Praxis die Trennung eine künstliche Unterscheidung darstellt, ist es hilfreich, dies im Kontext dieses Artikels zu tun. Bei der verbalen Charakteranalyse sitzt der Patient häufig dem Therapeuten gegenüber. Bei der nonverbalen biophysischen Arbeit liegt der Patient normalerweise offen auf der Couch, während der Therapeut auf einem Stuhl neben der Couch sitzt. Bei letzterem geht es oft darum, sich nonverbal auszudrücken und Gefühle spontan zu erleben und sie sich entwickeln zu lassen, erleichtert durch Atmen, Bewegen von Augen und Gesicht, Schlagen, Treten, Geräusche machen oder einfach nur ruhig liegen.

In einem früheren Artikel in diesem Journal (Holbrook 2009) erörterte der Autor die verbalen, charakteranalytischen Aspekte der Therapie eines Patienten, eines paranoid-schizophrenen Charakters mit katatonischen Merkmalen, der gegen die biophysische Arbeit weitgehend Widerstand leistete, weil sie bei ihm viel zu viel Angst provozierte. Der aktuelle Artikel wird die Bemühungen dieses Patienten erörtern, sich der Angst zu stellen, die durch die Arbeit auf der Couch entsteht.

Sowohl orgonomische als auch psychoanalytische Therapeuten haben lange beobachtet, daß Patienten mit sogenannten „fragilen Ich-Strukturen“, wie z.B. solche mit schizophrenem Charakter, häufig besonders Angst haben, die Couch zu benutzen.(1) Eine orgonomische Perspektive, anstatt zu versuchen, diese Angst nur durch psychologische Begriffe zu erklären, hilft uns zu verstehen, daß die Angst des Schizophrenen von der Lockerung seines ohnehin unzureichenden Muskelpanzers herrührt, wenn er oder sie entspannt auf der Couch liegt. Das Ergebnis, eine unerträgliche Zunahme der energetischen (orgonotischen) Empfindungen und Strömungen, kann mit einer kompensatorischen Verstärkung des Augenpanzers (Gehirnpanzers) einhergehen, was zu einem überwältigenden paranoiden Gefühl führt. Elsworth Baker empfahl: „Es ist ziemlich wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu wählen, wenn man den Patienten auffordert, sich auf die Couch zu legen. Den ängstlichen Patienten sollte man zunächst beruhigen (…) Wenn ein Patient mißtrauisch ist, arbeitet man am besten genug von dem Mißtrauen mit ihm durch, so daß er ein gewisses Maß an bewußtem Vertrauen gewinnt (...)“ (Baker 1967, S. 310).

Vor Beginn der Behandlung mit mir hatte dieser Patient eine fünfjährige, zweimal wöchentliche psychoanalytische Psychotherapie auf Drängen seiner Frau wegen seines wütenden Verhaltens ihr gegenüber. Zu Beginn der Therapie bat ihn die Analytikerin, die Couch zu benutzen, doch sie hatten „einen Kampf“ wegen dieses Themas. Der Patient sagte zu mir: „Ich wollte ihr Gesicht sehen – war ich manipulativ? Oder war es, weil ich ihre Gesichtsreaktionen sehen wollte, um zu sehen, ob sie mich verurteilte?“ Die Analytikerin interpretierte den Widerstand des Patienten als eine Form von narzißtischem Wettbewerb, anstatt ihn richtig als Ausdruck seines ängstlichen Mißtrauens zu sehen. Infolgedessen lehnte der Patient die Couch während der fünfjährigen Analyse ab. Die Behandlung endete schlecht, da die Analytikerin ihn angeblich angeschrien habe, woraufhin der Patient die Therapie abbrach. Auf der Schlußrechnung schrieb die Analytikerin: „Sie haben eine Entschuldigung verdient.“ Der Patient bemerkte jedoch bitter, daß aber tatsächlich keine Entschuldigung erfolgte.

Klassische Psychoanalytiker sitzen hinter dem Kopfende der Couch und sind für den Patienten nicht sichtbar. Wilhelm Reich stellte seinen Stuhl an die Seite der Couch, so daß der Patient ihn sehen konnte, etwas was damals als revolutionär galt. Reich berichtet:

Viele analytische Regeln hatten ausgesprochenen Tabucharakter an sich, der die neurotischen Tabus der Kranken im Sexuellen nur verstärkte. So die Regel, daß der Analytiker nicht gesehen werden, sozusagen ein unbeschriebenes Blatt Papier bleiben sollte [„Die Forderung, der Analytiker müsse ein ‚unbeschriebenes Blatt‘ sein, ist (…) nie ganz zu verwirklichen.“ (Reich 1949, S. 61)], auf dem der Kranke seine Übertragungen einzeichnen konnte. Das beseitigte nicht, sondern festigte im Kranken das Empfinden, es mit einem „unsichtbaren“, unnahbaren, übermenschlichen, also – entsprechend dem kindlichem Denken – sexuallosen Wesen zu tun zu haben. Wie sollte der Kranke seine Sexualscheu im Leben, die ihn krank machte, überwinden? (...) Ferenczi (...) [ließ] die Patienten in guter Intuition wie Kinder spielen. Ich versuchte auf jede erdenkliche Art, sie von ihrer charakterlichen Steifheit zu befreien. Sie sollten mich unautoritär, menschlich betrachten. (Reich 1942, S. 132f, kursiv im Original)
Freud „(...) vertrat, daß die Übertragung ermutigt werden sollte, um sich innerhalb der analytischen Situation so weit wie möglich auszubreiten (...)“ (Gill 1979). Anders als der Psychoanalytiker versucht der Orgonom nicht die Übertragung zu fördern, denn sie ist immer da, im Charakter des Patienten und im somatischen Panzer. Der Orgonom verwendet entweder eine charakteranalytische oder eine biophysische Technik, um die Übertragung, insbesondere die negative Übertragung, aufzulösen, wenn sie auftritt.(2)

