SOZIALE ORGONOMIE
Paul Mathews (1924-1986):
ERFAHRUNGSBERICHTE UND KRITIKEN

Über Jugendliche an öffentlichen weiterführenden Schulen

Leserbrief an Paul Ritters Zeitschrift ORGONOMIC FUNCTIONALISM

Antwort auf David Boadellas „The Breakthrough into the Vegetative Realm“

Antwort auf David Boadellas „Occupational Hazards in Orgonomy“

Reich und die Politradikalen

Symposium des Esalen-Instituts über Wilhelm Reich: Oder was Orgonomie nicht ist

 

Über Jugendliche an öffentlichen weiterführenden Schulen

Paul Mathews, M.A.

Orgonomic Medicine vol. 1/2, 1955
The American College of Orgonomy

 

Als orgonomisch orientierter Lehrer an einer großen öffentlichen Highschool hatte ich Gelegenheit, etwas über die Art der Probleme zu lernen, mit denen es Jugendliche in einer sexualablehnenden, lebensnegativen Gesellschaft zu tun haben.

Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der allesdurchdringende Zweck des öffentlichen Schulsystems darin besteht, als eine Art Transmissionsriemen und durch die neurotischen Charakterstrukturen seiner Lehrer zur Reproduktion einer autoritären, mechanistischen Gesellschaft beizutragen – einer Gesellschaft, die auf eine Katastrophe zuzusteuern scheint. Ich bin mir der Fortschritte bewußt, die derzeit im Bereich der Bildung in Form von besseren Einrichtungen, einer angenehmeren Umgebung, einer größeren Freizügigkeit im Umgang mit den Schülern, einer größeren Freiheit bei der Fächerwahl usw. erzielt wurden. Diese Fortschritte sind jedoch nur geringfügige Änderungen innerhalb des bestehenden, lebensverneinenden Rahmens. Sie berühren nicht die tiefen Bedürfnisse des wachsenden Organismus.

Das Kernproblem der sexuellen Bedürfnisse der Jugendlichen wird entweder umgangen oder auf eine negative Weise behandelt. Wo sexuelle Bedürfnisse überhaupt angesprochen werden, geht es darum, wie man sie „kanalisiert“, „umleitet“ oder „anpaßt“ – niemals darum, wie man sie befriedigt. Der gestörte Jugendliche wird von Lehrern und Schulpsychologen als mit einem Minderwertigkeitskomplex behaftet, als zu ernst, als zu wenig zum Spielen kommend, als unangepaßt charakterisiert. Sie sprechen davon, daß er gezwungen wurde, seine rechte Hand statt seiner linken zu benutzen, er aus einem zerrütteten Elternhaus stammt usw. Die grundlegenden Fragen seiner gegenwärtigen Bedürfnisse und Sehnsüchte werden vermieden. Charakteristisch ist die völlige Mißachtung der dem Kind innewohnenden Natur.

Viele der Lehrer sind rigide und zwanghaft. Fast alle haben neurotische Angst vor dem wirklichen Angehen der zentralen Lebensprobleme der Schüler. Ein Lehrer, der den Mut hat, für die Rechte der Schülerinnen und Schüler im Bereich ihrer grundlegenden biologischen Funktionen einzutreten, wird isoliert oder als „sexbesessen“, „zu psychologisch“ oder sogar gefährlich stigmatisiert.

Eine ausgeprägte destruktive Aggression der Schüler gegenüber einem nicht-autoritären Lehrer ist ein häufiges Phänomen. Er ist ein relativ sicheres Ziel für eine tiefe Schicht von Feindseligkeit, die durch eine ruhigstellende, mechanistische, autoritäre Atmosphäre erzeugt wird. Sogar der „gute“ Lehrer, der beliebte Nicht-Disziplinär, der die Individualität seiner Schüler respektiert, wird von ihnen als ein Symbol verhaßter Autorität angesehen, und es ist für sie schwierig, zwischen der Person und dem Symbol zu unterscheiden. (In der Schule gibt es einen klassischen Witz, bei dem die Schüler an der Kantine des Lehrers vorbeilaufen und mit weit aufgerissenen Augen rufen: „Seht mal! Sie essen!“ – ein Spiegelbild des traurigen Bildes „des Lehrers“ im Kopf des durchschnittlichen Schülers). Der einzelne Lehrer, der versucht, seine Klasse auf einer selbstregulatorischen Grundlage zu leiten, wird mit enormen Hindernissen in der Schule und im allgemeinen sozialen Umfeld konfrontiert, was sich in der Schulsituation widerspiegelt. Es dauert oft den größten Teil des Semesters, bis die Schüler anfangen die neue Behandlung zu realisieren. Der Lehrer hofft dann, daß zumindest ein Teil dieses neuen Verständnisses integriert und beibehalten wird, aber die Chancen im Hinblick auf die nachfolgenden Lehrer, das häusliche Umfeld und die Welt insgesamt sind gering.

Meine Erfahrung mit Jugendlichen aus „guten“ Familien hat gezeigt, daß selbst in relativ komfortablen Familien der Mittelschicht die Kräfte der repressiven Autorität, der sexuellen Unterdrückung, des kompensatorischen Strebens nach leeren wirtschaftlichen Zielen und der kleinlichen Quellen der Eitelkeit auf Kosten eines gesunden jungen Lebens wirken. Obwohl die Eltern psychologisch besser über ihre Kinder informiert sind als in früheren Generationen, ist es immer noch die durchdringende Kraft ihrer realen Struktur, die auf die jungen Menschen einwirkt. Das psychologische Bewußtsein treibt diese Kraft lediglich in den Untergrund. Viele der Jungen und Mädchen identifizieren sich vollständig mit den Eltern und ihrer Welt. Andere sind verwirrt und zynisch. Einerseits werden ihnen die Werte einer Welt der Liebe und des Guten vermittelt, die sie weder zu Hause noch in der Schule wahrnehmen, und andererseits werden sie ständig mit wettbewerbsorientierten sozialen Werten indoktriniert und ihnen praktisch gesagt, daß man mit Geld alles kaufen kann.

Viele der Jugendlichen, die ich beobachtet habe, sind bereits ernsthaft gepanzert, obwohl bioenergetischer Überschwang in den Mechanismen des Kicherns, des Hohngelächters, der Verlegenheit und des zwanghaften Redens durchbricht. Ihre sexuellen Bedürfnisse werden auf jede erdenkliche Weise negiert. Da sexuelle Erfüllung verboten ist, treten „Pettingpartys“, bei denen das Streicheln bis zum Höhepunkt das Maximum des Erreichbaren ist, an ihre Stelle. Diese schuldbeladenen Praktiken variieren durch alle Aspekte des prägenitalen Spiels hindurch. Obwohl dies ein gewisses Maß an Befreiung ermöglicht (insbesondere wenn der Höhepunkt erreicht wird), kann es zu einem enormen Maß an Frustration durch kontinuierliche Erregung ohne Entladung in der genitalen Umarmung führen. Die Folgen von sexueller Frustration und Verdrängung sind bereits im beeinträchtigten Erscheinungsbild und in der Struktur vieler Jugendlicher sichtbar, und ihre „Veranlagung“ für Erkältungen, Asthma, „Viren“, verschiedene unerklärliche „Arten von Fettleibigkeit“, Untergewicht, Hautkrankheiten usw. kann auf gestörte Energiefunktionen zurückgeführt werden.

