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In Der Blaue Faschismus geht es darum, den emanzipatorischen Kern der Orgonomie vor Zersetzung und Mißbrauch durch ultra-reaktionäre Doktrinen zu schützen. Die wahrscheinlich absurdeste Paarung ist Orgonomie und Buddhismus. Siehe auch unsere Besprechungen diverser "Reichianischer" Bücher. "Blauer Faschismus" bedeutet, den Panzer auf eine illusorische Art und Weise überwinden zu wollen - und ihn so in Wirklichkeit zu verewigen. Blauer Faschismus (nach dem Blau der Orgonenergie) zeigt sich z.B. in den "Reichianischen Körpertherapien", die gleich zu Anfang das Problem der Genitalität durch Befreiung des Beckensegments angehen, gleich zum Kern des Problems kommen - und damit den Patienten unrettbar zerstören, weil "Haken" hervorgerufen werden und so jede Möglichkeit einer etwaigen späteren Behandlung durch Orgonomen verunmöglicht wird. Die Panzerung wird nicht regulär aufgelöst, also vor dem Trieb (Freiheitssehnsucht) die Abwehr (Verantwortungslosigkeit) angegangen, sondern freiheitskrämerisch der Trieb mobilisiert, d.h. für "Bewegung" gesorgt, die die Blockaden hinwegfegen soll. Reich hat gezeigt, daß man zunächst das Hindernis (die "Gegenwahrheit") aus dem Weg räumen muß, um der Wahrheit Bahn zu schaffen. Tut man das nicht, entsteht eine chaotische Situation. Was nützt das schönste Rennauto ("Trieb"), wenn die Rennstrecke voller Geröll liegt ("Abwehr"). Das Gefährt immer weiter aufzumotzen und mit Vollgas auf die Piste zu schicken, ist so lange Freiheitskrämerei, wie die Gegenwahrheit nicht erkannt ist und angegangen wird. Wenn das Geröll nicht weggeräumt wird, ist das Resultat der "revolutionären Mobilisierung" nicht etwa mehr Bewegung, sondern die vollkommene reaktionäre Immobilisierung.
DER BLAUE FASCHISMUSPeter Nasselstein
Ich halte es für richtig, an jeder geeigneten Stelle zu betonen, daß es nicht darauf ankommt, ob eine Wissenschaft von der menschlichen Natur einer Weltanschauung entspringt und durch sie gefärbt ist; daß dies nicht anders sein kann, ist jedem Wissenschaftler klar; wohl aber ist entscheidend, mit welcher Weltanschauung sich eine wissenschaftliche Tätigkeit verbündet; mit der, die das Wissen, die ganze Persönlichkeit des Forschers und oft auch seine Existenz und sein Leben in den Dienst der Erforschung des Seins stellt, oder mit der, die alles tut, buchstäblich alles, von der harmlosen falschen Theoriebildung über den Boykott des Gegners und wissenschaftlichen Raub an ihm bis zu reaktionären Taten und Manifesten, um zwar den Nimbus der Wissenschaft für sich zu sichern, aber im übrigen jedes Stückchen mühsam errungenen Wissens zu verschleiern, abzubiegen, seine Konsequenz zu vermeiden. Wilhelm Reich (25:199) Im 1. Abschnitt dieses Artikels wird gezeigt, wie sich die finsterste, denkbar lebensfeindlichste Reaktion in jenem Bereich breitmacht, in dem die Orgonomie ihre Wirksamkeit entfaltet: der sozialistischen, orgastischen und "kosmischen" Sehnsucht. Der 2. Abschnitt illustriert, daß, um Reich zu paraphrasieren (24:358), eine der schwersten Katastrophen in der Geschichte der Menschheit eingeleitet werden würde, wenn die Orgonomie in falsche Hände geriete. Reich: "Natürliche Liebe, die sich in tote Genitalien ergießt, wird zu Haß und stumpfen Mord am sozialen Dasein" (24:186). Mit dem 3. Abschnitt soll deutlich gemacht werden, daß Reichs Antifaschismus, d.h. der erbarmungslose Kampf gegen jede Form von Mystik und sentimental-sadistischem "religiösen Gefühl", aktueller ist als jemals zuvor.
1. Das Wesen des FaschismusDie Suggestivkraft des Hakenkreuzes wird von Verhaltensforschern mit der "Augensymbolik" erklärt. Im gesamten Tierreich gelte das Auge als das Abwehrzeichen schlechthin. Auch die Swastika soll ein stilisiertes Auge darstellen (man denke an die Naziflagge!) und dadurch die Menschen derartig innervieren. Demhingegen hat Reich die Wirkung des Hakenkreuzes sexualökonomisch zu erklären versucht. Es sei "die Darstellung zweier ineinander geschlungener menschlicher Gestalten, schematisiert, aber deutlich als solche zu erkennen. (...) Es ist also anzunehmen", schreibt Reich, "daß dieses Symbol [des Geschlechtsaktes] auf tiefe Schichten des Organismus einen Reiz ausübt, der um so stärker ausfallen muß, je unbefriedigter, sexuell sehnsüchtiger der Betreffende ist" (22:106). Es paßt ins Bild, daß die Swastika (ein Sanskritwort) Symbol des Hinduismus ist. Einer Gesellschaft, die wohl die sexuell restriktivste, verklemmteste, verlogenste und deshalb "geilste" (Tantra!) der Welt ist. "Unverblümt wird Hitler in Indien bewundert. Nur die verwestlichte indische Elite äußert die routinemäßigen Negativa. Die Masse fühlt ganz anders. Hitler ist ein 'Avatar', ein Herabgestiegener, ein Träger des göttlichen Funkens. Er gilt als Asket, als Zölibatär und als Yogi, der ausgesandt war, die verhaßten Engländer zu bedrücken. Das Hakenkreuz als traditionelles indisches Heilssymbol beglaubigt seine mythische Sendung" (H. Kurzke z.n. 31:143). In einem Artikel über diesen "Hindu-Faschismus", der in der Wiener Zeitschrift FORVM (30.09.1986) erschienen ist, wird eine "arische" (arya - ein Sanskritwort) Hindu-Organisation behandelt. "Eine zeitlang sah das offizielle Parteinamenssymbol so aus: RSS, mit bewußter und geplanter Entlehnung der germanischen Siegesrune bei der SS." Hier soll uns weniger dieser Artikel interessieren, sondern die durch die Redaktion des FORVM beigesteuerte Illustration. Direkt neben SS-Runen wird ein homo-erotisches Vasenmotiv aus der Antike abgebildet: ein Pärchen beim Coitus a tergo in stehender Haltung. Sieht man das SS-Emblem und dieses Motiv nebeneinander, wird die Verbindung genauso zwingend wie beim Hakenkreuz. Auf die sexualökonomische Rolle der Homosexualität im Faschismus im allgemeinen und bei SS, SA und anderen "Frontkämpferbünden" im besonderen braucht an dieser Stelle nicht weiter eingegangen zu werden. Entscheidend für das Verständnis des Wesens des Faschismus ist, daß er in seiner zentralen Symbolik genau das Gegenteil dessen zum Ausdruck bringt, wofür er offiziell steht. Die Darstellung der "größten Sauerei", wie sich der Faschist ausdrücken würde, wird, so Reich, "als Sinnbild von Ehrenhaftigkeit und Treue präsentiert" (22:106). Auf der linken Seite des politischen Spektrums ist die Symbolik sogar noch eindeutiger: Hammer und Sichel, als Symbol für den "Arbeiter- und Bauernstaat". In entsprechenden Darstellungen wird der Hammer stets von einem Mann hochgehalten, gegen den dann eine Frau ihre Sichel hält. Das ganze soll ein Sinnbild des selbstlosen und d.h. asketischen Schaffens am hehren sozialistischen Aufbau sein. (Mit den Symbolen des Islam, Schwert und Halbmond, verhält es sich ähnlich, obwohl sie nie zusammen auftreten.) Vor dem Hintergrund des sexuellen Gehalts der Symbole des Schwarzen und Roten Faschismus verlohnt auch ein zweiter Blick auf das wissenschaftliche Symbol des orgonomischen Funktionalismus. Angesichts dieses Logos hat einmal ein Jugendlicher mir gegenüber spontan darauf hingewiesen, daß es aussehe wie das männliche Geschlechtsorgan, das auf einen geöffneten Schoß zielt. Andere Symbole der Orgonomie, etwa die Spiralgalaxie, stellen die kosmische (und damit die genitale) Überlagerung dar - wie das Hakenkreuz. Um die innere Dynamik des Blauen Faschismus zu verstehen, ist jedoch die "anarchistisch-masochistische" Symbolik der linken Jugendkultur weitaus aufschlußreicher. Da wäre zunächst das "A" im Kreis, womit der sprichwörtliche "Punker mit Hundehalsband", der es an die Häuserwände schmiert, unbewußt zeigt, wie er sich selbst einschätzt: "Ich bin der letzte Dreck!" In einem ähnlichen Zusammenhang steht das Peace-Zeichen, das unbewußt die Vulva symbolisiert (18). "Offiziell" repräsentiert es die Rebellion gegen "die da oben", doch unbewußt das genaue Gegenteil: masochistische Unterwerfung und den endgültigen Triumph der Reaktion ("nuclear disarmament"). In Die Massenpsychologie des Faschismus beschreibt Reich, wie die Freiheitssehnsucht der Menschenmassen (Expansion) wegen ihrer Angst vor Verantwortung nicht etwa zu mehr Freiheit und Selbstverantwortung führt, sondern ganz im Gegenteil in nur noch mehr Unfreiheit und Unterdrückung umschlägt (Kontraktion). Doch statt dieses Problem, das einzige politische Problem, anzugehen, wird in den Menschenmassen unter den beschriebenen Bannern die illusorische Freiheits- und Glückssehnsucht (letztendlich die Sehnsucht nach sexueller Erfüllung) immer mehr angestachelt, - um die Massen zu versklaven. Das eigentliche "Opium fürs Volk"! Beispielsweise zeigt Reich in dem besagten Buch, daß insbesondere der Kommunismus, der mit der "sozialistischen Sehnsucht" der Massen spielte, in der ultimativen Reaktion enden mußte. Die Kommunisten gaben vor, das Heilmittel gegen die soziale Unterdrückung in der Hand zu haben, verabreichten in Wirklichkeit aber kein Heilserum, sondern "Opium" oder, wie Reich sich ausdrückt, "Krankheitin" (22:207). Bereits Nietzsche nannte den angeblich "revolutionären" Sozialismus