Personen mit einem schizophrenen Charakter fühlen sich oft wohler, wenn sie dem Therapeuten aufrecht gegenübersitzen. Dies trägt manchmal dazu bei, ihr Mißtrauen zu verringern, weil die Realität geprüft werden kann, was ein Anwachsen des Vertrauens in den Therapeuten ermöglicht und die Symptome ihrer psychotischen Übertragung, beispielsweise ihrer Paranoia, vermindert. Übertragung ist per definitionem eine Wahrnehmungsverzerrung, und Schizophrene sind besonders anfällig für Verzerrungen. Sie sind bereits von Projektionen überwältigt, und so kann Freuds „leeres Blatt Papier auf dem der Kranke seine Übertragungen einzeichnen konnte“ manchmal ihre Symptome verschlimmern.

Eine psychotische Übertragung ist eine schreckliche Erfahrung, die der Schizophrene mit gutem Grund und unter allen Umständen zu vermeiden versucht. Die Wut und der Schrecken, die in dieser Art der Übertragung enthalten sind, sind so bedrohlich, allgegenwärtig und unerträglich, daß der Schizophrene manchmal Menschen gänzlich meidet und ein behütetes und introvertiertes Leben führt. Er arbeitet hart daran, seine Übertragung zu verbergen. Aus diesem Grund wurde gesagt, daß der Therapeut bei der Arbeit mit dem Schizophrenen seine eigene Gegenübertragung als Leitfaden verwenden muß, im Gegensatz zur Arbeit mit anderen Charaktertypen, bei denen die Übertragung des Patienten leichter zugänglich ist (Konia).

Der Kontakt von Angesicht zu Angesicht kann dem Patienten helfen, seine Paranoia zu zerstreuen und Vertrauen in den Therapeuten zu entwickeln, da es die Realitätsprüfung möglich macht, obwohl die psychotische Übertragung und die Paranoia sich bemerkbar machen können. Das verbale Interagieren mit dem Therapeuten kann für den Schizophrenen ebenfalls besonders hilfreich sein. In seiner klassischen Beschreibung seiner Arbeit mit einer schizophrenen Patientin bemerkte Reich: „Ich ließ sie reden, soviel sie wollte“ (Reich 1949, S. 639).

Das Sprechen mit dem Therapeuten kann dem Schizophrenen helfen, einen Überblick darüber zu bekommen, was in und außerhalb von ihm geschieht. Dies muß von einer intellektualisierten, emotional kontaktlosen Sprache unterschieden werden, die eine Abwehrfunktion hat. Schizophrene verspüren einen tiefen Hunger nach emotionalem Kontakt, Verständnis, Aufklärung und Perspektive, dem sie im Umgang mit „homo normalis“ selten begegnen. “(…) Schizophrene [gehen] nicht deshalb zugrunde, weil sie zuwenig, sondern deshalb, weil sie zuviel und zu direkten Kontakt haben mit der Welt des gepanzerten Menschen” (Reich 1949, S. 646). Einige Schizophrene spüren eine Verminderung ihrer assoziativen Lockerung, wenn sie Gelegenheit erhalten, sich auszudrücken und man ihnen kontaktvoll zuhört. Dies hilft, die charakteristische Spaltung zwischen Erregung und Wahrnehmung zu heilen, die bei Schizophrenen zu finden ist. „Die normale Sprache und Verknüpfung von Vorstellungen stellten sich wieder ein, sobald die Spaltung aufhörte und die Patientin ihre Körperströmungen wieder als ihre eigenen empfand” (Reich 1949, S. 574, Übersetzung verbessert).(3)

All das bedeutet nicht, daß sich die Orgontherapie mit Schizophrenen auf die Charakteranalyse beschränkt. Die biophysische Arbeit auf der Couch kann bei vielen Schizophrenen sehr hilfreich sein, wenn sie dazu bereit sind. Biophysische Techniken wie das Rollen der Augen, das Verfolgen einer Taschenlampe sowie andere Techniken, an denen andere Körpersegmente beteiligt sind, können bei Schizophrenen wie bei jedem Charaktertyp sehr hilfreich sein.(4) Es sollte jedoch beachtet werden, daß die Charakteranalyse per definitionem eine Form der biophysischen Arbeit ist:

„(...) einzig mit der charakteranalytischen Technik [im Gegensatz zur klassischen psychoanalytischen Technik] gelingt [es], bis zu den physiologischen Phänomenen der orgastischen Störung (…) vorzudringen (...)“ (Reich 1949, S. 400). Es ist die charakterliche Panzerung, „(...) aus der wir (…) die vegetative [Orgon-] Energie mit der charakterlichen Technik herauslösen“ (Reich 1949, S. 412). „(...) in der Charakteranalyse [weicht] die muskuläre Spannung durch Lösung der charakterlichen Verkrustungen (...)“ (Reich 1949, S. 457).