Meine Erfahrung mit so genannten „schlechten“ Jungen bzw. „jugendlichen Delinquenten“ unter meinen Schülern hat gezeigt, daß diese in den meisten Fällen gesünder sind als die „guten“. Sie wehren sich, wenn auch auf irrationale Weise, gegen die lebensunterdrückenden Faktoren der Schule und der generellen Umwelt. Die Tatsache läßt sich nicht umgehen, daß diese Jugendlichen wirklich lebendig und attraktiv sind, obwohl ihr Auftreten und ihre Gesichter einerseits ihren Haß auf die Autorität und andererseits ihre schreckliche Unterwürfigkeit widerspiegeln. Es ist gerade ihre Lebendigkeit und ihre Attraktivität, die für den gepanzerten Erzieher so unerträglich sind. Er fürchtet auch ihre Reaktion auf seine Tyrannei oder seine Unterwürfigkeit und fühlt sich entblößt und bedroht. Die wenigen Erfahrungen, die ich mit diesen „schlechten“ Jungen gemacht habe, haben mir das Gefühl gegeben, daß sie ein großes Potential für produktive Leistungen haben. In der Regel scheinen sie den intensiven Kontakt mit der Natur um sie herum zu genießen. Sie lieben Tiere. Sie ziehen sich Latzhosen an, teils aus Bequemlichkeit, teils um ihre Sexualität zu fördern und die verhaßten Autoritäten zu provozieren. Sie haben im allgemeinen eine gute Farbe und einen flexiblen Körper. Wo ich guten Kontakt herstellen konnte, entstanden loyale und aufrichtige Freundschaften, und sie würden mir buchstäblich das letzte Hemd geben. Die Mädchen fühlen sich sichtlich zu ihnen hingezogen, obwohl die „guten“ Mädchen so tun, als wären sie es nicht. Die „guten“ Jungen fühlen sich in ähnlicher Weise zu den „schlechten“ Mädchen hingezogen, oft mit einer lüsternen, pornographischen Haltung, wo man sich frägt, welche eigentlich die „schlechte“ Gruppe ist. Sie mögen Fächer, die die Bewegungs- und Ausdrucksfreiheit fördern, wie z.B. Leichtathletik, bildende Kunst und Theater (insbesondere seit Marlon Brando in Hollywood aufgetaucht ist). Sie neigen auch zu berufsausbildenden Studiengängen, wie z.B. Tischlerei, Elektrotechnik, Radio- und Fernseharbeit. Zweifellos gibt es in dieser Gruppe eine Reihe von kriminellen Typen, die durch eine mörderische Erziehung, die sich gegen ihre hochgeladenen Organismen stellte, vielleicht unverbesserlich grausam gemacht wurden. Wenn das Problem, für das sie stehen, jemals gelöst werden soll, muß dies von der breiten Perspektive der bioenergetischen Sichtweise her geschehen: als eine weitere biopathische Manifestation der Sozialpathologie im Bereich der Sexual- und Lebensverneinung.

Die mechanistische Natur des Schulsystems ist so beschaffen, daß ein Lehrer, wenn er nicht ziemlich gesund ist und ständig wachsam bleibt, beginnt, in etablierte Muster zu verfallen, selbst wenn er mit den besten Absichten in das Schulsystem eintritt. Solche Lehrer werden im allgemeinen bald entmutigt und übernehmen allmählich die Taktik ihrer Vorgänger, wodurch das bestehende System reproduziert und aufrechterhalten wird. Viele der Lehrer fallen in vorhersehbare Muster stereotypen Verhaltens. Ein solcher Typ ist der autoritäre Lehrer, der in Aussehen und Denken starr, militaristisch aufrecht, in seiner ganzen Art übertrieben, unaufrichtig und im allgemeinen streng ist, der ständig über Respekt und Pflicht predigt. Er hält die Eltern für unfehlbar, glaubt, daß Lernen nur durch erzwungene Disziplin erreicht werden kann, und gibt unbewußt in Blicken und seinem Ausdruck zu verstehen, daß er gesunde Bewegung und Sexualität zutiefst mißbilligt. Mir gegenüber legte einmal ein solcher Lehrer-Zuchtmeister seinen Daumen auf den Tisch, drückte ihn stark nach unten und sagte mir, daß man SO mit Kindern verfahren sollte.

Ein weiterer häufiger Lehrertyp ist der Proselytenmacher in Sachen Kultur, für den Literatur, Musik und die anderen Künste Errungenschaften sind, die aus der Fähigkeit des Menschen hervorgehen, seine tierische (d.h. sexuelle) Natur zu transzendieren, und die diese Fähigkeit unter Beweis stellen. Die Schülerinnen und Schüler werden ständig dazu ermahnt, ihrem gehobenen Status gerecht zu werden (mit anderen Worten: sexuell abstinent zu sein, Bilder zu malen, Konzerte zu besuchen und durch Sublimierung ihr „höheres“ Selbst zu erreichen).

Ein dritter Typ, der vorherrscht, ist der Liberale bzw. Progressive, der sich so sehr mit Politik beschäftigt, daß er nichts von dem sozialen und sexuellen Elend vor seiner Nase, in der Schule selbst, sieht. Alle Übel, so meint er, stammen aus der ökonomischen Situation. Der Verweis auf eine biologische Grundlage für diese wirtschaftlichen Übel wird mit einer zynischen Grimasse abgewehrt. Ich erinnere mich an einen typischen Vorfall, als ich mit einem solchen Lehrer im Dienst war. Die Schüler waren von einer neuen Regelung begeistert, die es Jungen und Mädchen erlaubt, in der Kantine gemeinsam an einem Tisch zu sitzen. Er lächelte mich an und sagte mit offensichtlicher Genugtuung, daß die Regel nicht lange vorhalten würde – es wäre immer so, daß sie sich schon bald zu nahe kämen und anfingen, sich sogar gegenseitig auf den Schoß zu setzen, und die Regel würde aufgehoben werden. Er räumte ein, daß sich die meisten nicht auf diese Weise verhielten, aber er sagte, daß auch nur wenige Fälle ausreichten, um eine „Störung“ zu verursachen. Mit „Störung“ meinte er in Wirklichkeit die Angst und den Haß, die Liebe und Sexualität in einem gepanzerten Individuum hervorrufen.

Natürlich gibt es immer einen kleinen Kern von Lehrern, die wirklich auf der Seite des Schülers stehen, aber wie ich bereits sagte, sind sie immer wieder der Raserei eines hochgeladenen menschlichen Pulverfasses ausgesetzt. Sehr oft trifft ein Lehrer, der guten Kontakt zu den Kindern einer Schule hat, auf die Feindseligkeit der anderen Lehrer und der Schulleitung, die eine Schwächung des Disziplinierungssystems befürchten. Im Grunde genommen haben sie Angst vor dem überschwenglichen Leben, das sich spontan aus dem ungebundenen Organismus entfaltet. Ich bin von verschiedenen Verantwortlichen immer wieder ermahnt worden, mich nicht zu sehr mit den Studenten anzufreunden. Wie ein Schulleiter es ausdrückte – es mache ihm nichts aus, wenn es in meiner Klasse etwas mehr Lärm gäbe, aber andere Lehrer könnten Einwände haben, vor allem diejenigen, die mit den Schülern umgehen müßten, die nun der Autorität des Lehrers weniger „respektvoll“ gegenüberstünden. Ich fürchte, ich habe ihn nicht gerade glücklich gemacht, als ich ihn fragte, ob die Schule für die Schüler oder für die Lehrer da sei.

Im Klassenzimmer hat eine Diskussion, die die grundlegenden Lebensprobleme von Jugendlichen berührt, stets eine signifikante Änderung der Einstellung der Klasse bewirkt und ernsthafte Überlegungen und Fragen hervorgebracht. (Es ist ein Vergnügen, die Schönheit Heranwachsender, die einen ernsthaften Gesichtsausdruck haben, zu beobachten, besonders wenn ihr Gesichtsausdruck zuvor unangenehm leer war.) Als ich zum Beispiel in einer meiner Klassen die Aufgabe gab Sachbücher zu rezensieren, wählte ein Schüler, der sich daran erinnerte, daß ich Wilhelm Reich einmal erwähnt hatte, REDE AN DEN KLEINEN MANN für seinen Bericht. Er trug einiges zum Inhalt vor der Klasse vor, offensichtlich tiefbewegt und beeindruckt von dem, was er gelesen hatte. Er sprach in einer ernsten und innerlich bewegten Weise und mit einer gewissen Wut, als er bestimmte Aspekte der im Buch erwähnten Emotionellen Pest zur Sprache brachte. Die Reaktion der Klasse war direkt und zutiefst ernsthaft. Außerdem schien sie erfreut darüber zu sein, daß das Buch meine zuvor geäußerten Ansichten bestätigte. Es gab Fragen zur Orgonenergie und anderen Konzepten, und als die Klasse zu Ende war, baten mehrere Schüler um eine Bibliographie von Reichs Schriften, ein höchst ungewöhnliches Ereignis in einer High-School-Klasse.

