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BUCHBESPRECHUNGEN

 

 

"REICHIANISCHE" BÜCHER (Teil 1)

Peter Nasselstein

 

Nach Reichs Tod 1957 sah es fast so aus, als würde die Orgonomie, jedenfalls als gesellschaftliches Phänomen, in der Versenkung verschwinden. Doch im Verlauf des "Aufbruchs der 1960er Jahre" kam es als Begleiterscheinung der Renaissance von Freud und Marx auch zu einer Art "Reich-Renaissance". Um das Jahr 1990 herum, bezeichnenderweise zu einer Zeit als Freud endgültig als veraltet und widerlegt galt und nicht nur der militärisch bewaffnete Marxismus kollabierte, war ein erneutes Interesse an Reich zu konstatieren, was sich an einer Anzahl von Werken zeigte, in denen Reich eine, wenn nicht sogar die, zentrale Rolle spielte. Es folgen 16 Besprechungen derartiger Bücher. Die Auswahl ist zufällig und deshalb wohl ziemlich repräsentativ.

Bevor es zu einem dritten Anlauf kommt, Reich im öffentlichen Bewußtsein endlich jenen Platz einzuräumen, der ihm gebührt, wäre es angebracht aus den Fehlern zu lernen, die vorher begangen wurden. Die beiden erwähnten Wiederbelebungsversuche hatten viel mit dem gemein, was Reich in einem anderen Zusammenhang als "mißglückte biologische Revolution" bezeichnet hat (33). Wir hatten es sozusagen mit Blauem Faschismus zu tun: die Vereinnahmung (auch) des späten Reich durch den Roten Faschismus und eine Umdeutung der Orgonomie im Sinne einer "neuzeitlichen Gnosis" (Schwarzer Faschismus), die Reich angeblich vertreten habe.

 

TEIL 1:

Den Anfang machen Versuche, dem breiten deutschen Publikum Reich zu seinem hundertsten Geburtstag von neuem nahezubringen durch die Übersetzung und Aufarbeitung seines Spätwerks:

1. Reich "übersetzt"
2. Lassek: Orgon-Therapie (1997)

Darauf folgen Besprechungen, die sich mit der Aktualität Reichs "am Ende des Zeitalters der Utopien" beschäftigen. Die Reihe kulminiert in einem erhellenden Haßausbruch von Anhängern Alfred Adlers:

3. Maaz: Der Gefühlsstau (1990)
4. Beeler: Der Irrationalismus in der Menschenmasse (1990)
5. Robinson: The Freudian Left (1969, 1990)
6. DeMarchi: Der Urschock (1988)
7. Kornbichler: Wilhelm Reich (1989)

 

TEIL 2:

Eine Uminterpretation des Reichschen Spätwerks im Sinne von C.G. Jung und Rudolf Steiner zeigen folgende Bücher:

8. Conger: Jung & Reich (1988)
9. Mann/Hoffman: Wilhelm Reich (1980, 1990)
10. Konitzer: New Age (1989)
11. Körner-Wellershaus: Wilhelm Reich (1993)

Rudolf Steiner führt uns zur "Grauzone in der Wissenschaft":

12. Constable: The Cosmic Pulse of Life (1976, 1990)
13. Collins: The Circlemakers (1992)
14. Shallis: Elektro Schock (1992)
15. Wilson: Die neue Inquisition (1992)
16. Cantwell: The Cancer Microbe (1990)

Literaturverweise finden sich am Ende der beiden Teile. Die Seitenzahlen in den einzelnen Abschnitten beziehen sich auf das jeweils zu besprechende Buch.

 

TEIL 3:

Als Anhang weitere Besprechungen:

Turner: Adventures in the Orgasmatron (2011) und weitere Besprechungen, pdf-Datei
Wilson: The Quest for Wilhelm Reich (1981)
Kritik an Wilhelm Reich
Breger: Freud. Darkness in the Midst of Vision (2000)
Neo-Psychoanalyse
Hoevels: Wilhelm Reichs Beitrag zur Psychoanalyse (2001)
Peglau: Unpolitische Wissenschaft? (2013)
Schnack: Faschismus in uns (1998)
Rackelmann: Der Konflikt der Sexpol mit der KPD Anfang der 30er (1992)
Mitchell: Psychoanalyse und Feminismus (1974)
Igitt: Sex, Schlamm und Ackerknecht
Igitt: Bornemann
Der Hintergrund der deutschen Orgonomie
emotion (Teil 1: Marxismus)
emotion (Teil 2: Therapie)
Ströme
Ein zorniger Brief über "Reichianische" Therapeuten (Satire)
Zwei Modjus als "Therapeuten"
emotion (Teil 3: Spiritualität)
Tantra (1996/1997)
Skan Reader (1996)
Trimondi: Hitler, Buddha, Krishna (2002)
Fischer: Der Engel-Energie-Akkumulator nach Wilhelm Reich (1997)
Harnisch: Orgonenergie: Geballte Lebensenergie (1993)
Orgongeräte
Ein Brief an Henning van Brokenkrött (Satire)
Lesebegleitungen zu den späten Schriften Wilhelm Reichs (1995-1997)
DeMeo/Senf: Nach Reich (1997)
Svoboda et al.: Wer hat Angst vor Wilhelm Reich? & Der Fall Wilhelm Reich
The Mass Psychology of Fascism (1970) und andere Übersetzungen
Reich: Where’s the Truth? (2012)
Corrington: Wilhelm Reich. Psychoanalyst and Radical Naturalist (2003)
Strick: Wilhelm Reich, Biologist (2015)
Annals of the Institute for Orgonomic Science (1984)
Jones: Artificers of Fraud (2013)
Fuckert: Lebenskraft und Krankheitsdynamik (2012)
Maglione: Methods and Procedures in Biophysical Orgonometry (2012)
Die Natur des Orgons
Haldane: Pulsation (2014)
Hellmann: Perspektiven der Lebensenergieforschungen (2012)
Diedrich: Naturnah Forschen (2000)
Gershon: Der kluge Bauch (2001)