Die Charakteranalyse kann ein orgonotisches Strömen erzeugen und auch zur Klarheit von deren Wahrnehmung beitragen. Mit anderen Worten verbessert die Charakteranalyse den Kontakt, und Kontakt ist ein biologisches Phänomen.(5)

Die Charakteranalyse mit Schizophrenen kann besonders hilfreich sein, um die Fähigkeit zum Vertrauen aufzubauen, d.h. die Fähigkeit, eine Ladung zu halten, ohne paranoid zu werden. Dies liegt daran, daß die Charakteranalyse dazu beitragen kann, den Panzer im Augensegment und in anderen Segmenten zu lockern, wodurch die Integration von Wahrnehmung und Erregung verbessert wird und die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Phänomenen klarer wird, was ein besonderer Schwachpunkt für den Schizophrenen ist.

 

Patientendaten

Der Patient ist ein fünfundfünfzigjähriger verheirateter Mann ohne Kinder. Ich habe ihn über einen Zeitraum von fast fünf Jahren dreihundertfünfundfünfzig Mal gesehen. Er hat die Couch dreiundsechzig Mal benutzt. Weitere Informationen zum Patienten finden Sie in meinem Artikel von 2009, sie sind aber für den Schwerpunkt dieses Artikels nicht erforderlich.

 

Fallbeispiel: Der Kampf die Couch zu tolerieren

Ich wartete bis zum siebten Behandlungsmonat darauf, dem Patienten die Arbeit auf der Couch vorzuschlagen, weil ich befürchtete, er würde dadurch paranoider. Nach fünf Minuten, in denen er zum ersten Mal ruhig auf der Couch lag, fingen seine Augen an zu tränen und er sagte, er habe Angst. Ich ließ ihn aufstehen, um die Intensität seiner Angst zu lindern und ihm zu helfen, sich besser an seiner Umgebung zu orientieren. Mit großen Augen rief er: „Wow!“ Er konnte nicht glauben, wie stark er davon betroffen war, einfach nur auf der Couch zu liegen. In der nächsten Sitzung versuchte er es erneut auf der Couch. „Ich bin verwirrt. Eine Mauer geht hoch. Eine kleine Stimme sagt: ‚Geh nicht dorthin.‘ Ich habe solche Angst Fehler zu machen.“ Er war den Tränen nahe.

In den folgenden Wochen äußerte er Zweifel an sich selbst und an der Therapie. Während des achten Therapiemonats ließ ich ihn auf dem Rücken auf der Couch die Augen rollen. Im folgenden Monat beklagte er sich darüber, daß er sich auf der Couch „beobachtet“ und „beurteilt“ fühlte und daß „Gefühle aus dem nichts kommen“. Er widersetzte sich dem Treten und Schreien. Er hatte besondere Angst vor Schreien und war nicht in der Lage, auch nur einmal in der Therapie zu schreien. Dies lag an seinem oralen und zervikalen Panzer. In seinen frühen Zwanzigern hatte er eine Schilddrüsenerkrankung entwickelt und war offensichtlich im zervikalen Segment stark gepanzert, wie es für den Schizophrenen charakteristisch ist.

Er beklagte sich über Befürchtungen, daß er „die Kontrolle verlieren und nicht mehr aufhören könne“, wenn er seine Gefühle auf der Couch ausdrückte. Er hatte besondere Angst vor dem Ausdruck von Wut in der Therapie. Er konnte auch kaum weinen. Im elften Therapiemonat berichtete er, es sei leichter, sich im Sitzen emotional „zu öffnen“ als im Liegen. Er hatte das Gefühl, ich würde ihn „herumkommandieren“, indem ich versuchte, ihn dazu zu bringen, Gefühle auf der Couch auszudrücken. Er gab zu, wütend auf mich zu sein, hatte aber zu viel Angst, es auszudrücken, eine Realität, die sich bis heute kaum verändert hat. Nach dieser Sitzung benutzte er die Couch sechs Monate lang nicht. Als nächstes benutzte er die Couch im zweiundzwanzigsten Behandlungsmonat. In den nächsten zwei Monaten benutzte er sie nur ein paarmal und entwickelte dann während des vierundzwanzigsten Behandlungsmonats eine schwere linksseitige Gesichtslähmung (Bellsche Parese), die achtzehn Monate andauerte und immer noch nicht vollständig verschwunden ist.

In den folgenden zwölf Monaten benutzte er die Couch nur ein halbes Dutzend mal. Nach dieser Zeit, im vierunddreißigsten Monat der Behandlung, strampelte er endlich auf der Couch und schlug auf sie ein – ich empfand das als die beste Sitzung, die es bis dahin gegeben hatte. Zwei Wochen willigte er ein, mit Wut auf den Boxsack einzudreschen und sagte anschließend: „Ich fühle mich wirklich gut.“ Ich erlaubte ihm, mit einem Baseballschläger ein altes Bürofaxgerät zu zerstören, das während seiner Sitzungen gelegentlich nervig piepste. Er vollendete die Zerstörung mit großem Vergnügen. In der folgenden Woche schlug er erneut fünf bis zehn Minuten lang auf den Boxsack ein. Zu diesem Zeitpunkt machte ich einen Kommentar zu seiner Körperhaltung, als er auf den Boxsack schlug, und er fühlte sich kritisiert, war aber nicht in der Lage, seine Wut auf mich auszudrücken. Er hat den Boxsack seither nicht mehr geschlagen. Das war vor zwei Jahren. Später beschwerte er sich darüber, daß er Angst hatte, als hätte er etwas falsch gemacht, und daß er „innerlich schreie“. Ich schlug vor, daß er laut schreie, aber er sagte, daß er das nicht könne und befürchte, ich würde ihn kritisieren. Er scherzte: „Ich bin das Gegenteil von Zen: Der Fluß schaut mich an und sagt: ‚Okay, ich werde nicht fließen.‘“