Bei anderen Gelegenheiten habe ich, nachdem ich die umfassenderen Lebensprobleme aus orgonomischer Sicht berührt hatte, die Schüler zu mir kommen lassen, um ihre intimsten persönlichen Probleme zu besprechen, die sie zuvor niemandem anvertrauen konnten. Kein Problem kam zur Sprache, welches nicht auf sexueller Unterdrückung beruhte. Es gibt zwar Schulberater an der Schule, aber nach dem, was die Schülerinnen und Schüler mir erzählt haben, und nach meinen eigenen Beobachtungen dieser Personen, sind sie den Schülerinnen und Schülern keine wirkliche Hilfe. Das Schulsystem, selbst ein Werkzeug der bestehenden Gesellschaft, funktioniert automatisch durch ein Auswahlsystem, das Abweichlern wenige Chancen läßt. Die wenigen, die unorthodoxe Ansichten haben, sind in der Regel zu ängstlich, um sich um jeden Preis offen gegen das Leitprinzip der sozialen Anpassung zu stellen. Eine Schulpsychologin sagte mir, sie sei sich der sexuellen Bedürfnisse von Jugendlichen als „beiläufigem“ Faktor bewußt, aber sie sagte, dies sei zu „heikel“, um es zu berühren. „Außerdem“, so sagte sie, „müssen sie in dieser Welt leben, und von daher ist Anpassung die einzige Lösung.“ Als ich sie fragte, ob die Anpassung an kranke Lebensmuster kranke Menschen hervorbringt, antwortete sie ausweichend: „Oh, so schlimm ist es doch nicht.“

Dennoch kann ein Lehrer trotz aller gegen ihn wirkenden Faktoren durch sein natürliches Verhalten, seine Wärme und seine offene Zustimmung zu allen lebensbejahenden Aktivitäten viel Gutes tun. Das Beispiel einer Autoritätsperson, die im Klassenzimmer eine Methode echter Selbstregulierung praktiziert, kann dazu beitragen, das spätere Auftreten von Unterwerfung unter eine irrationale, tyrannische, autoritäre Welt im sozialen oder politischen Bereich oder deren ängstliche Unterstützung zu verhindern. Ich betone das Wort „echt“, weil vielleicht ein gewisses Mißverständnis über die Möglichkeiten der Anwendung der Selbstregulierung in einer öffentlichen Schule voller Jugendlicher auftreten könnte, die zum größten Teil bereits schwer gepanzert sind. Eine Freiheit, die über deren Fähigkeiten hinausgeht, würde zu Destruktivität führen. Selbstregulierung bedeutet nicht, daß man den Schülern erlaubt, zu tun, was immer sie wollen, unabhängig von den Umständen oder von anderen. Das ist Zügellosigkeit. Man muß sich ständig bewußt sein, wieviel Freiheit in einer bestimmten Situation und bei einer bestimmten Gruppe zulässig ist. Oftmals wird ein gutmeinender Lehrer durch seine Versuche, unbegrenzte Freiheit zu gewähren, verheerende Auswirkungen zeitigen. Ein solcher Lehrer weckt lediglich Verachtung für sich selbst unter den gepanzerten Schülern (die die Freiheit fürchten), der Schulleitung und den Kollegen. Das Gewähren grenzenloser Freiheit kann sogar Ausdruck der Verachtung des Gewährenden für die wirkliche Freiheit sein: insgeheim will er, daß sie scheitert.

Hoffen wir, daß in den kommenden Generationen die gegenwärtige Unterwerfung der Heranwachsenden unter ein irrationales autoritäres Regime aufhören möge und daß Bedingungen innerer und äußerer Freiheit bestehen, damit sie ungehindert die Süße und Freude der natürlichen Funktionen erleben können, die einer tragischen Anzahl von Jugendlichen in Vergangenheit und Gegenwart so grausam verweigert wurde.

 

 

Leserbrief an Paul Ritters Zeitschrift ORGONOMIC FUNCTIONALISM

Paul Mathews, M.A.

Orgonomic Functionalism (Paul und Jean Ritter, Nottingham, England) vol. 6, no. 2&3, 1959

 

Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um einige Kritikpunkte anzubringen. In früheren Nummern [von Orgonomic Functionalism] haben Sie dazu eingeladen.

Erlauben Sie mir zunächst Ihre Hartnäckigkeit und Ihre Bemühungen zu würdigen, über die Jahre eine Zeitschrift herauszugeben, die zumindest zur Verbreitung von Informationen über Wilhelm Reich und die orgonomische Bewegung beigetragen, aber auch anregende und kreative Ideen eingebracht hat, die einer orgonomischen Ausrichtung entstammen. Dies ist heute um so wichtiger, wo die gesamte orgonomische Forschungs- und Veröffentlichungsarbeit eingestellt wurde – hoffentlich nur vorübergehend.

Auf der negativen Seite betrifft meine Kritik Bereiche, in denen ich glaube, daß Sie zu eifrig waren und zu weit gegangen sind. Ich glaube nicht, daß Sie oder irgendeiner Ihrer „Auszubildenden“ Orgontherapie praktizieren oder Berichte über Ihre Behandlungen im Orgonomic Functionalism veröffentlichen sollten. Die Gründe sind einfach: im Gegensatz zur Praxis der heutigen Psychoanalyse, die sich für eine „laien-analytische Therapie“ anbietet, ist die Orgontherapie eine streng medizinische Disziplin. Reich selbst legte Richtlinien für die Anforderungen an einen Orgontherapeuten fest. Alle Therapeuten müssen Ärzte sein (d.h. M.D. [Dr. med.] oder ein Äquivalent – vgl. „The Founding of the American Association for Medical Orgonomy“, S. 77f – OEB, Vol. 1, No. 2, April 1949), mit einer Ausbildung in klassischer Psychiatrie und einer Phase der orgonomischen Umstrukturierung bei einem qualifizierten ärztlichen Trainingstherapeuten. Die verschiedenen Prozesse in der Orgontherapie sind zwar funktioneller Natur und variieren mit dem Individuum, sie sind jedoch auf einen systematischen Ansatz ausgerichtet, bei dem der Therapeut weiß, was vor sich geht, warum es geschieht und wohin es geht. Tiefe und Kraft der Orgontherapie ist so groß, daß die Gefahr möglicher physiologischer Reaktionen und ihrer funktionell identischen psychischen Komponenten hoch ist, außer in den Händen derer, die die strengsten Anforderungen erfüllt und eine entsprechende medizinische Ausbildung erfahren haben. In dieser Hinsicht wurden von Zeit zu Zeit Warnungen in den verschiedenen orgonomischen Zeitschriften herausgegeben.