den "phantastischen jüngeren Bruder" des feudalistischen Absolutismus. "Seine Bestrebungen sind also im tiefsten Verstande reaktionär" (19:307). Wie recht er hatte, sollte etwa das realsozialistische Rumänien zeigen. Erinnert sei auch an die Porträts der ultra-autoritären Mao und Ho Tschi Minh, die die "anti-autoritären" 68er bei ihren Aufmärschen hochhielten. Neo-Feudalisten! Die gehaßte Obrigkeit wurde beseitigt, nur um in Potenz neu zu erstehen. Der Blaue Faschismus ist dementsprechend die ultimative Reaktion, denn hier geht es nicht nur um die "sozialistische Sehnsucht" ("Jedem nach seinen Bedürfnissen!"), sondern um "kosmische Sehnsucht", die Reich in Die kosmische Überlagerung thematisiert (27:25). Es geht um die Sehnsucht, in der Genitalen Vereinigung mit dem kosmischen Orgonenergie-Ozean zu verschmelzen, mit ihm eins zu werden. Doch statt orgastischer Potenz und Überwindung des Über-Ich (Freiheitsfähigkeit) beschert uns der Blaue Faschismus das exakte Gegenteil: die allesdurchdringende "göttliche Energie" mitsamt den denkbar reaktionärsten Ideologien, die Indien, China, Japan und die europäische "Esoterik" zu bieten haben. Das ganze natürlich in einem "emanzipatorischen" Gewande. Etikettenschwindel. "Krankheitin". Der Blaue Faschismus ist sozusagen "Neo-Saharasia". Man nehme etwa den mittlerweile verstorbenen "spirituellen Kommunisten" Rudolf Bahro, der wirklich alle der oben diskutierten Symbole hochgehalten hat. Jedenfalls hat er 1987 in seinem Buch Logik der Rettung die sozialistische mit der kosmischen Sehnsucht vereint und entsprechend die Frage nach einem "grünen Adolf" aufgeworfen: "In dem feigen Antifaschismus (...) haben wir es verweigert", schreibt Bahro, "nach der Kraft zu fragen, die hinter der braunen Bewegung stand, und die selbst nicht braun, (...) sondern einfach die Vitalität selbst war. (...) Es kann aus derselben Energie, die damals auf die Katastrophe hin disponiert war, sogar aus der Neigung zum Furor teutonicus, wenn sie bewußt gehalten und dadurch kontrolliert wird, heute etwas Besseres werden. Kein Gedanke verwerflicher als der an ein neues anderes 1933?! Gerade der aber kann uns retten" (z.n. 12:518).(1) Geraune voller Mystik, Sentimentalität und Sadismus. Bahro zufolge ist die "Ökopax-Bewegung" der 1980er Jahre die erste deutsche Volksbewegung seit der Nazibewegung. Diese neue "Bewegung" müsse "Hitler miterlösen". Es gehe um "Tiefenstrukturen", die jenseits von Links und Rechts stehen, um die geistigen Quellen unseres Volkes, nicht um Klassenbewußtsein, sondern um "Stammesbewußtsein", d.h. um die "deutsche Wesenheit". Die ökologische Krise sei nur die materielle Reflexion unserer inneren spirituellen Entfremdung. Da die Menschen von ihren spirituellen Wurzeln abgetrennt seien, könne nur noch eine "Rettungsregierung" Abhilfe schaffen, die in einem "Gottesstaat" die "natürliche Ordnung" wiederherstellt (5:206-211). In ihrer Bahro-Biographie verwahren sich Guntolf Herzberg und Kurt Seifert gegen das vermeintlich gemeine "Gerede", das in Bahro den Verkünder einer "ökofaschistischen Diktatur" sehen will (12:519). Es sei unfair Bahros Logik der Rettung einseitig auszuschlachten und Stellen wie die folgende draußen vor zu lassen: "Auf dem Wege der Rettung wird sich allmählich eine neue spirituelle Autorität herausbilden. Ich nenne sie eine Unsichtbare Kirche, die allen offensteht, der alle angehören mit den für die neue Welt freien Anteilen ihres Bewußtseins. Sie existiert als horizontales, multilaterales Netz. Sie verbietet sich jede direkte oder indirekte Konstituierung als kommandierende soziale oder politische Macht. (...) Keine noch so wohlmeinende Tyrannis würde eine gute, heile Gesellschaft schaffen." Konkret stellt sich Bahro die Formation eines "ökologischen Rates", eines "Oberhauses", eines "House of The Lord" (sic!), vor, - einer Struktur, "in der unsere höchsten Bewußtseinskräfte Ausdruck finden". Auf diese Weise ließe sich der Staat neu schaffen, "und", so Bahro, "zwar jenseits der bisherigen repressiven Muster, jenseits der jahrtausendelangen Tradition der Kämpfe um Machtmonopolisierung" (12:580f). Also eine "sprituell" durchwirkte Gesellschaft plus eine Art "Wächterrat". Alles wie in der "spirituellen Räterepublik" Iran! Das ganze "emanzipatorische" Brimborium Bahros, nur um das Über-Ich fester zu verankern, als jemals zuvor. Bahro war geradezu der prototypische Blaue Faschist: die Repression wird denkbar "fundamental" infrage gestellt, - um dann nur umso stärker und tiefer verwurzelt wiederzukehren. Beispielsweise war Bahro von "Rajneeshpuram" in Oregon fasziniert. Und so stellte er sich wohl auch den von ihm angestrebten "spirituellen Kommunismus" vor. Rajneesh mußte sein Projekt 1986 aufgeben, aber kurz vor seinem Tod richtete er sein Augenmerk auf die untergehende DDR. Damals, 10.11.1989, berichtete die Frankfurter Rundschau: "Der greise indische Guru und Sektenführer Shree Rajneesh Bhagwan will offenbar die Zeit des Umbruchs in der DDR für sich nutzen. Eine entvölkerte DDR könne Heimat für eine internationale Kommune seiner Anhänger werden (...). Er und seine Jünger könnten gar ein Paradies aus der DDR machen, um das sie alle Länder, einschließlich der USA und der Bundesrepublik, beneiden würden. Die DDR könne ein Modell für die Zukunft des Kommunismus sein, sagte Bhagwan in seinem Meditationszentrum im indischen Poona auf Fragen deutscher Anhänger zur Lage in der DDR. Da die DDR am Ende sei, blieben nur zwei Alternativen: Entweder die DDR vereinige sich mit der Bundesrepublik und werde Teil der kapitalistischen Welt, oder es versuche ein 'mutiges, neues Experiment', das Kommunismus mit Meditation vereinige. Dies müsse unter Anleitung seiner Anhänger geschehen." Wie eng verzahnt sozialistische und kosmische Sehnsucht sind, sieht man auch an den absonderlichen Visionen Trotzkis vom zukünftigen sozialistischen Menschen: einer Mischung aus Nietzsches "Übermensch" und dem amerikanischen Superman. So phantasierte Trotzki Anfang der 1920er Jahre in seinem Buch Literatur und Revolution, nachdem er zunächst ein Science Fiction-Gemälde der zukünftigen Gesellschaft malt, davon, daß der Mensch "die Harmonie seines eigenen Seins" herstellen werde. Er würde "den Bewegungen seines eigenen Körpers bei der Arbeit, auf dem Marsch und beim Spiel eine größere Präzision, Zweckhaftigkeit, Ökonomie und daher mehr Schönheit verleihen. Er wird den Wunsch haben, die vor- und unbewußten Prozesse seines eigenen Organismus zu meistern - die Atmung, den Blutkreislauf, die Verdauung, die Vermehrung -, und wird danach streben, sie innerhalb unvermeidlicher Grenzen der Kontrolle seines Verstandes und Willens dienstbar zu machen ... Der homo sapiens, der jetzt auf der Strecke bleibt, ... wird sich als das Objekt der kompliziertesten Methoden künstlicher Zuchtwahl und psychologischer Erziehung behandeln." Und weiter mit dem kommunistischen Yoga: "Der Mensch wird danach streben, seine Gefühle zu beherrschen, seine Triebe auf die Höhe seines Bewußtseins zu bringen und sie mit Klarheit zu erfüllen, seine Willenskraft in die Tiefen seines Unbewußten zu lenken; und auf diese Weise wird er eine neue Bedeutung erlangen, wird er zu einem überlegenen biologischen und sozialen Typus - zum Übermenschen, wenn man will." In diesem Zusammenhang spricht Trotzki von "psychophysischer Selbsterziehung". Und dann quasi "anthroposophisch": "Der Mensch wird unvergleichlich stärker, weiser, feingearbeiteter werden; sein Körper wird harmonischer werden; seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme musikalischer werden. Die Formen seiner Existenz werden eine dynamische, theatralische Qualität annehmen" (z.n. 4:255f). Noch absonderlicher sind die Dinge, die man in den Dokumenten des Stalinistischen Kampfes gegen die "Trotzkisten" findet. Wladimir Bobrenjow, Oberst der Justiz bei der Militärstaatsanwaltschaft in Moskau, und der Moskauer Journalist Waleri Rjasanzew haben in ihrem Buch Das Geheimlabor des KGB (2) entsprechendes Material aus den kurz nach dem Untergang der Sowjetunion noch zugänglichen Archiven veröffentlicht. So sagte Ende der 1930er Jahre J.J. Goppius, Chef eines chemischen Labors der GPU, in dem Giftstoffe untersucht und hergestellt wurden, vor den Schergen Stalins aus, Ende der 1920er Jahre sei in der "Freimaurerloge" (sic!) innerhalb der Tscheka unter Leitung des Chefs der Sonderabteilung, G.I. Boki, beschlossen worden, "daß einer der Führer dieser Organisation, ein gewisser Professor Bartscheko, nach Afghanistan reisen sollte, um Beziehungen zum 'Zentrum der prähistorischen Wissenschaft' aufzunehmen." Wörtlich fährt Goppius fort: "Von dort wollte Bartschenko nach Indien reisen und Tibet besuchen ... Auf dieser Beratung wurde auch beschlossen, daß der bekannte Trotzkist Bljumkin(2) Bartschenko auf dieser Reise begleiten sollte. Wir hatten für ihn schon den Paß und verschiedene Dokumente ausgestellt und eine größere Geldsumme bewilligt, doch dann mischte sich jemand vom NKID (Außenministerium) in die Angelegenheit ein. Ich erinnere mich noch gut, wie Boki mir empört berichtete, daß die Reise von Bljumkin und Bartschenko nach Afghanistan, Indien und Tibet untersagt wurde. Aus zahlreichen Gesprächen mit Bartschenko und Boki war mir bekannt, daß Bljumkin zu unserer Organisation enge Verbindungen hatte." Trotz des Verbots durch das Zentralkomitee der Partei reiste Bljumkin nach Indien. Auf seiner Rückreise besuchte er Trotzki in dessen Exil auf der türkischen Insel Prinkino und sprach mit ihm zwei Tage lang. Als Bljumkin in die UdSSR heimkehrte, wurde er verhaftet und erschossen (2:84-86). Interessanterweise handelte es sich bei Trotzkis erstem Buch, daß er 1899 im Alter von 19 Jahren während seiner ersten Inhaftierung schrieb, ausgerechnet um eine Studie über die Geschichte der Freimaurerei. Sie wurde nie veröffentlicht. Das Manuskript ging im Exil verloren. Und was verbarg sich hinter der ominösen "Freimaurerloge" der "Trotzkistischen" Tschekisten? Zufällig stießen die beiden angesichts ihres Fundes ratlosen Autoren von Das Geheimlabor des KGB auf Vernehmungsakten über Bokis Aktivitäten in Kutschino, der Datschen-Siedlung der Nomenklatura außerhalb Moskaus. Dort hatte dieser leitende Tschekist, der einer Sonderabteilung der GPU vorstand, eine Art "Kommune" aus Mitarbeitern und Freunden gegründet. An arbeitsfreien Tagen wurde gefeiert. 