Während der nächsten neun Monate benutzte er die Couch ein paar dutzendmal, aber die Arbeit erreichte nie eine tiefere Ebene. Die charakteranalytische Arbeit schien ihn jedoch ein wenig aufzulockern und Fortschritte zu ermöglichen. Seine Selbstwahrnehmung verbesserte sich und auch in der Beziehung zu seiner Frau kam es zu einer Verbesserung, zum Beispiel empfand er sie als weniger ablehnend. Er begann jedoch Dinge von sich zu geben, die darauf hinwiesen, daß sein Angstniveau zunahm und daß es ratsam war, ihm die Wahl zu lassen, ob er lieber sitzen oder sich hinlegen wolle. Er hatte Kommentare gemacht wie: „Ich fühle mich in letzter Zeit in der Therapie unsicher“, und gab zu, daß er „die Dinge verlangsamen“ müsse, weil er das Gefühl hatte, „sich festklammern zu müssen“. Er glaubte weiterhin, daß ich ihm kritisch gegenüberstünde. Als ich ihm sagte, daß er einen guten Job in der Therapie mache, weinte er und dankte mir, sagte aber: „Sie sollten die Stimme in meinem Kopf hören, die sagt: ‚Vertraue ihm nicht.‘“

Infolge dieser Entwicklungen sah ich ihn in den folgenden zwanzig Monaten nur sechsmal auf der Couch. Während dieser Zeit lehnte er die Couch konsequent ab und ich fand es unklug, ihn zu etwas anderem zu ermutigen. Ich sagte ihm, daß es im Moment genauso produktiv sein könnte, über seine Gefühle bezüglich der Couch zu sprechen, wie sie tatsächlich zu benutzen. Ich sagte, es gehe darum, mit seinen Gefühlen in Kontakt zu treten, auf welche Weise er es auch immer tolerieren könne. Er bedankte sich bei mir auf bewegende Weise, daß ich ihn nicht gedrängt hatte, und sagte mir, daß ihm die Gewißheit geholfen habe, daß ich „wirklich vertrauenswürdig“ und nur an seinem Wohlergehen interessiert sei, anstatt meine eigene Agenda oder Lehre mechanisch zu verfolgen.

Leider wurde er in den letzten sechs Monaten dieses Zeitraums zunehmend unzufriedener und fühlte sich gefühlsmäßig zunehmend festgefahren. Er äußerte mehr Unzufriedenheit mit der Therapie und mit seinem Leben im Allgemeinen. Durch den Börsencrash von 2008 verlor er etwa die Hälfte seines beträchtlichen Vermögens. Dies führte zu einer emotionalen Kontraktion und zwang ihn gleichzeitig, die Häufigkeit seiner Sitzungen von zweimal auf einmal pro Woche zu verringern. In den Sitzungen konzentrierte er sich fast ausschließlich auf seine Unzufriedenheit mit seiner Frau, war und ist jedoch weiterhin hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen der Liebe zu ihr und dem Gefühl, daß ihre Beziehung niemals befriedigend genug sein werde. Er berichtete zum Beispiel, daß sie sich in den letzten acht Jahren geweigert hatte, sexuelle Beziehungen zu ihm aufzunehmen, aber er war trotz meiner Ermutigung sehr zurückhaltend, mit ihr darüber zu sprechen. Obwohl er in den letzten Jahren Wege gefunden hatte, ihr seine Gefühle in Bezug auf andere Angelegenheiten mitzuteilen und sich weniger wütend zu verhalten, war er immer noch wie gelähmt, um mit ihr über ihr gemeinsames Sexualleben zu sprechen. Er sagte, sie hätten in den zweiundzwanzig Jahren in dieser, seiner zweiten Ehe, nur ein einziges Mal über Sex geredet.

Seine erste Ehe war abrupt geendet, als seine Frau ihn wegen eines anderen Mannes verließ. Sie hatte sich beschwert, daß er sexuell unbefriedigend sei. Er hatte eine Affäre während seiner gegenwärtigen Ehe und beschrieb den Sex als fantastisch, aber daß er die Frau nicht liebte, wie er seine Frau liebte. Außerdem fand sie das mit der Affäre heraus. Er hatte Angst, sie zu verlieren, hatte aber in letzter Zeit auch öfter mit ihr gestritten. Er sagte: „Ich weiß nicht, wie ich mit Leuten sprechen soll, auf die ich sauer bin, um mit Konflikten umzugehen. Mein Ansatz ist es, sehr konfrontativ zu sein.“ (Außer auffälligerweise bei mir.) „Ich bin nicht gut darin, Dinge in Ordnung zu bringen, über Dinge hinwegzukommen.“ „Ich denke, es gibt Leute, die sich besser fühlen, nachdem sie sich ausgedrückt haben, aber ich tue es nicht.“ „Ich fühle mich nie wirklich wohl oder entspannt. Ich kann niemals nur atmen.“

Im dreiundsechzigsten Monat der Behandlung erzählte er mir etwas, das er noch nie erwähnt hatte. Er sagte: „Als Kind hatte ich dissoziative Erfahrungen. Während ein Teil von mir mit jemanden sprach, halluzinierte der andere Teil von mir ein riesiges Gesicht, das mich auslachte.“ Es geschah auch in Träumen. Bisher hatte er jegliche Vorgeschichte von psychotischen Symptomen geleugnet. „Es war wie ein körperliches Gefühl: taub, prickelnd, schwindlig.“ Er sagte, daß er es genau jetzt in der Sitzung empfinde, aber er wirkte in keiner Weise außergewöhnlich verstört oder ungewöhnlich. Wenig später sagte er: „Ich bin es so leid, einsam und ängstlich zu sein“, und er weinte.

