W W W . O R G O N O M I E . J I M D O S I T E . C O M

 

Artikel von David Holbrook, M.D.

 

 

 

 

Wahrheit und Gegenwahrheit in der klinischen Situation

David Holbrook, M.D.

 

„Wahrheit ist voller, unmittelbarer Kontakt zwischen wahrnehmendem und wahrgenommenem Leben. Je besser der Kontakt ist, desto voller ist das wahrheitsgetreue Erleben. Je besser die Funktionen der lebendigen Wahrnehmung koordiniert sind, desto umfassender ist eine jeweilige Wahrheit. Und die lebendige Wahrnehmung ist genau in dem Grade koordiniert, wie die Bewegung des lebendigen Protoplasmas koordiniert ist. So ist die Wahrheit eine natürliche Funktion...“ (Reich 1953, S. 297) „Wahrheit ist als Manifestation des vollsten Kontakts des Lebens zu sich selbst und seiner Umgebung unauflöslich mit dem Energiehaushalt des Lebendigen verbunden. Daher wühlt Wahrheit, wenn sie voll gelebt wird, die tiefsten Emotionen auf und steigert damit den Drang zur genitalen Umarmung. Da nun aber der Kern der Energieentladung des Lebendigen von den Menschen jahrtausendelang ausgeschlossen und geächtet war, mußte man auch der Wahrheit ausweichen.“ (Reich 1953, S. 300f, kursiv im Original)

„Es muß eine entscheidende Wahrheit unterschiedlicher Art geben, die die Durchsetzung der eigentlichen Wahrheit verhindert. Wir nennen sie die Gegenwahrheit.“ (Reich 1953, S. 354, kursiv im Original) „…die volle Wahrheit [schließt] immer die Gegenwahrheit mit ein…“ (Reich 1953, S. 258, kursiv im Original) „…die Gegenwahrheit ... besagt, daß in einer bestimmten Gruppe oder in einer bestimmten Situation die Anwendung [der] Grundwahrheit verhängnisvoll wäre.“ (Reich 1953, S. 315, kursiv im Original) „…bevor man eine Wahrheit verkündet, [sollte man] die Hindernisse kennen, die ihr entgegenstehen.“ (Reich 1953, S. 313f, kursiv im Original). „Der Wahrheit wird deshalb ausgewichen, weil sie für den Organismus, der sich ihrer nicht bedienen kann, unerträglich und gefährlich ist. … Wenn man versucht, einem Mitmenschen eine Wahrheit aufzuzwingen, die er nicht leben kann, so bedeutet dies, daß man in ihm Emotionen weckt, die er nicht ertragen kann; es bedeutet, daß man seine Existenz gefährdet und sein geordnetes – wenn auch unglückliches – Leben aus dem Gleichgewicht bringt.“ (Reich 1953, S. 302f, kursiv im Original.) „... [der Wahrheitskrämer] ... wird mehr Schaden anrichten, als irgendeine Lüge es je getan hat.“ (Reich 1953, S. 305, kursiv im Original.)

 

In „Die Waffe der Wahrheit“, dem Anhang zu Christusmord, führte Reich sein Konzept der „Gegenwahrheit“ wie oben dargestellt ein. Er beschrieb dieses Phänomen in einem soziologischen Kontext. Vor kurzem hat Dr. Peter Crist den Begriff jedoch im klinischen Kontext verwendet (Crist 2013-2014), was mich dazu inspirierte „Die Waffe der Wahrheit“ erneut zu lesen, um ein besseres Gefühl für die volle Bedeutung dieses Begriffs zu bekommen.

Eines der ersten Dinge, die einem in den Sinn kommen, wenn man das Konzept der Gegenwahrheit studiert, sind einige Ähnlichkeiten mit dem Konzept der psychologischen „Abwehr“. In Charakteranalyse (Reich 1949) skizzierte Reich eine therapeutische Technik, die darauf abzielte, den Patienten mit bestimmten charakterologischen Einstellungen in Kontakt zu bringen, mit denen der Patient sich psychologisch und emotional gegen tiefere, authentischere („wahrere“) Impulse verteidigt.