1938 gab ein gewisser N.J. Klimenko, eines der Mitglieder der "Kommune", zu Protokoll, daß es bei diesen Trinkgelagen oft zu Prügeleien kam, weil sich die Frauen an die "Hausordnung von Väterchen Boki" hielten und von ihren Ehemännern in flagranti ertappt wurden. "Als Hausordnung auf der Datsche galt, daß ständig die Sauna geheizt wurde und man sie, wie von Boki angewiesen wurde, gruppenweise aufzusuchen hatte. Dort wurde dann offen Gruppensex getrieben. Bei den Zechgelagen kam es in der Regel zu widerlichen Scherzen: Betrunkene wurden die Geschlechtsteile mit Farbe und Senf beschmiert, Schnapsleichen wurden lebendig 'begraben'. Einmal hatte man den volltrunkenen Filippow in der ausgehobenen Grube wirklich fast mit Erde zugeschüttet. Hierbei wurde eine Totenmesse gelesen, wobei man speziell aus dem Solowki-Kloster besorgte Meßgewänder trug. In der Regel streiften sich zwei oder drei diese Meßgewänder über und zelebrierten eine 'Trinkermesse'" (2:38). Der erwähnte Goppius, ebenfalls "Kommunarde", bestätigte, daß die Mitglieder der "Kommune" dazu verpflichtet wurden, sich zu betrinken. "Obligatorisch war ebenfalls, daß alle Männer und Frauen die Gemeinschaftssauna besuchten. Daran beteiligten sich alle Kommunemitglieder, auch die beiden Töchter Bokis. Im Statut der Kommune wurde dies als 'Kult der Rückkehr zur Natur' bezeichnet. Es war obligatorisch, daß Männer und Frauen auf dem Gelände der Datscha nackt oder halbnackt herumliefen" (2:40). In was für einem Ausmaß der Bolschewismus Blauer Faschismus war, sich also hinter der "sozialistischen Sehnsucht", eine "kosmische", orgastische, sozusagen "dionysische Sehnsucht" verbarg, macht Gerd Koenen deutlich, wenn er schreibt: "Der von Nietzsche philosophisch artikulierte Wunsch, die gesamte zähe Deckschicht der jüdisch-christlichen und bürgerlichen Zivilisation abzustoßen und den Weg zurück zu einem 'dionysischen Zustand', einer neuen 'Echtheit' des Lebens und einer Moral 'jenseits von Gut und Böse' zu finden, hatte gerade auch in Rußland eine - später sorgsam kaschierte - Wirkungsgeschichte." In Rußland konnte man, so Koenen, von einem "nietzscheanischen Marxismus" sprechen: dem Bolschewismus (13:126f). Im National-Sozialismus kommt der Blaue Faschismus in seiner fatalen Dynamik von sozialistischer und kosmischer Sehnsucht ähnlich zum Ausdruck. Aber natürlich erfolgt hier das Abstoßen der jüdisch-christlichen und bürgerlichen Zivilisation unter anti-bolschewistischen und anti-rationalistischen Vorzeichen. Es gemahnt an Bahros Rekurs auf die "vitale Energie", die sich im Nationalsozialismus angeblich manifestiert habe, wenn der Philosoph Hermann Schmitz in seiner ausufernden Hitler-Studie Adolf Hitler in der Geschichte schreibt, Hitler habe die Juden als Vertreter der dem organischen Leben entgegenstehenden "zersetzenden Rationalität" ganz im Sinne von "Lebensphilosophen" wie Bergson und Klages betrachtet. In Hitlers Augen hätten die Juden das mechanische Prinzip im Gegensatz zum organischen Leben vertreten. Für Hitler sei der Jude sozusagen der "Geschäftsführer" einer mechanisch quantifizierenden, nivellierenden, uniformierenden Tendenz der Entordnung durch maximale Entropie gewesen (29:289-294). Demnach habe Hitler in seinem Wahn, wie sich Schmitz ausdrückt, "gegen die Juden das Leben, das organische oder organismische Prinzip gegen das mechanische" verteidigt (29:292). Hitler war nur der prominenteste Vertreter dieser tief verwurzelten "emanzipatorischen" Denkfigur, die uns heutigen nicht zuletzt aus "Reichianischen" Kreisen wohlvertraut ist (wenn auch natürlich ohne antisemitische Untertöne). Zum Beispiel zeichnet bereits 1891 Julius Langbehn in seinem Rembrandt als Erzieher den "Kampf gegen die Juden" quasi als Kampf für Jugend, Leben und Genitalität: Die Deutschen seien ein viel jüngeres Volk als die Juden, die "denjenigen Entwicklungsstand eines Menschen (darstellen), welchen man als 'alt, klug und schlecht' bezeichnet. Solchem Rassecharakter entspricht", fabuliert Langbehn, "durchaus ihr Einzelcharakter; jüdische Kinder gibt es nicht; jeder Jude wird als alter Mann geboren. Er ist sittlich, wie sein Ahnherr Isaak körperlich, ein Altersprodukt. Altern aber heißt: zersetzt werden; der Jude war körperlich von jeher und ist geistig jetzt mehr als je Zersetzungsprodukt; er wirkt darum, naturwissenschaftlich ganz richtig, stets wider zersetzend. Der moderne Jude (...) ist ein Stück Menschheit, das sauer geworden ist; und der arische Kindergeist reagiert gegen beide. Jugend gegen den Juden! Der jugendliche Theil des deutschen Volkes - also eine doppelt jugendliche Menschheit - erfährt und äußert dieses Gefühl selbstverständlich am deutlichsten." Wie dieser "emanzipatorische" Impuls mit dem Holocaust zusammenhängt, kann man sich am ehesten anhand von Ibsens Drama Peer Gynt (1867) vergegenwärtigen, das sowohl mit der Orgonomie als auch mit dem Nationalsozialismus engstens verbunden ist. Reichs erste psychoanalytische Arbeit heißt "Libido-Konflikte und Wahngebilde in Ibsens 'Peer Gynt'" (23). Im gleichen Jahr, 1920, wurde Dietrich Eckart (1868-1923), der 1911 mit seiner deutschen Adaption des Peer Gynt berühmt geworden war, zum Mentor Hitlers, den er zum "deutschen Heiland" stilisierte. In seiner Studie erwähnt Reich (23:20) Eckarts Schrift von 1918 Ibsen, Peer Gynt, der große Krumme und ich. Für Eckart geht es in Peer Gynt um die Emanzipation des Einzelnen von der Masse. Peer Gynt durchschaut die Gesellschaft, wird aber von dunklen unterirdischen Mächten niedergehalten: vom Volk der Zwerge ("die Juden"), das sich im "Großen Krummen" ("der Jude") verkörpert. So deutete Eckart Peer Gynt als Kampf zwischen dem freien Geist der Individuation und der dumpfen materiellen Masse, zwischen Ich und Gesellschaft. Aus dem Blickwinkel von Reichs Interpretation des Peer Gynt als ödipales Drama, in dem der "Große Krumme" die Forderungen des Vaters an Peer Gynt verkörpert, stellt sich der eigentliche Kern des paranoiden Wahnsystems der Nationalsozialisten so dar, daß mit Langbehns "Jugend gegen den Juden" (also gegen den "Großen Krummen") das bedrückende Über-Ich und damit die Panzerung vom "Furor teutonicus" hinweggefegt werden soll. Blauer Faschismus! Oder wie Reich schreibt: "im Neuheidentum des deutschen Nationalsozialismus brach sich das vegetative Leben (...) Bahn" (20:267). Es bricht sich Bahn, - biegt aber, wie Reich ausführt, sofort wieder "in Lebensverneinung um, wird zur Bremsung der Lebensentfaltung in der Ideologie der Askese, des Untertanentums, der Pflicht und der Rassengemeinschaft" (20:267). Entsprechend stehen im nationalsozialistischen Wahnsystem die Juden, wie erwähnt, nicht nur für den bedrückenden "Großen Krummen", das Über-Ich, sondern ganz im Gegenteil auch für "Zersetzung": chaotische Triebe, die "Kobolde", "das Volk der Zwerge", das Peer Gynt peinigt, - und sie stehen für Materialismus, "Bolschewismus", die rationalistische, zergliedernde "Aufklärung gegen das Über-Ich". In Hitlers Antisemitismus gibt es einerseits den Kampf gegen den bärtigen Patriarchen, der unschuldige kleine Christkindlein kastriert (Verkörperung des Über-Ich) - andererseits den Kampf gegen den glutäugigen, großnäsigen "Jud Süß", der mit viehischer Gier über blonde Jungfrauen herfällt; den gewissen-losen "schwarzhaarigen Judenjungen, der", wie in Mein Kampf nachzulesen ist, "stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen lauert, das er mit seinem Blut schändet" (= "Wilhelm Reich" - siehe den 3. Abschnitt). Hitler war davon überzeugt, wie er in Mein Kampf schreibt, "im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn." Wahnhafte Rebellion gegen das Über-Ich - im Namen des Über-Ich.