Um diese Zeit herum entschied ich, daß es für ihn aufgrund seines überwältigenden Gefühls, festgefahren zu bleiben, unabdingbar war, sich wieder biophysisch zu bewegen. Mit großer Zurückhaltung schlug ich ihm vor, auf der Couch zu arbeiten oder auf den Boxsack einzuschlagen, damit er sich besser fühle. Er antwortete: „Dies ist mein ‘auf den Boxsack einzuschlagen’!“ (d.h. sein sich Beschweren). Er beklagte sich darüber, daß die Perspektive, die er durch die Charakteranalyse gewonnen habe, nicht zu einer ausreichenden Erleichterung oder zu einer wesentlich größeren Fähigkeit zum Glücklichsein geführt habe. Ich stimmte zu und schlug vor, daß die biophysische Arbeit dazu beitragen könnte, tiefere Veränderungen herbeizuführen. Trotzdem widersetzte er sich diesen Vorschlägen und sagte: „Manchmal habe ich das Gefühl, daß ich so große Fortschritte gemacht habe, wie ich sie in der Therapie machen kann.“ Im Stillen fragte ich mich auch, auf welche Weise er in der Therapie wirklich Fortschritte machen könne, solange sich nicht die sexuelle Situation mit seiner Frau verbesserte.

Der Patient war vom Autismus fasziniert und identifizierte sich stark mit vielen seiner Merkmale. Er war auch fasziniert von katatonischen Schizophrenen, die für längere Zeit unbeweglich werden und dann plötzlich emotional und körperlich explodieren können. Im vierundsechzigsten Monat der Behandlung sagte er: „Katatoniker schreien in sich hinein, sagen aber: ‚Fick dich, [d.h. sie ziehen sich in die Unbeweglichkeit zurück] es tut einfach alles zu weh.‘ Aber dann kannst du ihnen nicht helfen.“ Er kommentierte: „Ich arbeite die ganze Zeit sehr hart, um nicht in Panik zu geraten.“ Ich sagte ihm erneut, daß er all diese Gefühle in mehr als nur Worten ausdrücken müsse. Ich sagte: „Sie sollten hierher kommen und atmen, treten, schreien, toben und schlagen – wehren Sie sich gegen das lachende Gesicht!"

Er begann die folgende Sitzung in einem verspielten, genervten Ton: „Okay, ich bin hier, um zu atmen.“ Ich sagte mit Humor: „Du mich auch.“ Er antwortete gutmütig: „Sie dürfen sowas nicht sagen.“ Ich entgegnete: „Sie haben eine Entschuldigung verdient.“ Ein spielerisch aggressiver und ironischer Hinweis auf die letzte Bemerkung seiner früheren Therapeutin ihm gegenüber, wie oben beschrieben. Wir kicherten beide. Ich sagte, daß ich spüre, daß es für ihn schwierig sei, die Couch zu benutzen, wobei mir bewußt war, daß es meine Idee war und nicht seine. Er schien mit einer eingefallenen Körperhaltung zu reagieren und beklagte sich über das Gefühl, „derartig besiegt“ zu sein. „Sich zu bewegen, daran ist etwas so Überwältigendes. Manchmal habe ich das Gefühl, auf dem Weg zu sein, einfach ganz aufzugeben.“ Ich antwortete: „Ich kann mir vorstellen, daß ein Katatoniker sich nicht bewegen möchte, weil dies bedeuten würde, den Wünschen eines anderen zu folgen.“ Er stimmte zu und sagte dann: „Ich konnte den Sack nicht so fest schlagen, wie ich muß, ohne mich selbst zu verletzen. Ich habe in Ihrer Gegenwart noch nie die Kontrolle verloren. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in der dann folgenden Woche überhaupt wieder den Raum betreten könnte.“ Er kommentierte, daß seine vorherige Therapeutin ihn angeschrien hatte und daß „ich ihr nie Widerrede gegeben habe. Ich habe alles in mir behalten.“ Ich antwortete: „Wie ein Katatoniker.“ Er stimmte zu und bemerkte dann, daß er zumindest bei seiner Frau nicht mehr so explodiere, wie er es früher getan hatte. Dann wurde er weinerlich. Er sagte: „Es ist nicht sehr angenehm, mit mir zusammen zu sein.“ In diesem Moment stieß er eine Wolke von Mundgeruch aus. (Dies kommt gelegentlich vor und ich nehme es als Zeichen, daß aus einem Teil seines Panzers stagnierende Energie freigesetzt wird, denn normalerweise hat er keinen schlechten Atem.) Erneut schlug ich die Couch vor und er sagte: „Ich kann es mir nicht erlauben, mich auf die Couch zu legen, weil sie ‚unstrukturiert‘ ist. Ich kann keine Dinge tun, die Spaß machen. Ich habe immer das Gefühl, daß ich etwas anderes machen sollte.“ Dann sagte er mit viel Gefühl: „Ich hasse es, ich zu sein.“ Darauf folgte eine weitere Wolke von Mundgeruch.