Abgesehen von pragmatischen medizinischen Überlegungen gibt es das soziale (und rechtliche) Problem, die bereits bestehenden Lügen und Verdrehungen hinsichtlich der „pseudowissenschaftlichen“ Natur der Orgonomie und der Etikettierung ihrer legitimen Praktizierenden als „Quacksalber“ weitere Nahrung zu geben. Die Emotionelle Pest sucht immer nach Wegen, die orgonomische Arbeit weiter zu diffamieren, zu stören und zu zerstören bzw. das, was davon übriggeblieben ist. Sie erinnern sich vielleicht an einen Brief, den Dr. Baker einmal an das American College of Physicians (OEB, Vol. 2, No. 1, Januar 1950, S. 45) senden mußte, aus dem ich teilweise zitiere:

Ich wünschte, Sie würden dem College erklären, daß ich keinem Kult angehöre. Die American Association for Medical Orgonomy setzt sich aus Mitgliedern zusammen, die Ärzte einer medizinischen Fakultät der Klasse A mit einem Jahr Berufspraktikum sind, mindestens einem Jahr Psychiatrie, einer kompletten Umstrukturierung durch eine persönliche Orgontherapie und drei Jahren Orgon-Biophysik-Ausbildung in Klinik, Seminar und Labor.
Man kann die Versuchung verstehen, therapeutisches Wissen in einem Land anzuwenden, in dem es keinen Zugang zu qualifizierten Orgontherapeuten gibt. Es ist jedoch sehr zweifelhaft, daß dies den beteiligten Patienten und dem Fach im allgemeinen gerecht wird. Wäre es nicht besser diese Munition dem Feind vorzuenthalten und zu warten, bis qualifizierte Hilfe verfügbar wird (was unter letzterer Bedingung wahrscheinlicher ist)? Andernfalls gehen Sie möglicherweise ungerechtfertigte ernste Risiken ein, die andere Menschen betreffen. Es gibt natürlich keinen schwerwiegenden Einwand gegen eine Form von Counseling, Beratung oder Oberflächenanalyse einer verbalen Natur, die orgonomisch orientiert ist.

Nur noch eine Sache. Ihre Einschätzung von Alexander Lowens Buch PHYSICAL DYNAMICS OF CHARACTER STRUCTURE [1958, deutsche Übersetzung: Körperausdruck und Persönlichkeit, München 1981] als für die Orgonomie wichtig, ist meines Erachtens ungerechtfertigt. Dr. Lowen identifiziert sich nicht mit der Orgonomie und hat sich Techniken angeeignet, mit denen Reich und andere Orgonomen nicht übereinstimmen. Lowen verwendet nicht den Begriff „Orgon“, obwohl es offensichtlich ist, was er mit dem Ausdruck „Bioenergie“ meint. Meine eigene Lektüre des Buches zeigt keinen signifikanten Beitrag zum orgonomischen Wissen und weist in einigen Fällen auf eine Regression zu einigen der früheren vegetotherapeutischen Techniken hin. Am bedeutsamsten scheint mir jedoch der Versuch Lowens zu sein, mit den Psychoanalytikern irgendwie einen Vergleich zu finden und (wo Reich es nicht vermochte und zwar mit viel größerer Erfahrung, Wissen und Genialität als er) ihnen zu beweisen und sie zu überzeugen, daß die Lücke zwischen Freuds früheren Libido-Konzepten der Psychoanalyse (die die meisten von ihnen heute nicht akzeptieren) und den Energiekonzepten Reichs nicht existent ist. Ich wünsche ihm dabei viel Glück – er wird’s brauchen.

 

 

Antwort auf David Boadellas „The Breakthrough into the Vegetative Realm“

Paul Mathews, M.A.

Orgonomic Functionalism (Paul und Jean Ritter, Nottingham, England) vol. 7, no. 2, 1961

 

Wilhelm Reich hat die Emotionelle Pest als „im sozialen Bereich destruktiv wirkende neurotische Charakter“ definiert. Er hat weiter gesagt: „Ein wesentlicher Grundzug der emotionellen Pestreaktion ist, daß Handlung und Begründung der Handlung einander niemals decken. Das wirkliche Motiv ist verdeckt, und ein scheinbares Motiv ist der Handlung vorgeschoben“ (Charakteranalyse, KiWi, S. 333). David Boadellas Artikel in der Januar-Ausgabe 1961 von Orgonomic Functionalism („The Breakthrough Into the Vegetative Realm“, Durchbruch in den vegetativen Bereich) ist ein Paradebeispiel für die Emotionelle Pest in Aktion. Er zeichnet sich weniger durch seinen Inhalt als durch seine Auslassungen aus. Er ist voll von Mutmaßungen, Verzerrungen, Ungenauigkeiten und Mißverständnissen, die die natürliche Konsequenz seiner Nichtqualifikation für die Art von „Kritik“ ist, die er versucht hat. Es erfordert wesentlich mehr als nur die Lektüre der Fachliteratur und verwandter Gebiete und die Ausübung einer Form von „Laientherapie“, die auf vergröberte Weise der Lektüre von Freud und Reich entlehnt wurde, ohne fachliche Vorbereitung und Ausbildung, wie er selbst zugegeben hat (1). Es ist jedoch ein so geschickt verführerischer Artikel, daß er im Interesse derjenigen, die irregeführt werden könnten, eine präzise Widerlegung fordert.

Boadella versucht einen Fall zu kreieren auf Grundlage der Vermutung – die er aus dem Studium mehrerer im Orgone Energy Bulletin veröffentlichter Fallgeschichten verschiedener Orgontherapeuten gezogen hat –, daß Reichs Kollegen die charakteranalytischen Aspekte ihrer orgontherapeutischen Praxis tendenziell übersehen haben. Er weist darauf hin, daß Reich selbst vor einem solchen Fehler „gewarnt“ hatte und daß ihm 1949 „etwas unbehaglich war, was die Praxis seiner Kollegen betraf“ (S. 23). Diese Vermutung beruht auf einem (aus dem Zusammenhang gerissenen) Absatz aus dem Vorwort zur dritten Auflage von Charakteranalyse. Was Boadella jedoch ausläßt und nicht erwähnt, sind die Abschnitte, die seinem Zitat unmittelbar vorangehen und folgen:

Die „Emotionen“ mußten immer mehr als Manifestationen einer realen BIOENERGIE, der organismischen Orgonenergie, angesehen werden. Langsam lernten wir, praktisch damit umzugehen, was heute „medizinische Orgontherapie“ genannt wird.

Obwohl der „psychische Bereich“ der Emotionen viel enger ist als ihr „bioenergetischer Bereich“, obwohl gewisse Leiden wie hoher Blutdruck nicht mit psychologischen Mitteln angepackt werden können, obwohl die Sprach- und Gedankenassoziation nicht tiefer eindringen können als bis zur Phase der Sprachentwicklung, also bis etwa zum zweiten Lebensjahr, bleibt der psychologische Aspekt des emotionalen Leidens bedeutsam und unerläßlich, obwohl er nicht mehr der wichtigste Aspekt der orgonomischen Biopsychiatrie ist. (Hervorhebungen von mir hinzugefügt, P.M.)
Und:

Wir wenden die Charakteranalyse nicht mehr so an, wie sie in diesem Buch beschrieben wird. Jedoch bedienen wir uns der charakteranalytischen Methode in bestimmten Situationen; wir gelangen immer noch über charakterliche Einstellungen zu den Tiefen menschlicher Erfahrung. Aber in der Orgontherapie gehen wir bioenergetisch vor und nicht mehr psychologisch. (2)
Man kann hier sehen, wie falsch es war, aus dem Gesamtzusammenhang zu schließen, daß Reich „etwas unbehaglich war, was die Praxis seiner Kollegen betraf“. Der Leser sollte daran erinnert werden, daß die von Boadella zitierten Artikel alle in den offiziellen Zeitschriften des Orgone Institute und der WRF [The Wilhelm Reich Foundation] unter der persönlichen Redaktion von Wilhelm Reich herauskamen. Nach meinem Verständnis und Wissen war Reich sehr sorgfältig bei der Auswahl der Fallgeschichten, daß sie wirklich repräsentativ, originell und kreativ waren.