2. Der "blaue Adolf"Sentimentalität und Massenmord, Spiritualität und Sadismus, Romantik und Antisemitismus sind nicht voneinander zu trennen. Oder wie Reich schreibt: "Zwischen dem Grade des mystisch-sentimental-sadistischen Empfindens und dem Grade der durchschnittlichen Störung des natürlich orgastischen Erlebens gibt es eine enge Beziehung" (22:135). Ende 1988 trat über diverse Kontaktanzeigen im Marburger "alternativen" Stadtmagazin Express ein gewisser Maginaugh, "der Finder der 'Liebespaarenergie'", an die Öffentlichkeit.(3) Maginaugh bezeichnet sich als Fürst eines "Freistaates", nämlich seines Appartements. Für dieses "Liebesnest" sucht er noch "eine schöne, sinnliche, verrückte grün beseelte Fürstin". "Interessentinnen bitte melden." In der gleichen Anzeige wünscht er "allen naturreligiösen, wiedergeborenen Heiden und Hexenkindern und Erdmuttertöchtern ein gesegnetes, innigliches Wintersonnenfest, und zauberhafte, magische Rauhnächte!" Durch seinen "souveränen Staat" hätten "nicht nur die Palästinenser ihren eigenen Staat", sondern auch die "halbsphärischen" Waldgeister. Für diese seine Schutzbefohlenen fordert er den Schutz der Marburger Wälder vor Baumfällern und Jägern. Auch Marburg selbst solle "verwaldet statt verwaltet" werden. Bäume und Pflanzen seien hochintelligente, denkende und fühlende Lebewesen, die telepathische Fähigkeiten besitzen, mit denen sie auf unsere Gefühle und Gedanken eingehen. Und wir Menschen seien hier, um ihnen "positive Vibrations" zukommen zu lassen, die für sie ganz wichtig seien. Diese unsere Aufgabe würden wir erfüllen, "wenn wir uns mit unserem Partner, unserer Partnerin in tiefer sinnesverzückter, ekstatischer Liebe vereinen". Die Verliebten und Liebespärchen würden, Maginaugh zufolge, "eine ganz besondere Energie" ausstrahlen und so den Pflanzen und den mit diesen assoziierten Wesenheiten "das Lebenselixier" und "lebenswichtige Vitamine" zukommen lassen. Maginaugh: "Verliebte und Liebespärchen sind also die Träger der (Über)Lebensenergie, und Verliebte und Liebespärchen können auf lustvolle Weise die ökologische Krise lösen." Er ruft die "Liebespärchen" auf, auch zur Winterszeit engumschlungen in den Wald zu gehen, da die Energie, die die Verliebten ausstrahlen, für Wald, Bäume, Pflanzen lebensnotwendig sei. Außerdem solle man nachts das Fenster der Schlafzimmer offenlassen, damit diese Liebesenergie zu ihren grünen Empfängern fließen könne. Folgerichtig wollte Maginaugh mit einer "Liebespaarliste" nach den Kommunalwahlen ins Marburger Rathaus einziehen. Das Parteiprogramm: Nur Verliebte und Liebespaare könnten die Welt verändern. Auch Jesus und Maria Magdalena seien, genau wie Franz v. Assisi und die Hl. Klara, ein Liebespärchen gewesen. "Und nur aus ihrer Liebe heraus", so Maginaugh in einem Leserbrief an den Express, "schöpften sie die Kraft, weltverändernd zu wirken und gutes zu tun. Und es waren die Gesetzesleute, die Pseudo-Moralisten, die Politiker und Staatsreligionspriester, die dann Jesus wegen seiner verbotenen Liebe und seiner Lehre der Liebe hingerichtet, ermordet haben. Schlimmer noch, sie haben es verstanden, in seinem Namen die Welt erneut in einen pseudomoralischen, gesetzlichen Wahn zu stürzen, mit all den blutigen, grausamen Folgen, wie Inquisition, Hexenverbrennungen usw. Und es sind dieselben Gesetzesleute und Pseudomoralisten, die heute vor den Kinos stehen, und gegen diesen neuen Jesusfilm demonstrieren (Die letzte Versuchung Christi)." Maginaugh fährt fort: "Wollen wir aber wirklich in dieser Zeit tiefster (nicht nur ökologischer) Krisen das Leben sichern, dann müssen wir jenseits der Gesetzesleute den wahren Jesus und seine wahre Botschaft wiederentdecken und nach ihr Leben, eine Botschaft, die nur ein Wort kennt: Liebe!! Er und Magdalena könnten uns heute Vorbild sein. Liebe und Liebespaare verändern die Welt, Gesetzlichkeit und Pseudomoral zerstört sie nur!" Maginaugh will uns "Raupen" von unserem "Schädlingsdasein" auf "diesem stinkenden, faulenden Misthaufen namens 'BRD'" zum göttlichen "Schmetterlingsbewußtsein" führen. Anstatt zu "fruchtbaren, liebes- und lebenstragenden und -säenden Schmetterlingen" zu werden, würden wir "Schädlinge" aber lieber Raupen bleiben, weiter mit Autos den Wald "vergasen" und, so Maginaugh, "Fressen, Ficken und Fernsehen". Man tue "nichts für die Höher- und Weitertragung des Lebens, für die Veredelung der eigenen Rasse hin zu lebenstragenden, lebensbejahenden Intelligenzen". In einem gegen die Redaktion des Express gerichteten Pamphlet macht Maginaugh, in diese "lebensbejahende" Kerbe schlagend, einen ganz konkreten Vorschlag: "Die Nazis (Odenisten, esoterische Hitleristen, 'Nazi-Vampire', Okkultisten und die Exoterischen wie DVU, NPD, FAP) sind die Ketzer und Hexen des Schwarz-Rot-Grünen BRD-Staates! Und die Rot-Grünen sind die Sturmtruppen, die Ketzerjäger und Hexen-Verfolger von heute, die Inquisition findet heute statt in den Gerichten und Psychiatrien!! (...) Deshalb: Euer Protest gegen Rotgrüne Ketzer-Verfolgerei, gegen die neue Inquisition: DVU-D/FAP wählen!!" Maginaugh steht dem rechtsextremen "Armanenorden" nahe, und ist vor allem durch Alfred Rosenberg und den chilenischen Diplomaten Miguel Serrano, aber auch vom Drogenguru Timothy Leary, beeinflußt. Serrano glaubt, daß sich in Hitler die "kosmische Odins-Kraft" verkörpert habe. Des weiteren ist Serranos "esoterischer Hitlerismus" mit Versatzstücken aus Rudolf Steiners Anthroposophie, der hinduistischen "Avatar"-Lehre, der "Welteislehre", der "Hohlerde-Theorie" und anderen Produkten der okkulten New Age-Bewegung zusammengesetzt (31:145) (vgl. Hitler, Buddha, Krishna). In Anlehnung an Serrano glaubt Maginaugh als "Weißer Evolutionsagent", daß die "weiße, arische Rasse" einst den Göttern gleich war und aus dem Weltall auf die Erde gekommen sei, um hier (so wie bei Erich von Däniken) die Hochkulturen zu begründen. Früher seien die "Weißen" noch viel weißer, nämlich porentief rein und fast durchscheinend gewesen, aber durch Rassenmischung immer tiefer in die materielle Welt gesunken. Am tiefsten Punkt hätte sich schließlich der höchste Gott, Odin/Wotan, und sein "wildes Heer" in Hitler und der SS inkarniert. Hitler habe einen "kosmischen" "heiligen Krieg" geführt gegen die Mächte des Bösen ("Weltjudentum, Rotarier, Freimaurer, Bolschewismus, Demokratie, Rotes Kreuz"), um "ein neues heidnisches Reich der Gerechtigkeit" zu errichten, sei aber "in der großen letzten Schlacht der Götterdämmerung" gekreuzigt worden. Er sei daraufhin wieder zu Odin geworden und zusammen mit seinen Getreuen in sein Walhalla zurückgekehrt. Auch sei es auf der materiellen Ebene hohen SS-Wissenschaftlern gelungen, rechtzeitig in geheime Oasen der Antarktis zu entkommen, wo sie die für die UFO-Sichtungen verantwortlichen "SS-Flugscheiben und Flugkreisel" bauten. Es werde die Zeit kommen, wo dieses "letzte Bataillon Hitlers" zusammen mit den Geisterheeren aus Walhalla wiederkehren werde, "um die bösen Zinsknechtschafts- und Hochfinanzmächte zu zerstören und ein neues, weißes, arisches goldenes Zeitalter aufzubauen" (9:112f). Der "Armanenorden" geht auf den "Ariosophen" Guido von List und den abtrünnigen Zisterziensermönch Josef Lanz (Jörg Lanz von Liebenfels) zurück, aus deren Dunstkreis Hitler sein rassistisches Wahnsystem schöpfte. List gab, mit "Gesichten", die er hatte, die esoterischen Geheimnisse der vorgeschichtlichen "Ario-Germanen" weiter. Unter anderem offenbarte er, daß das Hakenkreuz "das höchstgeheiligte Geheimzeichen des Armanentums" sei (11:298). Lists Schüler Lanz baute das "ariosophische" Wahnsystem weiter aus. Für ihn bestand die "Erbsünde" der Menschheit in der "Bastardisierung" der gottgleichen "arischen Kinder des Lichts" durch "minderwertige Rassen", finstere "Sodoms-Äfflinge". Vor diesem "esoterischen" Hintergrund war später auch für den materialistisch argumentierenden Hitler die "Sünde wider Blut und Rasse" die eigentliche "Erbsünde dieser Welt und das Ende einer sich ihr ergebenden Menschheit". Die Rassenmischung habe, so Hitler, dem "Arier" sein Paradies gekostet. "1906 erschien Lanz' Hauptwerk Theozoologie oder die Kunde von den Sodoms-Äfflingen und dem Götter-Elektron. Hier wies er als Kind seiner Generation, die die Elektrizität als überwältigendes Phänomen erlebte, den arischen Göttern elektrische Kräfte zu und nahm auch Anleihen bei Carl von Reichenbachs Thesen von Magnetismus und Lebensod: Das menschliche Gehirn etwa sei ein 'Od-Akkumulator'" (11:311). Lanz berief sich auch auf "den Monismus von Ernst Haeckel und Wilhelm Ostwald, sowie den Neo-Vitalismus von Bergsons Epigonen in Deutschland. Obwohl Haeckel sich selbst als Materialist betrachtete, waren seine romantische Naturphilosophie und sein 'Panpsychismus' (der Glaube an eine Weltseele und ihre Manifestationen als Energie in allen Dingen) weit vom durchschnittlichen, mechanizistischen Materialismus entfernt" (7:92). Zwar vermitteln auch Mein Kampf und insbesondere die Tischgespräche den Eindruck, Hitler habe eher in einer materialistischen, gar "aufklärerischen" Tradition gestanden (Voltaires und Eugen Dührings antisemitischer und antichristlicher Materialismus, Darwins Abstammungslehre, Hygiene und Bakteriologie, Ökonomisches von Malthus und Massenpsychologisches von Gustave LeBon), aber man