Reich führt aus, daß diese Arbeit mit dem Patienten von der Oberfläche in die Tiefe erfolgen sollte, wobei der Patient zuerst mit der Tatsache in Kontakt gebracht werden muß, daß er abwehrt, was dann spontan zu einem zunehmenden Kontakt mit dem Wie der Abwehr führt, was ihn schließlich dazu bringt, damit in Kontakt zu kommen, gegen welchen Impuls die Abwehr gerichtet ist (Reich 1949, S. 104). Durch die Fokussierung auf die Abwehr („Widerstandsanalyse“) und nicht auf die Analyse des zugrundeliegenden Impulses, wie dies in der klassischen psychoanalytischen Behandlung häufig der Fall ist, paßt die charakteranalytische Technik zu Reichs Aussagen über die primäre Bedeutung zunächst die Gegenwahrheit zu verstehen: „Am Anfang einer neuen Entwicklung ist die Gegenwahrheit oft bedeutender als die Wahrheit. Je besser die Gegenwahrheit erfaßt worden ist, desto fester und solider wird die Wahrheit selbst sein“ (Reich 1953, S. 358). Diese Aussage von Reich ähnelt bemerkenswert dem, was er darüber sagt, wie wichtig es ist, sich dem Charakterwiderstand zu widmen, bevor man sich mit dem Inhalt der verbalen Ausführungen des Patienten befaßt.

Reich entdeckte schließlich, daß der charakteranalytische Ansatz, bei dem sich der Therapeut auf die Charakterabwehr konzentriert, bevor er versucht, den zugrundeliegenden Impuls aufzudecken und zu analysieren, einen spontanen psycho-bio-energetischen und emotionalen Prozeß in dem Patienten auslöst, der eine ganzkörperlich Reaktion auf die therapeutische Arbeit ermöglicht, einschließlich in einigen Fällen spürbare Aktivierung und Beteiligung des autonomen Nervensystems, im Gegensatz zur klassischen psychoanalytischen Methode, die tendenziell eine flachere, ausschließlich intellektuelle (das zentrale Nervensystem betreffende, gehirnzentrierte) Erfahrung in der Therapie hervorbrachte. Man kann sagen, daß diese Ganzkörperreaktion auf die charakteranalytische Aufklärung des Patienten über seine Abwehr beweist, daß die Charakteranalyse in gewissem Sinne eine biologische Intervention ist, die sowohl die Psyche als auch das Soma anspricht.

Wie Theodore Wolfe im Vorwort des Übersetzers zur Charakteranalyse hervorhob, führte die charakteranalytische Methode zu einer schnelleren und tiefgreifenderen psychologischen Veränderung als die traditionelle psychoanalytische Methode, bei der „ein Übermaß unbewußten Materials ohne irgendeinen therapeutischen Nutzen erschlossen wurde, weil es der Analyse nicht gelang, die Affekte des Patienten zu mobilisieren. Dies lag wiederum in der Tatsache begründet, daß die Affekte größtenteils im Charakterpanzer gebunden waren“ (Wolfe 1949, S. xiiif).

Die charakteranalytische Technik löst im Patienten eine emotionale Reaktion aus, die nicht vom intellektuellen Verständnis abhängt („Einsicht“). In der Tat scheint das intellektuelle Verständnis fast als Nebenprodukt der Arbeit aufzutreten, gewissermaßen nachdem die durch die Charakteranalyse hervorgerufenen charakterologischen, psychologischen, emotionalen und sogar biophysikalischen Veränderungen eingetreten sind. Wie Konia ausführt: „... das Ausdrücken von Ideen, bevor es zum emotionalen Ausdruck gekommen ist, wirkt als Widerstand und führt in eine therapeutische Sackgasse. Sobald die in der gepanzerten Muskulatur enthaltene Energie emotional ausgedrückt wird, tauchen Ideen auf, die sich spezifisch auf den emotionalen Ausdruck beziehen“ (Konia 2004, S. 93).