Was nun die angeführten Fallgeschichten selbst betrifft, sei gesagt, daß sie hauptsächlich für den Austausch zwischen den qualifizierten Orgontherapeuten und den Ärzten in Ausbildung veröffentlicht wurden, die über den notwendigen Hintergrund und die Erfahrung verfügten, um Dinge zu interpolieren, die a priori bekannt sein sollten. Nur eine unqualifizierte Person kann nicht nachvollziehen, daß Ola Raknes, oder irgendein anderer Therapeut, der mit einer „Kurzbehandlung“ hantiert, dies nicht als Selbstverständlichkeit tut. Diese „Kurzbehandlungen“ sind auf die Beendigung der Therapie durch den Patienten aus Gründen, die mit den Umständen zu tun haben, zurückzuführen – und nicht auf die Illusion des Therapeuten, daß er eine vollständige Therapie erfolgreich abgeschlossen hat. Raknes wollte lediglich darauf hinweisen, daß in vielen Fällen gelegentlich positive und sogar bemerkenswerte Ergebnisse erzielt wurden. Um eine wesentliche Auslassung von Boadella aus den Artikeln von Raknes zu zitieren:

So hatte ich im letzten Jahr einige Versuche mit der Orgontherapie in Verbindung mit der Charakteranalyse in Fällen unternommen, in denen aufgrund der durch die Umgebung bedingten Umstände eine vollständige Behandlung nicht in Frage kam, in denen ich jedoch dachte, daß eine Verbesserung oder Erleichterung in der kurzen verfügbaren Zeit erzielt werden könnte. (3, Hervorhebungen von mir hinzugefügt, P.M.)
Diese einleitende Erklärung in Raknes‘ Artikel läßt kaum den Verdacht aufkommen, daß er die Schwierigkeiten und Ziele der Orgontherapie nicht kannte. Ihm vorzuwerfen, „das ursprünglich präzise Ziel der orgastischen Potenz (…) durch die eher vage Annahme der Aussage der Patientin, daß sie sich nach einigen Sitzungen besser fühle, und durch die Befreiung des Orgasmusreflexes“ ersetzt zu haben, ist absolut lächerlich. Ich sollte davor zittern, von einem Boadella behandelt zu werden. Raknes ist nie davon ausgegangen, daß er die ziemlich „präzisen“ Ziele der Orgontherapie in diesem kurzen Fall und in anderen Fällen hat erreichen können. Es gab keine „Umwandlung“ und kein „Ersetzen“ der ursprünglichen Ziele. Lediglich das Bewußtsein einer gewissen Erleichterung wurde erzielt, die zu einer günstigeren Zeit und in einer längeren, umfassenderen Therapie zu einer weiteren Verbesserung und sogar zu einer eventuellen Heilung führen könnte. Ich werde nicht auf Boadellas offensichtliche Unkenntnis der Natur und der Funktion des Orgasmusreflexes eingehen, außer sie zu erwähnen. Boadella meint, daß etwas, das bei ihm selbst möglich wäre – irrtümlicherweise „alle Arten von krampfartigen Bewegungen unterschiedlicher Intensität und Spontanität (…) für den vollen Orgasmusreflex“ zu betrachten – für die erfahrenen Kollegen von Reich möglich war und daß bestimmte Experimente Strömungen durch mechanische oder chemische Mittel auszulösen ein Beweis dafür sei, daß diese Mitarbeiter vom Weg abkamen.

Bei der Behandlung der anderen Fallgeschichten ergibt sich das gleiche Muster, d.h. die Neigung Boadellas fehlerhafte und unschmeichelhafte Schlüsse aus der unzureichenden Menge an Material zu ziehen, die eine Fallgeschichte insbesondere für den unqualifizierten Leser bietet, wenn sie nicht korrekt interpoliert und interpretiert wird. Ich werde nicht bei seiner „Analyse“ der Fälle der Drs. Sobey, Oller und Gold verweilen, die allesamt sehr klar im Widerspruch zu seinen Unterstellungen stehen. Stattdessen wende ich mich dem zu, was Boadella als „Kern der Kritik“ bezeichnet, dem Artikel von Dr. Elsworth Baker über „Ein schwerwiegendes therapeutisches Problem“. Hier spürt Boadella offenbar das Kaliber des Mannes, den er „kritisiert“ – den Mann, der von Reich ernannt wurde, ihn von der Ausbildung von Ausbildungskandidaten für die Praxis der Orgontherapie zu entlasten –, damit er seine gesamte Zeit der physikalischen Orgonforschung widmen konnte. Ihm bietet er diesen eher herablassenden Balsam (ausgesprochen wie „Bombe“) an: „Hoffentlich werden die unten gegebenen Kommentare in einem konstruktiven und nicht destruktiven Geist aufgegriffen werden.“ Dies leitet über in eine eingehende „Enthüllungsschrift“ über Bakers „Irrtümer“, „Fehler“, „Verzweiflung“ und „betrübliche Lagen“, nicht zu vergessen „düstere Feststellungen“. Darüber hinaus werden wir ermahnt (kein kleiner Trost für Dr. Baker), daß „die Fehler, die Baker gemacht hat, auch als ‚typisch‘ betrachtet werden und nicht in irgendeiner Weise als bezeichnend für diesen Therapeuten“.

Es sei darauf hingewiesen, daß sich Dr. Baker routinemäßig zur Gewohnheit machte, jeden zu veröffentlichenden Fall gründlich mit Dr. Reich zu diskutieren – natürlich vor der Veröffentlichung. „Ein schwerwiegendes therapeutisches Problem“ wurde ausführlich mit Dr. Reich diskutiert und analysiert, und Reich selbst sagte, er (Reich) hätte es nicht besser machen können, – daß diese Patientin ein unbehandelbarer Fall war.

Boadella versucht zu zeigen oder in seinen Kommentaren zu diesem Fall zu implizieren, daß Dr. Baker solche elementaren Faktoren der Therapie wie die falsche positive Übertragung (die Boadella als „latente negative Übertragung“ bezeichnet) nicht kennt oder für sie nicht aufmerksam genug ist, die „chaotische“ Situation, die funktionelle Notwendigkeit mit Ich-Situationen entsprechend dem spezifischen Fall umzugehen usw. usw. Was jedoch in Wirklichkeit durch Boadellas Kommentare offenbar wird, sind sowohl Unkenntnis des orgontherapeutischen Prozesses als auch die Absicht, alle wichtigen Tatsachen, die in diesem Fall dargestellt werden, zu übersehen und wegzulassen. Tatsachen, die zeigen, daß Baker nicht nur die Dynamik des Prozesses genau versteht, sondern auch, daß der Fall – wie Reich sagte – ein unheilbarer Fall war. Hier einige wichtige Auslassungen:

Eine der Aufgaben des Orgonomen besteht darin, den Patienten daran zu gewöhnen, ein Funktionieren auf einem höheren Energieniveau zu ertragen. Das kann bei einem Patienten mit hoher Energieladung und wenig oder gar keiner Fähigkeit, sich anzupassen, eine sehr mühsame und sogar katastrophale Unternehmung sein. (Einleitender Absatz)
An einer Stelle meint Boadella, daß einem bestimmten Erfolg, den Baker bei dieser Patientin hatte, mißtraut hätte werden müssen – wie folgt: „Dieser Zustand des Wohlbefindens, der durch die Freisetzung von Muskelverspannungen hervorgerufen wurde, muß mit höchstem Mißtrauen betrachtet werden (…) denn Reich wies darauf hin, daß das Gefühl der Erleichterung oft dazu dient, ‚die wahre Situation in der Tiefe der biophysikalischen Struktur zu verschleiern‘.“ Schauen wir, wie Baker „getäuscht“ wurde (was Boadella impliziert). Dr. Baker kommentiert kurz nach dem Vorfall wie folgt:
Sie war in nichts freiwillig hineingegangen, obwohl sie darauf bestanden hatte, weiterzumachen, und sie schien mit dem, was geschah, nie wirklich in Fühlung zu sein. Ihre Angst kam wieder, zusammen mit ihrem Mißtrauen, der mörderische Gesichtsausdruck, die widerborstige, herabsetzende Haltung und der steife Hals. Genitale Empfindungen waren weiterhin vorhanden. (Anmerkung: Dieser Teil des Zitats wurde von Boadella absichtlich weggelassen, da er darauf hinweist, wie erfolgreich Baker bei diesem unheilbaren Fall gewesen war – ob Boadella dessen gewahr war oder nicht).
An einer Stelle behandelt Boadella ein Zitat so, daß es [insbesondere im Englischen, PN] den Anschein erweckt, daß Baker Dinge sagt, die die Patientin von sich gibt: Boadellas Zitat:

Die Patientin beschuldigt den Therapeuten der Inkompetenz: „Sie begann, gegen mich aufzubegehren … ich gehe mit ihrer Übertragung auf mich nicht angemessen um, sondern übergehe sie zu rasch, weil ich sie nicht richtig verstanden hätte und sie nicht genug darüber reden lassen wolle. Das Thema ihrer Übertragung kam häufig zur Sprache, und ich hatte das Gefühl, sie müsse wohl recht haben, ich sei nicht richtig mit ihr umgegangen; aber ich konnte keine weiteren Hinweise auf das finden, was ich falsch gemacht hatte.“
Der vollständige Kontext:

Sie begann, gegen mich aufzubegehren; ich versuche, ihre Ehe zu zerstören, ich sei einfach nur eine Sexualbestie, ich gehe mit ihrer Übertragung auf mich nicht angemessen um, sondern übergehe sie zu rasch, weil ich sie nicht richtig verstanden hätte und sie nicht genug darüber reden lassen wolle. Tatsächlich sei ich nur daran interessiert, ein Tier aus ihr zu machen. Das Thema ihrer Übertragung kam häufig zur Sprache, und ich hatte das Gefühl, sie müsse wohl recht haben, ich sei nicht richtig mit ihr umgegangen; aber ich konnte keine weiteren Hinweise auf das finden, was ich falsch gemacht hatte. (Ich vermute, daß es nicht so sehr darauf ankam, wie ich mit der Übertragung umgegangen war, sondern sie es nicht verwinden konnte, mich nicht gewonnen zu haben.)
Wie unterschiedlich wir diesen Abschnitt doch lesen, wenn die Auslassungen aufgefüllt werden.

Der abschließende Absatz von Dr. Baker lautet:

Mein erster Eindruck von dieser Patientin war der, sie sei eine Vertreterin des üblichen phallischen Charakters, deren Abwehr zu bröckeln begann, aber das Problem war nicht so einfach. Die meisten Zeichen, die Reich als Gründe aufgezählt hat, eine Therapie abzubrechen, waren vorhanden, besonders die zähe Beharrlichkeit von Blockierungen.

Ich wußte im Verlauf ihrer Therapie, daß ich sie [die besagten Zeichen] beachten sollte, aber ihre Not und ihre Entschlossenheit und ihr Flehen bewogen mich, weiterzumachen. Außerdem fiel es mir schwer, eine Niederlage zuzugeben. Es hat wenige Patienten gegeben, denen ich mehr hätte helfen wollen, und ich möchte hinzufügen, daß ich sie persönlich gern hatte und achtete, obwohl sie so schwierig war. (4, Hervorhebungen von mir hinzugefügt, P.M.)
Ich habe diese weggelassenen und fragmentierten Auszüge vorgelegt, damit diejenigen, die keinen Zugang zu dieser Zeitschrift haben [d.h. dem Orgone Energy Bulletin], ein umfassenderes Bild von dem Fall bekommen und wie er verzerrt wurde.

Um einen Teil der Motive von Boadella zu verstehen, der versucht, Dr. Baker und die anderen Orgontherapeuten der ursprünglichen Gruppe um Reich zum „Affen“ zu machen, müssen wir zu folgender Zusammenfassung gehen. Laut Boadella ist Dr. Alexander Lowen – vom „Institut für Bioenergetische Analyse“ der einzige, der das tut, was Reich intendiert hatte (auch wenn er nie ein Orgontherapeut war und eine Zusammenarbeit mit Reich ablehnte, nachdem er seinen medizinischen Grad erhalten hatte). Lowen habe nun den Mantel von Reich geerbt, wie es Reich von Freud vor ihm getan hatte. Seltsamerweise erinnere ich mich nirgendwo in meiner Lektüre von Lowens Buch an irgendeinen Hinweis auf jene „präzisen“ therapeutischen Ziele, um die Bodella im Fall Raknes angeblich so besorgt ist, nämlich die orgastische Potenz und ihre Begleiterscheinungen; noch einer Erwähnung der Orgonenergie. Ich bin des weiteren amüsiert über die Anklage gegen Reich durch Lowen und Boadella, daß die somatisch und psychisch miteinander zusammenhängenden Probleme nicht systematisch dargestellt worden wären. Auf der einen Seite beschuldigen Schriftsteller wie Theodore Reik, Reich habe versucht, übermäßig zu systematisieren, und auf der anderen Seite haben wir die Aussage von Paul Ritter: „Ich finde das Kapitel Reichs über die segmentäre Anordnung des Panzers weitaus systematischer und nützlicher als den Versuch Lowens bestimmte körperliche Symptome mit bestimmten Charakterstrukturen auf seine Weise gleichsetzen“ (5). Ritter sagt weiter: „Wenn man jeden Teil des Buches, der irgendwo im Werk von Reich zu finden ist, gewöhnlich besser ausgedrückt, penibel streicht, bleibt so wenig von Originalität und Bedeutung, daß für diejenigen, die nur eine begrenzte Zeit haben, meiner Meinung nach das sorgfältige Lesen der Charakteranalyse eine wertvollere Tätigkeit ist als das Lesen von [Lowens] Physical Dynamics of Character Structure.“ Aber ich vermute, daß auch Ritter beschuldigt wird, Lowen dessen „Unabhängigkeit“ zu verübeln.

Schließlich glaube ich, daß ein tiefer Einblick in die wirklichen Motive von denjenigen entsteht, die versuchen Verleumdungen auf eine derartig durchsichtige Art und Weise zu verbreiten. Um Reichs eigene Definition einer Autorität zu zitieren:

Eine Autorität ist jemand, der weiß, womit er es zu tun hat und nicht jemand, der niemals das gelernt hat, was er glaubt schon zu wissen. (6)
 

Literatur

  1. Boadella, David: Brief an A.S. Neill – Kopie an Paul Mathews – 28. Sept. 1959
  2. Reich, Wilhelm, M.D.: Charakteranalyse, Köln: KiWi, 1989
  3. Raknes, Ola, Ph.D.: „A Short Treatment With Orgone Therapy“, OEB, 1950
  4. Baker, Elsworth F., M.D.: „A Grave Therapeutic Problem“ OEB, 1953
  5. Ritter, Paul: Buchbesprechung, „Physical Dynamics of Character Structure“ von A. Lowen, M.D., Orgonomic Functionalism, September 1959
  6. Reich, Wilhelm, M.D.: „The Orgone Energy Accumulator“, Orgone Institute Press, 1951

 

 

Antwort auf David Boadellas „Occupational Hazards in Orgonomy“

Paul Mathews, M.A.

Orgonomic Functionalism (Paul und Jean Ritter, Nottingham, England) vol. 7, no. 3-4, 1961

 

Zunächst sei ein für alle Mal klargestellt, daß Wilhelm Reich nie verrückt geworden ist, bezeugt nicht nur durch den vom Gericht bestellten Psychiater, sondern auch von denjenigen, die ihn persönlich kannten und von Anfang an bis zum Tag seines Todes engen Kontakt und Umgang mit ihm hatten. Bis zum Ende, als er kurz zuvor noch sein letztes Buch in der Gefängniszelle abgeschlossen hatte, war er vollauf Herr seines Urteilsvermögens und seiner Geisteskräfte. Er wurde sowohl nach klassischen als auch nach orgonomischen Maßstäben als vollkommen geistig gesund von Leuten beurteilt, die dazu am sachkundigsten waren, was ihre Kenntnisse der Psychiatrie, seines Lebens und die direkte unmittelbare Beobachtung angeht. Die Angriffe auf die geistige Gesundheit Reichs sind von denen ausgegangen, die inkompetent sind und nie in irgendeiner Weise persönlichen Kontakt zu Reich hatten. Bei diesen Angriffen handelt es sich daher definitionsgemäß um Angriffe der Emotionellen Pest und durch Modju (eine spezifische Form der Pest, die solange unersättlich ist, bis sie ihr Opfer tatsächlich getötet hat). Boadellas Artikel veranschaulicht dies:

Die Schlange entblößt ihre Reißzähne, während sie zischt und faucht und dann auf das Opfer stürzt, wobei sie ihre giftigen Reißzähne tief in seinen Hals versenkt. Die Schlange ist ein „Laientherapeut“ namens David Boadella – selbst der „Therapie“- und „Ausbildungs“-Frankenstein des „Laientherapeuten“ Paul Ritter. Boadella kann sehr wohl Resultat von Ritters schimärischen und miasmatischen Vorstellungen von „Therapie“ sein.