kann kaum abstreiten, daß er sein Weltbild weitgehend auf die "kosmische Intuition" einer Prägung aufbaute, die man heute vielleicht "Reichianisch" nennen würde. Wie der vermeintliche "Materialismus" Hitlers geartet war, kann man sich anhand von Hanns Hörbiger und seiner "Welteislehre" vergegenwärtigen, in der er mit der Kraft seiner Intuition die Urzeit und die tiefsten Weltprobleme offenlegte. In Linz wollte Hitler eine barocke Wallfahrtskirche niederreißen und an ihre Stelle eine Sternwarte setzen, um den Menschen "statt der Kirche einen noch höheren Ersatz zu geben, um den Menschen, die diese Planetarien besuchen, das Walten und Wirken des allmächtige Gottes vor Augen zu führen." Im Erdgeschoß sollte das Weltbild von Ptolemäus, im Mittelgeschoß das von Kopernikus und im Obergeschoß das von Hörbinger gezeigt werden: das Weltall wurde durch riesige Eisblöcke geformt, die in die Sonne stürzten, und die Weltgeschichte würde durch den Takt entsprechender kosmischer Katastrophen bestimmt (11:324). Neben List und Lanz gehörte ein gewisser Hans Goldzier zu den "lebensenergie-theoretischen" Einflüssen auf Hitler. Goldzier hatte eine ganze "Gegenwissenschaft" entwickelt, in der er Newtons Gravitationstheorie als Irrlehre entlarvte, nachwies, daß das Erdinnere nicht heiß sei, der Mond aus Eisen bestehe, usw. usf. In unserem Zusammenhang ist seine "These" von Interesse, daß die Elektrizität Urkraft und Motor allen Lebens ist. Die Menschen seien von ihr gelenkt und "im Grunde genommen Marionetten..., die an unsichtbaren Fäden zappeln, genau so wie ... die Zitterfische, die nach der jeweiligen elektrischen Stromrichtung ihre Ziele verfolgen und aufgeben." Auf der Grundlage seiner Einsichten über die Elektrizität als alles bestimmende Lebenskraft empfahl er etwa Eltern, "ihre Kinder nicht stürmisch abzuküssen, weil sie durch häufige Wiederholung derartiger Liebkosungen dem Kinde Lebensstrom entziehen." Eine Theorie, die auch Hitler vertrat: "Darum schreit ein Kind und wehrt sich, wenn eine Großmutter es immer wieder an sich drücken will, denn es möchte seine Kräfte nicht an eine Sterbende vergeuden. Und die Großmutter nimmt ja auch das Kind nur auf die Arme, gerade weil sie die überflüssigen Kräfte des Kindes an sich reißen will - unbewußt natürlich." Weiter erklärte Hitler, daß nach Goldzier die Elektrizität als "latente Wärme" aus dem Erdinneren in den Weltraum ströme und sich dabei die "besten Leiter" suche: "so entstehen", meinte Hitler, "die Pflanzen, die Lebewesen, und letzten Endes der Mensch". Die Historikerin Brigitte Hamann schreibt dazu: "Die Lebensstromtheorie ähnelt der Magnetismustheorie des 1869 verstorbenen Naturphilosophen Carl von Reichenbach (...). Goldzier wandte diese Theorie auch auf ganze Völker und 'Rassen' an, stets unter Verwendung darwinistischer Grundsätze von den 'Starken', die über die 'Schwachen' triumphieren. Die an Lebensod Schwachen und 'Überkultivierten' näherten sich dem Untergang und seien deshalb bestrebt, den Gesunden den Lebensstrom zu rauben und sie damit zu ruinieren. Diese Schwachen, selbstständig nicht Lebensfähigen, stellten damit so etwas wie Parasiten dar." Hitler selbst übertrug dies auf die "jüdische Schmarotzerrasse" (11:320f). Der "ariosophische" Armanen-Kult ist nach seiner Neugründung 1969 noch heute in der Alternativszene aktiv, insbesondere im feministischen Neuheidentum, und vertritt dort den "germanischen Wotanismus" als "eine Religion der Schöpfungswonnen". So lesen wir in Irminsul, der "Stimme der Guido von List Gesellschaft" von 1970: "Dem Germanen der wotanistischen Schöpfungswonne ist das Weib Göttin, der Germanin ist der Mann Gott. Auf der Suche nach polarer Ergänzung ist der Instinkt des Germanen darauf ausgerichtet, einen Partner zu finden, der geistig, seelisch und körperlich die größtmögliche Spannung bietet, um so durch den Spannungsausgleich in der Entladung der geschlechtlichen Vereinigung ein möglichst tiefes Erleben des Göttlich-Apolaren zu erzielen" (z.n. 8:119). Diese "wotanistische Schöpfungswonne" kann es für den "Arier" nur mit Partnern weißer Rasse geben, "denn ausschließlich die eigene Rasse bietet geistig-seelisch und körperlich die ergänzende und größtmögliche Geschlechterspannung. Die Wahl nach dem Instinkt tiefster Geschlechtswonne ist damit für den germanischen Menschen nicht nur die Garantie für das beglückenste Erleben der Schöpfungswonne, sondern gleichzeitig auch die Garantie für die Reinerhaltung der Rasse" (8:128). Maginaugh zufolge war Hitler ein derartig "Eingeweihter", "ein tantrischer Meister", und er würde Hitlers Kampf mit seinen, Maginaughs, "Liebespaaren" fortführen, die die "Liebespaarenergie" aktivieren. Maginaughs Vorschlag "zur Rettung und Heilung der Erde" ist die "Re-Aktivierung unserer alten Kultstätten", an denen es zu "Opfergaben von Urin, Samen und Blut", zur "Wiedereinführung von Menschenopfern" und zu "sexualmagischen Liebespaar-Ritualen" kommen müsse. Unser Lebensreformer weiter: "Sich nachts auf Friedhöfen und in Grüften lieben. (...) Ich beiße dann auch gerne die Frau, esse sie quasi auf, trinke ihr Blut, sauge ihr Blut! Überhaupt kann ich mir vorstellen, auf dem Höhepunkt (...) sich gegenseitig dem Todesgott zu opfern." Auschwitz sei eine solche Opferstätte gewesen, um die Juden zu erlösen. Das Töten im Dritten Reich war "ein Ritual". "Es geschah als Opfer und diente höheren Zielen und Mächten!" Maginaugh: "Die Hitleristen opferten ihre Feinde, die Juden, ihrem Schutzdaemon, dem germanischen TODES-Gott ODIN. Auschwitz war in der Tat ein neoheidnischer Opfertempel. Dieses Opfer, dieses Blut, was die Juden hier in und für Deutschland brachten, kam aber auch am Ende positiv für sie zu gute. (...) Alles lebt vom Blut der Ahnen! Ein großes, heiliges Mysterium."
3. Das Wesen des AntifaschismusProf.Dr. Julius Tandler (1869-1936) war ein einflußreicher Anatom, dessen Forschungsarbeiten in die Geschichte der Medizin eingegangen sind. Noch bedeutsamer ist sein Vermächtnis als sozialdemokratischer Wohlfahrtspolitiker im Wien der 1920er Jahre.(4) Er wurde am 16. Februar 1869 in Iglau (heute Jihlava) im damaligen Habsburgischen Kronland Mähren in einer armen jüdischen Familie geboren. Seine Jugend verbrachte er in Wien. 1910 wurde er Professor für Anatomie an der Universität Wien und war in den Kriegsjahren 1914 bis 1917 Dekan der Medizinischen Fakultät. Zwischen 1918 und 1920 studierte Reich bei ihm Anatomie und belegte Sezierübungen. In Reichs "Wiener Seminar für Sexuologie" hielt ein Medizinstudent Vorträge "über Sozialhygiene in Anlehnung an Tandler" (21:33). Welchen Einfluß Tandler auf den jungen Reich hatte, ist daran zu ermessen, daß Reich ihn noch 1942 ausdrücklich erwähnt: in Zusammenhang mit dem Muskeltonus (21:273f). Bevor Tandler 1919 in die Politik ging, galt sein besonderes wissenschaftliches Interesse dem Uterus und dessen pathologischen Veränderungen, der Kastration bei Mensch und Tier und der Auswirkung der Geschlechtsdrüsen auf den Organismus als ganzes. Sein eigentlicher Beitrag zur Wissenschaft war eine eigene "Konstitutionslehre". Dazu hatte ihn weniger die Anatomie angeregt, sondern vielmehr die Tierzucht. Er erwähnt z.B. die angeborene Konstitution der Rennpferde. Genauso sei auch die Konstitution des Menschen unverrückbar erblich angelegt, sei "somatisches Fatum". Während Kretschmer seine weitaus bekanntere Typologie des Menschen von dessen Gestalt ableitete, steht für Tandler der "Muskeltonus", bzw. die "Eigenspannung des ruhenden Muskels", im Mittelpunkt. 1909 entwickelte er, zusammen mit dem Chirurgen Alfred Exner, einen Apparat, mit dem die "Härte des Muskels", also der Muskeltonus, festgestellt werden konnte. Konkret wird mittels eines mit einer Feder versehenen Metallstabes die Eindrückbarkeit der Muskulatur unter standardisierten Bedingungen gemessen. Tandler unterscheidet zwischen drei Haupttypen: Hypertoniker, Hypotoniker und Normaltoniker. Ihr Verhältnis zueinander wird durch sein Bonmot treffend umrissen: Hypertoniker machen die Weltgeschichte, Normaltoniker machen sie mit und Hypotoniker schreiben sie nieder. Die Nähe zu Reichs späteren Theorien über die Muskelpanzerung ist unverkennbar. Es ist kaum auszudenken, was sich alles an (blau-)faschistischer Theorie und Praxis in Zusammenhang mit dem "konstitutionellen Tonus" hätte entwickeln können, denn Tandlers Konstitutionslehre hatte "rassenhygienische" Aspekte, die später in seiner sozialpolitischen Tätigkeit zum Ausdruck kamen. Deshalb kann man die gleich zu beschreibende Gegnerschaft von Tandler und Reich durchaus als eine zwischen "Proto-Blauem Faschismus" und "Proto-Orgonomie" betrachten! - Tandler kritisierte, daß das Konzept der "Rasse" ziemlich verschwommen sei. Seine Konstitutionslehre sollte hier Abhilfe schaffen. Dies war eine der Hauptgründe für die Herausgabe einer eigenen Zeitschrift für angewandte Anatomie und Konstitutionslehre. Sein eigener und einziger Beitrag erschien in der ersten Ausgabe von 1913 und bestand aus einem Vortrag über "Konstitution und Rassenhygiene", den er in der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene in München gehalten hatte. Diese Vereinigung war 1910 gegründet worden zur "Förderung der Theorie und Praxis der Rassen-Hygiene unter Personen mit deutscher Muttersprache". Dieser Zweck