Vielleicht könnte man sagen, daß das Geniale der charakteranalytischen Technik in ihrer intuitiven Wahrnehmung der Gegenwahrheit liegt, wie sie durch die charakterliche Abwehr des Patienten ausgedrückt wird. In einem gewissen Sinne ist der Charakter eine „Lüge“ oder eine Art Gegenwahrheit. Durch das In-Kontakt-Bringen des Patienten mit seiner Gegenwahrheit (die eine Abwehr der Wahrheit ist und durch Kontaktlosigkeit aufrechterhalten wird) wird das Hindernis für einen gesunden, wahrheitsgemäßen Ausdruck (mit anderen Worten: der Panzer, der ebenfalls durch eine Art von Kontaktlosigkeit aufrechterhalten wird und eine solche erzeugt) geschwächt.

Es gibt einen Grund für das Vorhandensein der Abwehr, eine „Gegenwahrheit“, die vom Therapeuten zumindest intuitiv wahrgenommen werden muß, um Fehler in der Behandlung zu vermeiden, die dem klinischen Äquivalent dessen entsprechen, was Reich in einem soziologischen Kontext als „Freiheitskrämerei“ bezeichnet hat. Mit anderen Worten, wenn der Therapeut aufgrund seines kontaktlosen therapeutischen Über-Ehrgeizes die Art der Abwehr des Patienten und die Gründe, warum diese vorhanden ist, nicht wahrnimmt und nicht mit ihr in Kontakt kommt; wenn der Therapeut die Gegenwahrheit der Abwehr des Patienten nicht wahrnimmt, dann besteht die Gefahr, den Patienten zu schädigen und die Therapie zu sabotieren, und zwar durch eine Art „Therapiekrämerei“ oder „Kernkrämerei“ bzw. „Gesundheitskrämerei“. Um zu verstehen, warum ein Organismus nicht freiheitsfähig ist, also um kein Freiheitskrämer zu sein, muß man verstehen, warum ein Organismus es vorzieht, ohne Freiheit und Kontakt zu leben. Von daher kann die Wahrnehmung der Gegenwahrheit in manchen Zusammenhängen die Essenz von Kontakt sein und verhindern, daß der Therapeut ein „Kontaktkrämer“ wird.

Genauso wie Reich empfahl, daß das Angehen der Abwehrstruktur des Patienten dessen zugrundeliegende gesündere Kernimpulse spontan befreien würden, indem die Hindernisse für ihren Ausdruck beseitigt werden, und genauso wie er empfahl, daß das Verständnis der Gegenwahrheit ein wesentlicher erster Schritt auf der Suche ist, der Wahrheit zu erlauben, das menschliche Leben spontan zu regieren, empfahl er auch, daß, damit sich die gesunden Kernimpulse auf der soziologischen Ebene ausdrücken können, zunächst die Hindernisse angegangen werden müssen, die die Emotionelle Pest einem gesunden natürlichen Ausdruck in den Weg stellt. Die gesunden Kernimpulse, sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene, werden sich selbst regieren und in einer spontanen Weise entwickeln, wenn die Hindernisse entfernt werden:

„Wir sollten uns … vor allem auf die Pest und nicht auf die Wahrheit konzentrieren und in erster Linie der Dürre und dem Frost vorbeugen, anstatt darauf zu achten, was der Sämling macht oder machen könnte. Der Sämling wird seinen Weg zur lebensspendenden Sonne finden. ... Man braucht nicht auf die ersten Gehversuche eines Kindes achtzugeben, sondern auf den Stein oder den Abgrund auf seinem Wege.“ (Reich 1953, S. 313)

Diese Aussagen zur Gegenwahrheit und zur Pest haben direkte klinische Relevanz. Wie Konia und Harman gesagt haben: „Die Emotionelle Pest ist unser Patient“ (Konia 2014). „Sequestration und Beseitigung der Pest durch die Lebensfunktionen ... ist letztlich die beste Beschreibung der Aufgabe des Therapeuten“ (Harman 2012). Reich erklärte: „Die Technik der Charakteranalyse zielte grundsätzlich darauf ab, die stagnierende, in der Panzerung, in der ‘mittleren Schicht’ der Charakterstruktur enthaltende Energie zu mobilisieren“ (Reich 1955, S. 464) und wie Dr. Harman ausführt: „Aus Reichs Beschreibungen (1949, 1953) ... wird deutlich, daß die sekundäre Schicht ... als strukturierte Form der Emotionellen Pest innerhalb des gepanzerter Organismus verstanden werden kann“ (2012, S. 37).