Boadellas Artikel ist natürlich ein weiterer plumper Versuch den Einfluß und die Bedeutung von Reich und der Orgonomie zu zerstören – in einer langen Reihe derartiger Versuche (mit ihren Verflechtungen und ihrem System von Kettenreaktionen) – und nichts weniger als das. Es ist das „ad hominem“, um alle „ad hominems“ zu „ad hominem“.
(1) Es ist das Werk Modjus von seiner frühesten salbungsvollen Vorspiegelung von Freundlichkeit bis zu seinem letzten „Mörder-Angriffen“ auf das Leben und die Arbeit eines Mannes, neben dem der Angreifer sich ausmacht wie eine faulige Kloake im Vergleich zu einem Ozean. Es ist Viertelwahrheit und dick aufgetragene Verzerrung, gezeugt durch Neid, Ignoranz und Schrecken. Es ist die größt denkbare Impertinenz!

Modju weiß sehr gut, wie er die Angst, den Haß und den Verdacht der Menschen gegen sein Opfer wecken kann, indem er es durch Verdrehungen mit den Kräften des Schwarzen Faschismus in eine Reihe stellt. Modju weiß, wie er an die Angst vor Bewegung und starkem Handeln bei den Menschen appellieren kann, indem er die Bedeutung einer ärztlichen Einschätzung der Pest (Modju selbst) so verzerrt, daß sie dasselbe bedeutet wie München, Panmunjom und andere derartige „medizinische“ Ansätze. Er weiß, wie mit der Prämisse zu beginnen ist, sein Opfer leide unter „Paranoia“ (direkt aus den psychopolitischen Lehrbüchern aus „Modjuland“), und „einen Fall“ mit solchen „Autoritäten“ wie dem „entscheidenden“ Jack Green(2) und mit dem Mißbrauch von Myron Sharafs Aussagen, die von den Prämissen Modjus eingekreist sind, „aufzubauen“.

Modju hat sich nie die Mühe gemacht und die Arbeit auf sich genommen, das Material aus erster Hand an seiner Quelle zu studieren, um sich mit einer echten Therapie von Unreinheiten zu befreien (schließlich hatte Reich nie eine Orgontherapie – warum sollte also Modju eine haben?) – weil das das Ende von Modju bedeuten würde – und er weiß das! Modju hat nie Monate damit verbracht, die Atmosphäre und andere Phänomene in Arizona oder Maine zu untersuchen (er war zu sehr damit beschäftigt, das zu verzerren und dann zu generalisieren, was er ohne Verständnis gelesen hat). Er hat niemals harte Arbeit aufgebracht und auch nicht unter der Verfolgung gelitten, die er selbst seinem Opfer, dem echten Wissenschaftler und Arbeiter, angedeihen läßt. Er will aus zweiter Hand Kraft und Frieden schöpfen, indem er seinen „großen Peiniger“ zerstört.

Glücklicherweise hat uns der „große Peiniger“ jedoch beigebracht, Modju zu sehen und zu verstehen – wie er ihn vor 1950 und 1947 und sogar schon lange vorher gesehen und verstanden hat.

Wir haben gut gelernt, die „no see-ems“ zu sehen.(3)

 

Anmerkungen des Übersetzers

(1) Gemeint ist: Boadella immunisiert sich gegen „persönliche Angriffe“ (Mathews nennt ihn „Modju“), indem er Reich persönlich angreift (Boadella bezeichnet den Schöpfer des Konzepts „Modju“ als „Verrückten“).

(2) Ein „Reichianischer“ „Beatnik“ aus dem Greenwich Village der 1950er Jahre.

(3) Winzige und deshalb „unsichtbare“ blutsaugende Mücken. Reichs Bild für den hinterhältigen und feigen pestilenten Charakter, der aus dem Verborgenen mit übler Nachrede arbeitet.

 

 

Reich und die Politradikalen

Pauls Mathews, M.A.

The Journal of Orgonomy vol. 3/2, 1969
The American College of Orgonomy

 

15. September 1969

The Letters Editor
The New York Times Magazine
229 West 4 Street
New York, N.Y. 10036

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte mich einem Aspekt des Artikels von Paul Goodman „Die neue Reformation“ (9/14) zuwenden, nämlich der Beziehung zwischen Wilhelm Reichs Sexualtheorien und denen von Marcuse und ihm selbst. Es ist in Mode gekommen, Reich als eine Art Sexualideologen zu erwähnen, als einen Vorläufer der angeblichen sexuellen Revolution von heute und daher als einen der „Helden“ der zeitgenössischen „Revolutionäre“ und „Radikalen“. Paul Goodman weist selbst auf diesen Punkt hin in seiner Einleitung zu Ilse Ollendorff Reichs jüngster Biographie ihres verstorbenen Ex-Ehemannes…

Reich selbst leugnete jede Beziehung zwischen seinem Werk und Denken und dem, was von zeitgenössischen Nonkonformisten vertreten wurde. Er bezeichnete sie häufig als „Freiheitskrämer“. Paul Goodman beschreibt in einem Nachruf auf Reich in Liberation vom Januar 1958 Reichs Wut auf ihn, weil er „seinen Namen mit Anarchisten und Libertären
(4) in Verbindung brachte“. Reich war der Ansicht, daß die Menschheit in ihrem gepanzerten Zustand (ein Begriff, der charakterologische und muskuläre, d.h. biologische Rigidität bezeichnet) nicht in der Lage sei, verantwortungsbewußte Freiheit und Selbstregulierung zu praktizieren. Er war der Ansicht, daß Veränderungen langsam erfolgen sollten, wobei die Betonung auf der verantwortungsvollen Erziehung von Kindern liegen sollte („Freiheit, aber nicht Zügellosigkeit“). Die heutige Generation ist ein Produkt des Mißverständnisses und des Mißbrauchs dieses Konzepts, was zu einem Durchbruch dessen führte, was Reich als „sekundäre (zerstörerische) Triebe“ bezeichnete – häufig mit einer humanen oder sozialbewußten Rationalisierung –, die ihrer Natur nach die vorgeblichen Ziele nicht erreichen können. Stattdessen lösen sie entweder Illusionen oder eine ernsthafte Gegenreaktion aus.

Es ist daher fairerweise gegenüber Reich wichtig, ihn von Marcuse und der Neuen Linken, den meisten zeitgenössischen „Radikalen“ und Nonkonformisten, und von Paul Goodman selbst abzuheben.

Respektvoll unterbreitet,
Paul Mathews
School of Continuing Education, N.Y.U.

 

Anmerkungen des Übersetzers

(4) Damals dachte man beim Stichwort „libertär“ eher an Freaks und „Swinger“, nicht wie heute an Rechte, traditionelle Liberale und „Paläokonservative“ wie etwa Alex Jones!

 

 

Symposium des Esalen-Instituts über Wilhelm Reich: Oder was Orgonomie nicht ist

Pauls Mathews, M.A.