sollte neben der wissenschaftlichen Arbeit vor allem erreicht werden durch "ernste Arbeit" der Mitglieder "an ihrer seelischen und körperlichen Tüchtigkeit, durch Verpflichtung, sich vor Eingehen einer Ehe auf die Tauglichkeit dazu nach Vorschrift der Gesellschaft untersuchen zu lassen und bei Untauglichkeit zur Ehe von einer Eheschließung oder Fortpflanzung abzusehen, durch Pflege der individuellen und rassischen Tüchtigkeit des Nachwuchses." Vorsitzender der Gesellschaft war der aus Österreich stammende Münchner "Hygieniker" Max von Gruber (1853-1927), dem es vor allem darum zu tun war, die Menschheit zur Besinnung auf "sittliche Aufgaben" zu bringen, wobei ihm insbesondere die Einehe am Herzen lag, als die "notwendige, segensreiche, sittliche Ordnung". Reich hat sich in Die sexuelle Revolution eingehend mit Grubers ungemein einflußreichen und massenwirksamen Theorien, die für Grubers persönlichen Schützling Tandler prägend waren, auseinandergesetzt. Gruber geht es um die "Keuschheit der Frau als höchstes völkisches Gut", denn nur sie könne garantieren, daß die Männer wirklich für "ihr eigenes Blut schaffen und sich mühen". Er warnt vor jedweder Sexualbetätigung vor und außerhalb der Ehe. Einen Mann würde ein Liebesverhältnis seelisch weit mehr beschmutzen, "als der gelegentliche Besuch einer Dirne, der das Wesen einer Notdurftverrichtung hat, wie der Besuch eines öffentlichen Aborts." Und für die Frau gilt, daß der Wunsch nach Mutterschaft jeder "gutgearteten Frau" angeboren sei und nur durch die Aussicht auf ein Kind der Geschlechtsverkehr für sie wirklich beglückend wird. Reich schreibt: "Der Gipfel gefährlicher Ausnutzung wissenschaftlicher Autorität im Dienste der reaktionären Ideologie war die Behauptung Grubers, die Abstinenz schade gar nicht, im Gegenteil, sie sei sogar im höchsten Maße nützlich, denn der Samen werde wieder aufgesaugt und bedeute 'Zufuhr an Eiweiß'." Diesen Unsinn überbietet Gruber mit der Theorie, daß durch Nichtgebrauch des Sexualapparats dem Hoden ohnehin weniger Blut zugeführt und die Samenproduktion reduziert werde. Reich: "Was hier ausgesprochen ist, macht den Kern der reaktionären Sexualideologie aus: Sexualatrophie!" (20:66f). Nach dem Krieg konnte Tandler derartige "sexualhygienische" Vorstellungen in praktische Politik umsetzen. 1919 wurde er Unterstaatssekretär für Gesundheit in der Bundesregierung Renner und Leiter des Volksgesundheitsamtes, 1920 Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen in Wien. In den nächsten Jahren arbeitete er mit unermüdlicher Energie für den Ausbau der Fürsorge der Stadt. Unter vielen anderen Einrichtungen gründete er 1922 ein Eheberatungszentrum, das von Karl Kautsky jr. geleitet wurde. Tandler hatte ihm 1918 ermöglicht von Prag nach Wien zu kommen und sich hier als Gynäkologe niederzulassen. Er war damit auf ähnliche Weise Kautskys "Promoter", wie zuvor Gruber sein Förderer gewesen war. Kautsky jr. (1892-1987) war der zweite Sohn des berühmten Marxistischen Gelehrten Karl Kautsky. (Ich erwähne Kautsky jr. und sein Verhältnis zu Reich kurz in Der politische Irrationalismus aus orgonomischer Sicht.) Tandlers und Kautskys "gesundheitliche Beratungsstelle für Ehewerber", wie sie offiziell hieß, war die erste ihrer Art in Europa, wenn nicht in der Welt. Sie befand sich in der Rathausstraße 9 gleich neben der Rathausstraße 11, wo die Ärztin Marie Frischauf wohnte und arbeitete. Sechs Jahre später war ihre Praxis die Adresse einer der von Reich und Frischauf gegründeten Sexualberatungszentren. Im krassen Gegensatz zu Reichs späterer Herangehensweise war Kautskys Beratungsstelle rein eugenisch orientiert. Psychologische Beratung war nicht vorgesehen, geschweige denn, daß die "sittliche Weltordnung" im allgemeinen und die Eheinstitution im speziellen infrage gestellt wurde. Obwohl bis 1932 gerade mal 4300 Personen in 8600 Sitzungen betreut wurden, betrachtete Tandler die Beratungsstelle als einen ersten Schritt hin zu einer staatlichen, bzw. sozialistischen, Regulierung der Fortpflanzung. Bis dahin sollte von hier zumindest eine breite ethische Wirkung auf die Bevölkerung ausgehen unter dem Banner der "Rassenhygiene". Für Tandler war die Ehe eine Einrichtung für die biologische Höherentwicklung der Menschheit. Es sollte, wie in der Tierzucht gang und gäbe, eine Schranke gegen den "rassischen" Niedergang des Menschen errichtet werden. Natürlich warnte Tandler vor "bourgeoisem Barbarismus", doch vertraten sozialdemokratische Sozialingenieure wie er imgrunde dieselbe Ideologie wie später die Nationalsozialisten: die Ausmerzung des in ihren Augen moralisch und biologisch Minderwertigen. (Mit ähnlichen Anschauungen sollte Reich in den 1930er Jahren im sozialdemokratischen Skandinavien konfrontiert sein.) Tandler glaubte zwar, daß man (jedenfalls unter den gegenwärtigen nicht-sozialistischen Bedingungen) nicht das recht habe, "rassisch Minderwertige" zu beseitigen, um so mehr jedoch die Pflicht ihre Zeugung und Geburt zu unterbinden. Darin sah er die "rassenhygienische" Aufgabe des Arztes "im sozialistischen Befreiungskampf". Ziel war eine hohe Geburtenrate des sozialdemokratischen Proletariats bei gleichzeitiger drastischer Einschränkung der Geburtenrate des kommunistischen Lumpenproletariats. Um die Geburt von erbkranken Kindern zu verhindern, plädierte er für ein obligatorisches Ehezertifikat, das auf eugenischen Grundsätzen beruht. Auch spielten seine früheren Überlegungen über "humane Kastrationsmethoden" hinein, die nach vollendeter sozialistischer Revolution etwa an Alkoholikern vollzogen werden sollten. Teil dieser moralischen Aufrüstung des Proletariats war sein Vorgehen gegen Hugo Bettauer. In seiner Eigenschaft als Leiter des städtischen Wohlfahrtsamtes zeigte Tandler 1924 dessen "Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik" Er und Sie bei der Sittenpolizei an. Er erklärte, daß Bettauer die Notwendigkeit bestimmter Reformen schamlos dazu ausnutze, "Schmutz" zu verbreiten. Seinem Periodikum fehle es an ethischer und ästhetischer Bildung und dem notwendigen Verantwortungsbewußtsein. In bezug auf Gesundheit, Bevölkerungspolitik und Moral stelle die Zeitschrift eine große Gefahr für die Gesellschaft dar. Insbesondere die unvorbereitete Jugend müsse vor dieser "erotischen Revolution" geschützt werden. Den "schrankenlosen und fast aufdringlichen" Vertrieb des Magazins interpretiert Tandler als bewußten Versuch vor allem jugendliche Triebe auszubeuten. Deshalb wäre das Kinder- und Jugendschutzgesetz anzuwenden (10). Dr. Maximillian Hugo Bettauer wurde am 18. August 1872 in Wien geboren. Mit 18 trat er aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft aus und wurde Mitglied der evangelischen Kirche. Einige Jahre arbeitete er als Journalist in New York. Er ist Verfasser von 20 populären Romanen, darunter die satirische Utopie Die Stadt ohne Juden (1922), Der Kampf um Wien (1923) und Die freudlose Gasse (1924), nach dem 1925 der gleichnamige deutsche Stummfilm mit Greta Garbo gedreht wurde. Ab Februar 1924 gab er die von Tandler inkriminierte Zeitschrift Er und Sie heraus, die im Mai in Bettauers Wochenschrift (Probleme des Lebens) umbenannt wurde. Es handelte sich dabei um ein Boulevardblatt für die "Kleinen Leute". Am Ende betrug die Auflage 60 000. 1922 war das "Wiener Psychoanalytische Ambulatorium für Mittellose" ins Leben gerufen worden. An dieser Poliklinik war Reich als Erster Klinischer Assistent unter Eduard Hitschmann tätig, später wurde er stellvertretender Direktor. Der damalige Reich-Schüler Richard Sterba schreibt im Rückblick, Bettauers Wochenschrift sei maßgeblich an der Popularität des Ambulatoriums beteiligt gewesen. "Eine Rubrik seiner Zeitschrift war für Anfragen der Leser, das Sexualleben betreffend, reserviert. In seinen Antworten verwies Josef (sic!) Bettauer Fragesteller, die offenbar an sexuellen Schwierigkeiten und Perversionen litten, oft an das psychoanalytische Ambulatorium. Dies brachte mehr Hilfesuchende zum Ambulatorium, als Therapieplätze erhältlich waren. Jedenfalls konnte eine Auswahl der bestgeeigneten Fälle für psychoanalytische Therapie getroffen werden, was den Lehrkandidaten sehr zum Vorteil gereichte" (30:34f). Noch 1921 hatte der Ethnologe Bronislaw Malinowski "in keinem psychoanalytischen Bericht irgendeinen direkten und folgerichtigen Bezug auf das soziale Milieu" gefunden (17:25). Hier zwang das Ambulatorium eine neue Sichtweise auf. Reich erinnert sich: "Nach den sozialen Lebensverhältnissen der Kranken pflegte man weder in der Psychiatrie noch in der Psychoanalyse zu fragen. Daß es Armut und Not gab, wußte man. Aber das gehörte irgendwie nicht zur Sache. In der Poliklinik hatte man damit unausgesetzt zu ringen. Oft mußte zuerst soziale Hilfe geleistet werden. Breit klaffte mit einem Male der Unterschied zwischen Privatpraxis und Ambulanzpraxis" (21:63). Als Schnittstelle zwischen Psychoanalyse und "den Massen" hatte Bettauers Wochenschrift eine wichtige Funktion in der Weiterentwicklung und schließlichen Überwindung der Psychoanalyse durch Reich. Bettauer war ein persönlicher Freund Reichs.