Er begann die nächste Sitzung, indem er sich ohne meine Aufforderung hinlegte und die Couch zum ersten Mal seit mehr als einem Jahr benutzte. Er erläuterte: „Das erste, was mir auffällt, ist, daß ich mich in der fötalen Position zusammengerollt im Hinterkopf fühle.“(6) „Früher als ich mich auf die Couch legte, habe ich achtzig Prozent meiner Zeit ‚in‘ Ihren Deckenplatten verbracht." (Mit anderen Worten, es war, als hätte er seinen Körper verlassen und die unbelebte „Struktur“ meiner Decke bewohnt.) Er merkte an, daß er sich nicht mehr vor mir fürchte, im Vergleich zu dem, was er in der Vergangenheit auf der Couch gefühlt hatte, als er mich als über sich „dräuend“ wahrgenommen hatte.

Er fuhr fort: „Ich war mir nie sicher, was ‚im Augenbick‘ bedeutet. Es ist wirklich schwierig, einfach hier zu liegen.“ Wieder erfüllte eine Wolke von Mundgeruch den Raum. Er kommentierte: „Ich suche immer nach den Regeln. Vielleicht gibt es keine.“ Er schwieg zehn Minuten und sagte dann: „Ich denke darüber nach, wie ich mich vor Menschen verstecke. Ich fühle mich mit ‚der Muschel‘ [seinem Körper] sehr unverbunden. Ich möchte meine Gefühle nicht körperlich ausdrücken, weil ich nicht glaube, daß mein Körper ich bin. Ich fühle mich wie eine Marionette oder ein Roboter nicht mit meinem Körper verbunden. Und dann geben Sie mir einen Baseballschläger und erwarten, daß ich mich ausdrücke!“ Ich sagte: „Sie sagen sich, daß Ihr Körper nicht Sie seien – Sie sind dissoziiert und je mehr Ihnen jemand sagt, was zu tun ist, desto dissoziierter fühlen Sie sich.“ Er stimmte zu, kommentierte aber: „‘Dissoziiert‘ ist ein negatives Wort – ich denke, es impliziert, daß ‚assoziiert‘ besser ist.“ Später sagte er: „Vielleicht vergessen Katatoniker buchstäblich, wie ihren Körper in Bewegung zu versetzen.“ Er erläuterte, wie er durch die Gesichtslähmung (Bellsche Parese) „die Kontrolle“ über sein Gesicht verloren hatte.

In der nächsten Sitzung fragte er, ob er sich auf die Couch legen solle. Ich sagte zu ihm: „Es hängt davon ab, wie Sie heute fühlen, was Sie brauchen oder wollen.“ Er sah ein wenig enttäuscht aus und sein Körper sackte zusammen. Er saß da und redete eine Weile. Ich hatte den Eindruck, daß das Sprechen ihm geholfen haben könnte, etwas von seinem Kopf her zu entladen. Er legte seine Füße auf die Couch und stützte sich auf seinen Ellbogen. Er nannte dies eine „Zwischenposition“. Er sagte: „Ich muß heute sprechen.“ Später sagte er: „Ich hatte immer das Gefühl, daß mein Körper nicht meiner war.“ Ich sagte: „Sie wünschten, es wäre nicht so, weil Ihr Körper der Ort ist, an dem Ihre Emotionen sind.“ Er stimmte zu und fügte hinzu: „Mein Körper, mein Gesicht, sie scheinen nicht real zu sein. Fühlen Sie sich nicht manchmal so?“ Es war äußerst ungewöhnlich, daß er mich etwas über mich fragte, weil er mich auf Distanz halten mußte. Ich sagte ihm: „Ja, manchmal fühle ich mich so.“

In der nächsten Sitzung legte er sich wieder spontan auf die Couch. Er stellte mir noch einige Fragen zu meiner Person, möglicherweise ein Zeichen für die Linderung seiner Paranoia mit zunehmendem zwischenmenschlichem Engagement. Andererseits könnte sein Wunsch, etwas über mich „herauszufinden“, auch Ausdruck seines Mißtrauens gewesen sein und der Versuch, sein Mißtrauen zu überwinden. Zum Beispiel sagte er später in der Sitzung: „Ich kann nicht glauben, daß die Leute etwas für mich tun wollen, ohne Hintergedanken zu haben.“ Er beklagte sich über fronto-temporale Kopfschmerzen. Ich schlug vor, daß er versuchen sollte, seine Stirnmuskeln zu bewegen, was er einige Minuten lang tat. Nach einer Pause sagte er: „Manchmal möchte ich in Ihrem Büro einfach nur das Gefühl der Sicherheit haben – nicht über Probleme sprechen oder nachdenken. Ich möchte mich nur fühlen.“ Als er dies sagte, fühlte ich das, was man am besten als das ruhige Gefühl beschreiben kann, das ein Elternteil empfindet, wenn es sein Kind in den Armen hält.

Während der nächsten zwei Monate konzentrierte sich der Patient weiterhin auf die unbefriedigenden Aspekte der Beziehung zu seiner Frau, auf seine Unzufriedenheit mit der Therapie und auf seine paranoiden Gefühle. „Jedesmal, wenn ich jemandem vertraut habe, ist es nach hinten losgegangen.“ Er beklagte sich zunehmend über Angst und Wut. Als ich erneut vorschlug, auf den Boxsack zu schlagen, beklagte er sich darüber, „zwischen Angst und Sturheit hin- und hergerissen zu sein“ und daß meine Vorschläge, auf den Boxsack zu schlagen, ihn manchmal dazu veranlaßten, nicht zur Therapie zu erscheinen.