The Journal of Orgonomy vol. 8/2, 1974
The American College of Orgonomy

 

Das Esalen Institute of California, das im San Francisco Chronicle vom 26. August 1974 als „ein in Big Sur ansässiges Begegnungsgruppenzentrum, das auf dem Gebiet der 'humanistischen Psychologie' und des 'neuen Bewußtseins' tätig ist“ beschrieben wurde, hielt im August ein zweitägiges Symposium ab über „Wilhelm Reich: Körpertherapie und Körperpolitik“. Wie jeder, der mit der Orgonomie auch nur minimal aber zutreffend vertraut ist, weiß, sind „Körpertherapie“ und „Körperpolitik“ nicht das, worum es bei Reich oder der Orgonomie geht.

Der Brief eines Berichterstatters, der an einer Reihe von Esalen-Treffen teilgenommen hat, bestätigt unsere Befürchtungen. Hier einige Auszüge aus dem Brief von Louis Hochberg, einem an der Columbia University ausgebildeten psychiatrischen Sozialarbeiter im Bundesstaat Kalifornien, der an der Konferenz teilnahm:

Ich schreibe aus der Warte [dessen], der fünfundzwanzig Jahre lang von der klinischen, sozialen und naturwissenschaftlichen Arbeit Wilhelm Reichs tatsächlich in Beschlag genommen wurde und sie immer noch inspirierend findet. Ich reagierte mit Ablehnung auf den Konferenztitel, weil ich ihn als rigide und unnötig einschränkend empfand. Moon Eng, der Koordinator der Konferenz (…) sagte, er sei Sozialist (…) extremer Druck wurde von Homosexuellen ausgeübt, als Podiumsmitglieder zugelassen zu werden (…) ein männlicher und eine weibliche Homosexuelle durften das Zuschauermikrofon benutzen. Der Mann bezeichnete sich selbst als marxistisch-leninistische Schwuchtel und wurde offensichtlich durch seine eigene exhibitionistische Darstellung in Erregung versetzt. Eine Frau riß alles mit kochender (...) Wut an sich und stauchte [Dr.] Eileen Walkenstein zusammen, die von diesem bösartigen und unprovozierten Angriff sichtlich mitgenommen war. Einige Male wurde das Panel durch das mögliche Ausbrechen von Chaos zum Stillstand gebracht (…) Ich spürte ein Gefühl von Angst in mir aufsteigen (…) vor dem möglichen Umschlagen (…) in Gewalt. Eine Frau (…) möglicherweise durch Drogenmißbrauch hirngeschädigt [erzählte], wie sie und ihr Partner „Orgasmen“ hätten. Sie wurde schließlich entfernt, man erlaubte ihr aber später das Zuschauermikrofon zu benutzen, um den Ablauf der Veranstaltung fast völlig zum Stillstand zu bringen (…) bei dem Versuch, einen nicht enden wollenden pornographischen Witz zu erzählen.

Die naturwissenschaftliche, pulsierende Natur des Organismus fehlte hier. Stanley Keleman, der mir nichts gegeben hat (…) hat nie auf Reich angespielt. (…) Wenn man die Konferenz nach seinem Vortrag beurteilt hätte, wäre einem schwerlich aufgegangen, daß dies eine Konferenz über Reich war, nicht über Keleman. Wie narzißtisch kann man sein?

Einige Personen waren von dem Ereignis dieser Konferenz beeindruckt. Ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob ich das war, obwohl es mir half zu erkennen, wie tief die sozialen Probleme sind, die Reichs Arbeit behindern. (…)

David Boadella (…) bezog sich abfällig auf den Eier-Wurf-Angriff und die anschließende Verhaftung an der N.Y.U. [der Universität von New York City], da dies durch die versuchte Unterbindung (…) der Verteilung eines Flugblattes provoziert wurde. Er sah darin einen Eingriff in die Freiheit und tadelte die Verantwortungslosigkeit der Verhaftung. Diese absichtliche Verzerrung, die aus dem Provokateur ein unschuldiges Opfer machte, macht einen lachen. Schrecklich traurig und wahnsinnigmachend! (…) Später kam es beim Auftreten von [Charles] Kelley zu einem ominös klingenden Zischen (...) nachdem Richard Lichtman einen starr intellektualisierten Einwurf für die Errichtung des marxistischen sozialistischen Staates als Voraussetzung für die Freiheit (mit dem Kapitalismus als Feind) gemacht hatte (…) Kelleys Antwort, die darauf hinauslief, daß sozialistische Nationen restriktiver sind, wurde barsch beiseite gewischt, kaum hatte er es ausgesprochen. (…) Die Angst explodierte bei einem mörderisch klingenden Zischen (…) als Kelley sagte, die [orgontherapeutische] Umstrukturierung mache die Menschen eher konservativ.

Das soll nicht heißen, daß es sowohl auf der Bühne als auch im Publikum keine anständigen Menschen gab. Reichs Arbeit war produktiv und sauber. Sie braucht und verdient eine Präsentation in einer besseren Atmosphäre als die im Esalen-Institut.
Dieser Brief spricht für sich selbst. Es ist höchst bedauerlich, daß Konferenzen dieser Art von der Presse und der Öffentlichkeit als repräsentativ für Reich und die Orgonomie mißverstanden werden, obwohl sie aufgrund ihrer Art und ihrer Zielsetzung für Reich ein Greuel gewesen wären. Diese weitgehend politischen und kommerziellen Unternehmungen, die eine Mischung aus eklektischen Therapien und pathologischen Beweggründen darstellen, ziehen eine große Anzahl von Menschen an, die von Reichs Arbeit berührt worden sind. In ihrer emotionalen Wirkung stellen sie eine Ausbeutung dar, die einer religiösen Erweckungsversammlung nicht unähnlich ist. Die Bekanntmachung und Verbreitung von Tonbändern, Filmen usw. sind Teil des Syndroms aus religiöser Inbrunst und kommerzieller Ausbeutung. Verzerrer und Verleumder – selbsternannte Reichianer – werden zu ihren Aposteln und Schutzheiligen.

Reich hingegen war an Arbeit interessiert und an ernsthaften, engagierten Arbeitern, die sich durch geduldige, sorgfältige Arbeit, echte Beiträge und die Bereitschaft, ihr Ego und ihren Wunsch nach schnellem Ruhm den besten Interessen der Orgonomie unterzuordnen, bewährt hatten. Seine internationalen Konferenzen, die in Maine abgehalten wurden, waren für diese ernsthaften Arbeiter, nicht für Sexual- und Sozialpolitiker, Dogmatiker und Psychopathen. Sein Konzept und sein Wunsch nach einem American College of Orgonomy (das von seinem engen Mitarbeiter Dr. Elsworth F. Baker gegründet wurde) waren Ausdruck seines Bestrebens, diese hohen Standards beizubehalten. Das College versucht, diese Standards und ein wirklich funktionelles Studium und Arbeiten im Zusammenhang mit den Manifestationen der Orgonenergie zu etablieren, zu fördern und aufrechtzuerhalten. Es kritisiert unverantwortliche und verzerrte Haltungen gegenüber der Orgonomie, die die Arbeit behindern und die Menschheit gefährden.

Die Illusion von Freiheit und Aktivität bei solchen Konferenzen vom Esalen-Typ ist sowohl auf einen Mangel an Verständnis von und Kontakt mit echter Freiheit zurückzuführen als auch auf eine hysterische, rasende Flucht vor und Haß gegen die Genitalität und das Leben, für die Reich und die Orgonomie stehen. Lassen wir uns in dieser Hinsicht nicht täuschen.

Die emotionale Pest entspricht dem Frost und der Dürre, die den Samen der Wahrheit hindern, später Früchte zu tragen. (…) Wir sollten uns daher vor allem auf die Pest und nicht auf die Wahrheit konzentrieren und in erster Linie der Dürre und dem Frost vorbeugen, anstatt darauf zu achten, was der Sämling macht und machen könnte. Der Sämling wird seinen Weg zur lebenspendenden Sonne finden. Es ist die Pest, die die Bewegung des Sprosses abtötet und der wir darum unsere ganze Aufmerksamkeit widmen müssen. (Reich – Christusmord)

 

 

zuletzt geändert
28.07.21

 

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