(5) Auch theoretisch war Bettauer ein Mitstreiter Reichs, wenn nicht sogar ein Vorreiter. So erörterte Bettauer gleich im ersten Heft "die erotische Revolution" - die ersten Anklänge an Reichs späteres Buch Die Sexuelle Revolution. Bettauer galt als "Apostel der neuen Moral", "Diener der Aufklärung" und Vorkämpfer der Frauenemanzipation. Dabei war seine Zeitschrift eine Mischung aus erotischen Titelbildern und Kurzgeschichten für den Kommerz einerseits und Bettauers soziologischen Theorien von der "Freien Liebe" andererseits. Dergestalt wurde Bettauer zwangsläufig zu dem Inbegriff des umstürzlerischen "jüdischen Pornographen". In der Hetzkampagne gegen ihn tat sich insbesondere die nationalreaktionäre Reichspost hervor, ein Organ der antisemitischen katholisch-konservativen "Christlich-Sozialen Bewegung". (Die Christlichsozialen stellten die Bundesregierung, die Sozialdemokraten die Regierung der Stadt Wien.) Aus der Reichspost scholl es Bettauer wörtlich entgegen: Sudelflut, literarische Kloake, Schmierantenblatt, Sudelliteratur, Ungeziefer, Schundliteratur, gewerbsmäßige Pornographie. Murray G. Hall schreibt in seiner Untersuchung über den Fall Bettauer: "Im Lager der Christlichsozialen, Deutschnationalen und Nationalsozialisten (...) war Hugo Bettauer zu einem 'Dämon', zum Inbegriff des Bösen, zum jugendverderbenden Monstrum hochstilisiert worden."(6) Am 10.3.1925 ging der arbeitslose Zahntechniker Otto Rothstock (Jahrgang 1904) in die Redaktion von Bettauers Wochenschrift und erschoß Bettauer. Durch die Reichspost und NS-Schrifttum aufgestachelt, betrachtete Rothstock diesen "jüdischen Hetzjournalisten" als "Hochverräter an meinen Volksgenossen". Die Wochenschrift führe, wie Rothstock während der Untersuchungshaft zu Protokoll gab, "zur Perversität im Geschlechtlichen verkehr, - und die Perversität zur Degenerierung - erkrankung des Körpers und Geistes. - Ich weiß das die heute Sittenloß erzogene Jugend, - einmal eine noch schlechtere Erzieht, und das Deutsche Volk in einigen generationen Verbestalisiert wird" (sic!). Dieser Mord an dem "schweinischen Juden" Bettauer stellte den Höhepunkt der nationalen Bewegung zur moralischen Wiederaufrüstung nach dem Zusammenbruch von 1918 dar (1:273). In einem aufsehenerregenden Prozeß wurde Rothstock wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen. Als Zwangsmotiv wurde ihm seine Absicht zugute gehalten, die Jugend vor dem Sittenverderber Bettauer zu schützen. Es war eine heroische selbstlose Tat. Eines von Bettauers Opfern hatte sich gewehrt. Rothstock war der Held der gesamten Rechten. Noch in den 1980er Jahren lebte er in Hannover und rühmte sich seiner Tat - er würde es noch einmal tun - und verwies dabei auf die Pornoflut, gegen die er sich als erster gestemmt habe. Wie Reich feststellte: "Unbewußte Sehnsucht nach sexueller Lebensfreude und sexueller Reinheit bei gleichzeitiger Angst vor der natürlichen und bei Abscheu vor der perversen Sexualität ergibt faschistisch-sadistischen Antisemitismus" (21:184). Rothstocks Tat war der erste Mord an einem Juden, der unter dem Banner des Nationalsozialismus verübt wurde. Bettauer war faktisch das erste Opfer des Holocaust! Daß der erste Täter freigesprochen und sogar zum Helden gemacht wurde, signalisierte den Nazis, daß ihren Vernichtungsabsichten keine generelle Ablehnung entgegenstand. Rothstock öffnete den Weg. Der Freispruch wurde von dem Wiener Rechtsanwalt Dr. Walter Riehl erstritten. Riehl, ein ehemaliger Sozialdemokrat, war Leiter des "Deutschnationalen Blocks", einer der damaligen drei Zweige des zersplitterten Nationalsozialismus in Österreich. 1918 hatte Riehl (Jahrgang 1881) die "Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei" (DNSAP) gegründet, die dann 1923 in Riehls "Deutschnationalen Block" und eine "Schulzgruppe" zerfiel, dazu gesellte sich der offizielle österreichische Ableger von Hitlers NSDAP. Übrigens hatte Februar 1920 die Hitlerbewegung das Hakenkreuzsymbol von Riehls DNSAP übernommen. Nach dem Fall Rothstock sollte Riehl durch einen weit spektakuläreren Justizskandal bekannt werden: Am 30. Januar 1927 hatte die SPÖ im kleinen burgenländischen Ort Schattendorf nachmittags zu einer Zusammenkunft aufgerufen. "Schon vor Beginn der Versammlung schossen aus dem naheliegenden Frontkämpfergasthof kaisertreu Gesinnte unprovoziert auf die Menge. Einem Kriegsinvaliden, also einem früheren Kriegskameraden, wurde der Schädel zertrümmert. Ein achtjähriges Kind wurde erschossen, ein sechsjähriges schwer, und vier Schutzbündler wurden leicht verletzt" (26:35). Am 14. Juli 1927 wurden die von Riehl verteidigten "Mörder von Schattendorf" freigesprochen. Daraufhin kam es am 15. Juli zur Erstürmung des Justizpalastes in dessen Verlauf über 100 Demonstranten erschossen wurden. Der Justizpalast wurde in Brand gesteckt. Dazu schreibt Hall: "Der fragwürdige Prozeß gegen Otto Rothstock trug sicher ebenso wie die 'Schattendorfer Urteile', die zum Justizpalastbrand führten, zur Verunsicherung eines großen Teils der Bevölkerung bei, der den Glauben an die Gerechtigkeit und ihre Institutionen zumindest in diesen Staat verlieren mußte" (10). Und Reich schreibt zum Justizpalastbrand: "Alle hielten es für eine gerechte Antwort auf den Freispruch der zwei Heimwehrfaschisten, die einen Arbeiter und einen Jungen grundlos erschossen hatten und nun freigesprochen worden waren. Das war nicht objektive Gerechtigkeit, sondern einfach Paktieren mit Mord" (26:38). Auch Reich gehörte zu denen, die von den juristischen Erfolgen Dr. Riehls politisiert wurden. Die Skandale, die in den Wiener Ereignissen des 15. Juli 1927 kulminierten, sollten Reich in den Kommunismus treiben. Sein politisches Engagement führte ihn 1930 nach Berlin. Hier stand er in der Sexualpolitik den gleichen Problemen der faschistischen Massenbeeinflussung gegenüber wie zuvor in Wien: Ehe, Familie, Rasse, Sittlichkeit, Ehre (26:162). Um dem von kommunistischer Seite etwas entgegnen zu können, rief er unter den Fittichen der KPD eine landesweite sexualpolitische Organisation ins Leben. Die Wiener Reichspost, die nach Bettauers Erledigung unverdrossen den Kampf gegen den "moralischen Verfall durch Judentum und Kulturbolschewismus" weiterführte, verfolgte nun auch Reichs Tätigkeit aufmerksam. Am 4. Januar 1932 berichtete sie ausführlich über den "'spezialisierten' Kampf gegen die christliche Moral, der alles auf den Kopf stellen, die Tugend als Sünde, die Sünde als Tugend hinstellen will, besonders auf dem Gebiet der Sexualfrage." (Der Leser versteht: Satan und seine Horden sind am Werk!) In Deutschland gebe es bereits jede Menge "Sexualreformvereine" mit über 200 000 Mitgliedern, die die KPD zu einem einheitlichen Verband zusammenführen will. "Mit dieser Einigung ist der jetzt in Deutschland wirkende Wiener Kommunist Dr.med. Wilhelm Reich betraut, der bereits einen Einheitsverband mit über 30 000 Mitgliedern zusammengebracht hat." Diese Bewegung solle jetzt auch nach Österreich übergreifen, wozu die ortsansässige "Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung" zu einem Vortrag Reichs über "Sozialpolitik und Kulturreaktion" geladen habe. "Seine mehr als zweistündigen Ausführungen waren eine einzige schamlose Verunglimpfung der Familie. Aus Gründen der primitivsten Schicklichkeit können wir seine Darstellung nur andeutungsweise behandeln. (...) Zum Schlusse wurden die Zuhörer aufgefordert, schriftliche Anfragen zu richten, die der Vortragende sofort beantworten werde. Es liefen so viele Anfragen ein, daß deren Beantwortung über eine Stunde dauerte. Es war ein widerwärtiges Schauspiel!" In der reaktionären Reichspost kamen dieselben Befürchtungen zum Ausdruck, wie sie imgrunde auch die "fortschrittlichen" Sozialdemokraten Tandler und Kautsky jr. hegten. Noch im selben Jahr, 1932, reihte sich auch die "revolutionäre" KPD ein: im Namen von Klasse, Sittlichkeit und proletarischer Ehre wendete sie sich von Reich ab. Ein kommunistischer Arzt: "Reich will aus unseren Organisationen Vögelorganisationen machen! Das ist ein Verbrechen an unserer Jugend, die unsere Zukunft ist" (26:192). Wären diese Kommunisten an die Macht gelangt, hätten sie sowjetischer Erfahrung folgend Reich früher oder später an die Wand gestellt. Doch der "deutsche Lenin", Hitler, kam an die Macht. Nach dem Reichstagsbrand entging Reich der Verhaftung und dem Schicksal, in SA-Kellern zu Tode gefoltert zu werden, "nur dadurch, daß die faschistischen Listen nach den offiziellen Ämtern angelegt waren, die die zu Verhaftenden bekleideten. Ich hatte aber nie ein offizielles Amt bekleidet" (26:197f). Mit seinem österreichischen Paß konnte er mit mehr Glück als Verstand nach Wien entkommen. Genauso knapp sollte er später den Nazis endgültig entgehen, verließ er doch zwei Wochen vor Kriegsausbruch Norwegen auf dem letzten Schiff, das nach Amerika ging. Am 5.5.1933, als Reich, nach einigen Wochen Aufenthalt in der Stadt, Wien schon längst wieder verlassen hatte, berichtete die Reichspost, daß Reich bis zu den Märztagen (Hitlers Machtergreifung) in seinem "Einheitsverband" bereits 40 000 Mitglieder vereinigt habe. Nun versuche er die in Nazideutschland verfemte "Sexualreformbewegung" nach Wien zu transferieren. Dazu die Reichspost: "Hände weg von Österreich!" Der gleichnamige Artikel endet: "Sache der zuständigen Stellen wird es sein, diesen Herrschaften klar und unzweideutig zu erklären, daß Österreich, daß Wien Gott sei Dank nicht mehr der geeignete Boden für eine solche 'Tätigkeit' ist." Reich war mittlerweile von Wien nach Kopenhagen gezogen. Walter Kolbenhoff, der Reich aus Berlin kannte und in der dänischen Emigration wiedertraf, erinnert sich: Reich "emigrierte nach Dänemark - und mußte nicht lange darauf auch Dänemark wieder verlassen. Ein Gejagter also, Ahasver, der oft seine Heimat wechseln mußte; nach Dänemark kam Schweden, dann Norwegen und schließlich die Vereinigten Staaten von Amerika. Obendrein war er polnischer [will sagen: galizischer] Jude, so ziemlich das unglücklichste, was man in diesen Jahren sein konnte. Die Dänen verboten ihm nicht die Einreise, aber sie verweigerten ihm nach einigen Monaten die Aufenthaltsgenehmigung. (Natürlich nicht aus antisemitischen Gründen.) Die größte konservative Zeitung Dänemarks Berlingske Tidende schrieb, er solle das Land verlassen, damit 'einer dieser deutschen sogenannten Sexualwissenschaftler sich nicht mit unseren Männern und Frauen abgibt und sie zu dieser perversen Pseudowissenschaft (der Psychoanalyse) bekehrt'" (15:242f). "Kolbenhoff" ist das Pseudonym, das Reich in Dänemark Walter Hoffmann (1908-1993) verpaßte, als dieser in Reichs eigens dafür gegründeten literarischen "Trobris Verlag" 1933 seinen autobiographischen Roman Untermenschen veröffentlichte.