Er konzentrierte sich auch auf seine Kindheit. „Meine Eltern drohten mir, daß die Dinge niemals die gleichen, für immer ruiniert sein werden, wenn ich mich inakzeptabel verhalte. Was ist, wenn ich in den Boxsack schlage und es sich herausstellt, daß ich wirklich ein schlechter Mensch bin?“ Er beklagte sich, daß seine Mutter ihn „gaslighted(7) hatte und ihn dazu brachte, seinen eigenen Gefühlen zu mißtrauen, bis er sich verrückt fühlte. “Ich durfte überhaupt nichts fühlen. Sie hat mir immer wieder erzählt, daß das, was ich fühlte, nicht wahr sei.“ Er sagte, daß seine frühere Therapeutin ihn beschuldigt hatte, „sadistisch, böse und unethisch“ zu sein. Es ist, als hätte sie die Dinge herausgefunden, vor denen ich am meisten Angst habe.“ Als offenbar soziopolitische Liberale hatte sie seinen großen finanziellen Erfolg mißbilligt und Berichten zufolge versucht, ihn zu drängen, sich zurückzuziehen und einen „gehobeneren“ und politisch korrekteren Lebensstil zu verfolgen.

Einen Monat vor dem Schreiben dieses Artikels näherte sich die Frau des Patienten zum ersten Mal seit acht Jahren wieder sexuell an. Sie hatten Sex und danach „die Diskussion“, die sie jahrelang vermieden hatten, über ihren Mangel an einem Sexualleben. Dies eröffnete eine neue Phase im Leben, in der Ehe und in der Therapie des Patienten. Es gibt neue Ängste, aber endlich beginnen er und seine Frau auf eine Weise Kontakt aufzunehmen, wie sie es seit Jahren nicht mehr getan haben oder vielleicht noch nie zuvor getan hatten. Seine Frau findet ihn weniger einschüchternd, weniger überempfindlich. Sich mit seiner Frau über seine Gefühle und Bedürfnisse zu unterhalten, ist für ihn beängstigend. „Das stärkste Gefühl, das ich fühle, ist Angst, und ich fühle es die ganze Zeit. Ich habe Todesangst.“ Er löst sich aus seiner okular-gepanzerten Isolation und betritt die Welt der Beziehungen, was seine Fähigkeit zu einer neurotischen statt einer psychotischen (paranoiden) Übertragung in der Therapie vergrößert. Er nimmt andere Menschen deutlicher wahr. „Ich war vierzig Jahre alt, bevor ich realisierte, und zwar viszeral und nicht nur intellektuell, daß andere Menschen Dinge fühlen.“ Vor Jahren hatte er seiner ehemaligen Therapeutin gesagt: „Eines Tages machte ich eine unglaubliche Erfahrung: ich ‚fühlte‘ eine andere Person.“ Er beklagte sich bei mir, daß die Therapeutin die Bedeutung davon nicht richtig einzuschätzen schien.

 

Zusammenfassung

Die schrittweise, vorsichtige Herangehensweise des Patienten an die Benutzung der Couch spiegelt sowohl metaphorisch als auch wörtlich seine allmählich zunehmende Toleranz für Kontakt mit sich selbst und anderen wider. Obwohl er sich mit der Couch oder anderen Formen emotionaler Ausdrucksarbeit noch nicht angefreundet hat, hat ihm die Charakteranalyse große Fortschritte ermöglicht – sie hat seine Fähigkeit erhöht, seine bioenergetische Ladung, seine Gefühle zu tolerieren. Daran können wir sehen, daß er, auch wenn er nicht auf der Couch ist, trotzdem biophysisch arbeitet. Hingegen ist die Vorstellung, daß biophysische Arbeit nur auf der Couch stattfindet, ein Fehler und ein Beispiel für ein eher mechanistisches denn funktionelles Denken. Der medizinische Orgontherapeut muß flexibel sein und sich zwischen dem psychischen und dem somatischen Bereich hin und her bewegen.

Reagierte eine charakterliche Bremsung auf psychische Beeinflussung nicht, so nahm ich die entsprechende körperliche Haltung zu Hilfe, und umgekehrt. Kam ich an eine störende körperlich-muskuläre Haltung schwer heran, so arbeitete ich an ihrem charakterlichen Ausdruck und konnte sie lockern. (Reich 1942, S. 203)
Beachten Sie, daß Reich beschreibt, wie die Lockerung einer „Muskelhaltung“ erfolgt, indem er an ihrem „charakterologischen Ausdruck“ arbeitet. Dies veranschaulicht die funktionelle Identität von Psyche und Soma. Die heikle Beziehung zwischen Psyche und Soma ist besonders wichtig für die Arbeit mit Schizophrenen, die Hilfe bei der somato-psychischen Integration benötigen. Reich betont dies in seinem Kapitel über Schizophrenie in Charakteranalyse.

Charakterstruktur (...) erscheint (…) als das Integral der Beziehungen zwischen dem orgonotischen Energiesystem und dem senso-motorischen System, das die Aufgabe hat, die plasmatischen Strömungen wahrzunehmen, die Energieentladungen zu veranlassen und alle Energiefunktionen zu einem geordneten, totalen und einheitlichen funktionellen System (…) zu koordinieren. (Reich 1949, S. 593f)
Eine mechanistische Herangehensweise an die biophysische Arbeit wird bei Schizophrenen wie bei allen Charaktertypen scheitern: „Es geht hier nicht um ‚Muskeln‘ oder ‚Atmen‘ oder ‚Verspannungen‘, sondern um (...) die Wechselbeziehungen zwischen den emotionellen Prozessen in lebender Materie und dem Orgon...“ (Reich 1949, S. 582)