Zusammenfassend bedeutet die erfolgreiche Bekämpfung der Abwehr des Patienten ein Verständnis der Gegenwahrheit innerhalb des Patienten, und die Gegenwahrheit und die von ihm aufgewandte Abwehr sind letztlich eine Funktion der Emotionellen Pest. In diesem Sinne sind charakteranalytische und orgon-biophysikalische Techniken Methoden, um die Gegenwahrheit und deren ultimative Ursache, die Pest, bei individuellen Patienten auszumachen und zu eliminieren.

Während unseres ganzen Lebens führen wir alle einen Kampf auf Leben und Tod. Um uns sicher zu fühlen oder unerträglichen Ängsten oder Gefahren zu entgehen, opfern wir oft die ganze Palette unserer Lebendigkeit und unserer emotionalen Freiheit, sogar unserer körperlichen Gesundheit.

Der Panzer beengt und bewahrt das Leben. Er ist Teil der Natur und es gibt ihn aus einem Grund. Wenn wir als medizinische Orgontherapeuten den Panzer stören, sollten wir alle Anstrengungen unternehmen um sicherzustellen, daß wir verstehen, was wir da tun: wir beeinflussen die Natur tatsächlich und unsere Interventionen haben Konsequenzen.

Wieviel Lebendigkeit verträgt ein Patient? Wird das Ergebnis der Störung des Panzers durch den Therapeuten immer für den Patienten von Nutzen sein?

Ich denke, es ist schwer zu sagen, wieviel Lebendigkeit ein bestimmtes Individuum erfahren „sollte“. Der medizinische Orgontherapeut muß das Gleichgewicht zwischen Lebendigkeit und Sicherheit sorgfältig abschätzen, er muß die Funktion des Panzers verstehen, seine Gegenwahrheit. Das ist die Essenz des Kontakts zwischen Therapeut und Patient.

 

Literatur

  • Crist P 2013-2014: klinische Seminare des ACO und private Supervision
  • Harman R 2012: Clinical Applications of Reich's Work with Impulsive Characters: The Ego, Ego-Ideal, Superego and the Id. The Journal of Orgonomy 46(1):20-47
  • Holbrook D 2009: “Word Language”: Character Analysis in the Early Stages of Medical Orgone Therapy. The Journal of Orgonomy 43(1):33-38
  • Holbrook D 2011: A Schizophrenic Approaches the Couch. The Journal of Orgonomy 44(2):7-21
  • Holbrook D 2012: “Not So Fast”: The Treatment of a Paranoid Schizophrenic Character. The Journal of Orgonomy 46(1):53-62
  • Holbrook D 2013: Sex and Love in a Case of Paranoid Schizophrenic Character. unveröffentlichtes Manuskript
  • Konia C 1981: Hazards of Body Therapies: Three Case Studies. The Journal of Orgonomy 15(1):64-73
  • Konia C 2004: Applied Orgonometry Part III: Armored Thought. The Journal of Orgonomy 38(2): 93-100
  • Konia C 2014: 2. März 2014, klinisches Seminar, Amercian College of Orgonomy Training Program
  • Reich W 1949: Charakteranalyse, Köln: KiWi, 1989
  • Reich W 1953: Christusmord, Freiburg: Walter-Verlag, 1978
  • Reich W 1955: Die emotionale Wüste. In: Ausgewählte Schriften, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1976
  • Wolfe TP 1949. In: Reich W 1949

 

 

zuletzt geändert
23.11.20

 

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