(7) In seiner Verlagswerbung schrieb Reich: "Walter Kolbenhoff, das ist ein Pseudonym. Er war Arbeiter und Vagabund, dann schrieb er Reportagen in deutschen Arbeiterzeitungen, bis der Sieg des Nationalsozialismus seine Arbeit stillegte. Er war im Gefängnis, er vagabundierte wieder, er lebte illegal in Berlins undurchdringlichem Steinurwald. Nun ist er in Dänemark, wo er diesen, seinen ersten Roman geschrieben hat. Untermenschen ist ein Roman aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Kolbenhoff schreibt nicht über die Herrenmenschen, die jetzt regieren, sondern über die Millionen von 'Untermenschen', die auf dem Grunde leben, tief unter der Herrenmoral: Das wirkliche Deutschland, das so gründlich 'erzogen' wurde in Schule und Heim, daß es jede Moral verleugnen mußte, das so gründlich mißhandelt wurde von Arbeitslosigkeit und Sklavendasein, daß es jede Illusion verlor. Untermenschen ist einer der gewichtigsten Beiträge zum Verständnis der Frage: Warum trat nicht die gesamte deutsche Arbeiterklasse einig zur Verteidigung gegen die siegende Reaktion auf? Der Held des Buches ist unheilbarer, überzeugter Vagabund. Seine Geliebte ist ein professionelles Straßenmädchen, seine besten Freunde sind Mörder und sein Ideal ein Zuhälter. (...) Dieses Buch gleicht keinem anderen. Es ist selbsterlebt. Das merkt man an dem Geist, der aus ihm spricht. (...) Der Mann, der erzählt, ist desillusioniert, das Buch ist zynisch, enthüllt rücksichtslos ehrlich all das Rohe und Brutale auf dem Grunde unserer Sinne und doch gibt es ein ums andere Mal Stellen, wo das feinste Verständnis für die kleinen Dinge, die zarteste Rücksicht auf unglückliche Mitmenschen, ein strahlender, charmierender Humor und eine barocke, urgesunde Laune durchbrechen, über allem, trotz allem, hinter allem. Hier ist Lebensverständnis. Nahe-dran-sein, ganz dicht am Leben. Das Buch ist zugleich rücksichtslos roh und unendlich fein und schonend. Es ist eine Mischung, die wohlbehütete und wohlerzogene Menschen nicht in sich haben. Aber so sind 'Untermenschen' (...) zerschlagene und mißhandelte 'Untermenschen'" (14). Hier beschreibt Reich genau jenes "biologisch degenerierte" Lumpenproletariat, das sowohl die Nationalsozialisten als auch Sozialdemokraten wie Tandler "ausmerzen" wollten - und zwar ganz im Sinne der damaligen universitären Anthropologen, Genetiker und "Rassenhygieniker". Reich jedenfalls bewegte sich in wirklich jeder denkbaren Hinsicht gegen den Geist der damaligen Zeit: über Malmö, Schweden nach Oslo, Norwegen verschlagen, betrieb er zwischen 1934 und 1939 "typisch jüdische" Wissenschaft. Er entwickelte die Charakteranalyse zur Orgasmotherapie ("Vegetotherapie"), woraufhin der Adlerianer ("Gemeinschaftsgefühl") Ingjald Nissen in der sozialdemokratischen Arbeiterbladet von einer "quasi-medizinischen Entspannungsanalyse" sprach, die "nur zur sexuellen Entspannung führt". Des weiteren untersuchte Reich die "bio-elektrische Funktion von Sexualität und Angst" und die "Orgasmusformel". Das letztere leitete ihn zur Entdeckung der "Bione" und zur Biogenese, d.h. die Entwicklung vollwertiger Einzeller aus Orgonenergie-Bläschen, bzw. "Bionen". Nicht nur, daß hier Seele und Geist auf Sexualität reduziert wurden, sogar die Schöpfung des Lebens selbst wurde mit der Orgasmusformel erklärt. Wirklich alles mußte dieser "Jude" in den Schmutz ziehen! Als diese Forschungen 1937 bekannt wurden, kam es zu einer Pressekampagne gegen Reich. In den Zeitungen erklärten z.B. der Krebsforscher Professor Leif Kreyberg und der Bakteriologe Professor Theodor Thjötta, die Reichs Bion-Präparate untersucht hatten, Reich habe keine Ahnung von Biologie. Dabei ging Kreyberg sogar so weit, Reichs Doktortitel in Frage zu stellen. Für ihn war es nicht "Dr. Reich", sondern "Herr Reich"; ein Mann, der einer gefährlichen Scharlatanerie frönte. Seine Bione und die sich daraus entwickelten Protisten wären einfach das Resultat mangelnder Sterilisation. In seinem Artikel über diese "Fascist Newspaper Campaign in Norway" schreibt dazu der skandinavische Journalist Gunnar Leistikow: "Dies und mehr dieser Art war natürlich Wasser auf die Mühlen aller möglichen faschistischen Journalisten, denen auf diese Weise neue Munition gegen diesen 'jüdischen Pornographen der schlimmsten Sorte' geboten wurde. Zeitungen wie Morgenbladet und Tidens Tegn fingen an, Reich lächerlich zu machen, nachdem 'Professor Kreyberg seinen Ruf restlos zerstört hat und Professor Thjötta gezeigt hat, daß seine Experimente schlicht dilettantisch waren'. Reichs wiederholte Versicherungen waren vergeblich, er habe nie die Behauptung aufgestellt, 'Leben zu erzeugen', sondern im Labor nur einen fortlaufend sich vollziehenden Prozeß aufgedeckt. Doch seine Gegner fuhren fort, ihn einen 'selbsternannten Schöpfer' zu nennen und die einflußreiche faschistische Tidens Tegn brachte sogar einen Leitartikel mit der Schlagzeile 'Gott Reich'" (16). Das Adjektiv "faschistisch" in Titel und Text des zitierten Artikels stammt nicht von seinem Autor Leistikow, sondern wurde eigenmächtig von Reich vor der Veröffentlichung eingefügt. Leistikow protestierte, daß es hier doch um sozialdemokratische Zeitungen in einem von der Sozialdemokratie dominierten Lande ging. Doch es sollte klargeworden sein, daß Reichs herausgeberischer Eingriff, nicht nur vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen mit Tandler und anderen, verständlich, sondern auch berechtigt war.
Literatur
Fußnoten
(1) Das ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten, denn genau so wurde auch zur Zeit der "Machtergreifung" gesprochen! Fast wortwörtlich. C.G. Jung verkündete 1934 im Zentralblatt für Psychotherapie: "Meines Erachtens ist es ein schwerer Fehler der medizinischen Psychologie gewesen, daß sie jüdische Kategorien unbesehen auf den christlichen Germanen anwandte; damit sah sie nämlich das kostbare Geheimnis des germanischen Menschen, seinen schöpferisch-ahnungsvollen Seelengrund, als kindisch-banalen Sumpf. Diese Verdächtigung ist von Freud ausgegangen. Er kannte die germanische Seele nicht, so wenig wie alle seine Nachfolger sie kannten. Hat sie die gewaltige Erscheinung des Nationalsozialismus, auf die die ganze Welt mit Erstaunen blickt, eines Besseren belehrt? Wo war die unerhörte Spannung und Wucht, als es noch keinen Nationalsozialismus gab? Sie lag verborgen in der germanischen Seele, in jenem tiefen Grund, der alles andere ist als der Kehricht unerfüllbarer Kinderwünsche" (z.n. 1).
(2) Jakow Bljumkin war ein enger Vertrauter Trotzkis. Der ehemalige Sozialrevolutionär hatte 1918 den deutschen Botschafter Mirbach in Moskau ermordet, zu einer Zeit als die Bolschewiki mit dem Deutschen Reich mehr oder weniger verbündet waren. Er wurde von den Sowjets zum Tode verurteilt, doch Trotzki setzte sich persönlich für ihn ein. Bljumkin wurde in den Stab seines Gönners aufgenommen, um seine Schuld "im Kampf zur Verteidigung der Revolution" wiedergutzumachen. Später wurde er GPU-Agent.
(3) Im folgenden beziehe ich mich auf Unterlagen (Anzeigen, Artikel und Briefe), die Dr. Stefan Müschenich 1990 in der Redaktion des Express zusammengetragen hat.
(4) Im folgenden beziehe ich mich, was Tandlers Leben und Lehre betrifft, auf Karl Sablik: Julius Tandler (28) und Doris Byer: Rassenhygiene und Wohlfahrtspflege (3).
(5) Leider ist es mir nicht gelungen, diese meine Behauptung zu belegen. Ich kann mich nur an eine schon einige Jahre zurückliegende Fernsehsendung über Bettauer erinnern, wo ein Wiener Journalist sich daran erinnerte, daß Reich und Bettauer eng befreundet waren und der Mord an Bettauer Reich zutiefst erschüttert hatte.
(6) Im folgenden stütze ich mich hauptsächlich auf Hall: Der Fall Bettauer (10), sowie auf Karl Fallend: Wilhelm Reich in Wien (6:108-111).
(7) 1979 erschien eine Faksimileausgabe im Verlag europäische ideen/Verlag Klaus Guhl in Berlin mit einem aktuellen Vorwort von Kolbenhoff, der nach dem Krieg ein bekannter Schriftsteller geworden war (14).
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