Reich sagte, daß „die Organempfindung oder ‚orgonotische Empfindung‘ ein wahrer sechstes Sinn [ist] (...) ein orgonotischer Sinn (...)“ (Reich 1949, S. 591). Er wies darauf hin, daß sich der medizinische Orgonom letztendlich auf seinen eigenen „orgonotischen Sinn“ verlassen muß, um zu wissen, wie man einem Patienten zu einem bestimmten Zeitpunkt helfen kann:

Wir arbeiten mit der Gebärdensprache. Nur dann, wenn wir den Gesichtsausdruck des Kranken empfunden haben, sind wir in der Lage, ihn auch zu begreifen. Und „ihn begreifen“ bedeutet hier ganz streng, zu wissen, welche Emotion sich in ihm „ausdrückt“ (…) Wir operieren mit primären biologischen Funktionen, wenn wir den „Bewegungsausdruck“ eines Kranken „empfinden“. (Reich 1949, S. 478, kursiv im Original.)
Der Schrecken vor Bewegung ist ein zentrales Merkmal des schizophrenen Charakters. Dies liegt zum Teil daran, daß einige von ihnen so leicht „bewegt“ werden, und zum Teil daran, daß sie Bewegungen so wenig ertragen können. Ich habe dem Patienten einmal gesagt: „Sie werden niemals Erleichterung empfinden, bis Sie Ihre Angst vor Bewegung überwunden haben.“ Er antwortete: „Das ist so, als ob Sie mich aufforderten, zu fliegen.“

Reich fährt fort:

Wenn in einer Gruppe von Sperlingen ein einziger Sperling unruhig wird und Gefahr witternd davonfliegt, fliegt die ganze Gruppe, gleichgültig ob alle anderen Sperlinge die Ursache der Unruhe bemerkt haben oder nicht. (...) Der emotionale Ausdruck des Kranken führt in unserem Organismus unwillkürlich eine Imitation herbei. Indem wir imitieren, empfinden und verstehen wir den Ausdruck in uns selbst (...) Mit „Charakterhaltung“ verstehen wir den „Gesamtausdruck“ eines Organismus. Dem entspricht wörtlich der „Gesamteindruck, den ein Organismus auf uns macht“. (Reich 1949, S. 478f, kursiv im Original)
Der orgonotische Kontakt zwischen den einzelnen Vögeln im Schwarm ist derselbe wie der Kontakt, der zwischen dem Therapeuten und dem Patienten auftritt. Es ist auch dasselbe wie der Kontakt, der zwischen der eigenen orgonotischen Erregung des schizophrenen Patienten und seiner Wahrnehmung stattfinden muß. Obwohl die psychisch-somatische Realität des Schizophrenen wie ein unkoordinierter Vogelschwarm ist, sehnt sich der Schizophrene nach der Erfahrung der Integration und Koordination, des Kontakts mit sich selbst und anderen, aber fürchtet sie auch. Der medizinische Orgontherapeut, der die Werkzeuge der medizinischen Orgontherapie kontaktvoll einsetzt, bietet die einzigartige Gelegenheit, dem Schizophrenen zu helfen, die Hindernisse für diesen Kontakt zu beseitigen.

 

Literatur

  • Baker EF 1980: Der Mensch in der Falle, München: Kösel
  • Gill M 1979: The Analysis of the Transference, Journal of the American Psychoanalytic Association 27(suppl.):263-88
  • Holbrook D 2009: Word Language: Character Analysis in the Early Stages of Medical Orgone Therapy, Journal of Orgonomy 43(1):33-38
  • Konia C: American College of Orgonomy Training Program-Seminare
  • Psychoanalytic Inquiry 1995, Vol. 15, No. 3. (Diese Ausgabe ist dem Gebrauch der Couch in der Psychoanalyse gewidmet.)
  • Reich W 1942: Die Funktion des Orgasmus, Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag, 1972
  • Reich W 1949: Charakteranalyse, Köln: KiWi, 1989
  • Schacte J, Kachele H 2010: The Couch in Psychoanalysis, Contemporary Psychoanalysis 20(3):439-459

 


Anmerkungen

(1) Für einen Überblick über psychoanalytische Perspektiven zur Verwendung der Couch siehe Psychoanalytic Inquiry 1995. Siehe auch Schacter und Kachele 2010.

(2) Der medizinische Orgontherapeut „interpretiert“ die Übertragung des Patienten somatisch durch biophysische Arbeit, d.h. er setzt sich mit der Übertragung auf der nonverbalen Ebene auseinander, wo sie sich in der nonverbalen Ausdruckssprache des Patienten und dem Muster des somatischen Panzers manifestiert.

(3) Hier weist Reich auch auf das funktionelle Verhältnis zwischen körperlicher Erfahrung und Sprache hin.

(4) Patienten in medizinischer Orgontherapie entwickeln die Fähigkeit zu einer Art „somatischer freier Assoziation“, bei der sie ihre eigene nonverbale Ausdrucksarbeit auf der Couch verrichten können.

(5) Die Charakteranalyse wirkt sich nicht nur sowohl auf den psychischen (psychologischen) als auch auf den somatischen Bereich aus, sondern auch das Gegenteil ist der Fall. Biophysische Arbeit beim Patienten ruft nicht nur Veränderungen auf somatischer, sondern auch auf psychischer Ebene hervor.

(6) Schizophrene sind im Hinterkopfbereich, an der Verbindungsstelle von Schädelbasis und Hals, stark gepanzert.

(7) Der Begriff „Gaslighting“ bezieht sich auf den Film Gaslight von 1944, in dem eine Figur versucht, eine andere verrückt zu machen

 

 

 

zuletzt geändert
05.10.19

 

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