 

 

1. Reich "übersetzt"

Bis heute liegen drei Übersetzungen von Reichs Murder of Christ (31) ins Deutsche vor. Die erste ist 1976 in einigen wenigen Auszügen in Reichs Ausgewählte Schriften (36) erschienen. Die Übersetzer waren Liselotte und Ernst Mickel. In einer "Nachbemerkung" informiert der Verlag Kiepenheuer & Witsch: "Die Übersetzung wurde von einem Laien auf dem Gebiet der Orgonomie angefertigt und später mehrfach von weiteren Personen überarbeitet. Hierauf ist die Schwerfälligkeit mehrerer übersetzter Stellen zurückzuführen" (36:578).

Erwähnenwert ist auch, daß dann 1978 Bernd Laskas Übersetzung Christusmord (38) nicht in Reichs "Hausverlag" Kiepenheuer & Witsch erschienen ist, sondern bei dem dezidiert christlichen Walter-Verlag (bekannt durch seine Editionen der Werke C.G. Jungs) und bei Herder gedruckt wurde (wo die Setzer wegen einiger "schmutziger" Worte, die sie im Text ausmachten, die Arbeit verweigern wollten).

Bei Ullstein erschien 1983 ein Nachdruck, der Laskas Einleitung einfach wegließ und deshalb kurioserweise mit S. 25 beginnt (40). Laska konnte für den Ullstein-Druck einige (ca. 20) Stellen verbessern, auch das kurze Vorwort Reichs neu übersetzen. Anzumerken wäre auch, daß Higgins, seit 1959 Nachfolgerin der von Reich eingesetzten Nachlaßverwalterin Eva Reich, mittels eines US-Korrektors in Laskas Übersetzung häufig eingreifen ließ.

Es ist zu konstatieren, daß Reichs Englisch stellenweise besondere Probleme aufwirft, da er offensichtlich keinen Muttersprachler als Lektor heranzog. Das ist ein Grund, warum jeder "fachfremde" Übersetzer scheitern muß. Was Reichs Englisch betrifft sind vielleicht folgende Erinnerungen seines Schülers Elsworth F. Baker von Interesse: Ungefähr 1946 machte Baker nach einer Therapiesitzung eine humorige Bemerkung darüber, wie er sich nun fühlen würde, doch Reich hatte offensichtlich Probleme, die Worte richtig einzuordnen. "Er sagte, daß er erst Englisch lerne und die Sprache nicht gut beherrschen würde. Er fragte mich über einige Wörter und wie man bestimmte Konzepte in Worte kleiden könne. Ich fand jedoch, daß er viele englische Begriffe wußte, die mir unbekannt waren und er sich besser in Englisch ausdrücken konnte als ich selbst. Schon bald danach schrieb er auf Englisch und sagte von sich, daß er sogar auf Englisch denken würde" (1).

Anzufügen ist, daß Reich auf dem Gymnasium Englisch gelernt hatte, seine Kenntnisse Anfang der 1920er Jahre auffrischte, als er plante nach Amerika auszuwandern (siehe 43), daß er ab 1940 viele Eintragungen in seinem Tagebuch und andere kurze Texte in Englisch verfaßte und nicht zuletzt regelmäßig die Übersetzungen seiner deutschen Arbeiten mit seinem Übersetzer und engen Mitarbeiter Theodore P. Wolfe besprach.

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Der Neuübersetzung von Christusmord von 1997 (46) wurde vom Verlag Zweitausendeins ein kommentierendes Beiheft beigefügt, das von Peter Gäng und Ulrich Hausmann verfaßt wurde (14):

Gäng paßt Reich in die theologische Diskussion ein, indem er ihn in die mittelalterliche Tradition der deutschen Gottesseher einreiht; Meister Eckehart, Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg und ähnliches Zeugs. Natürlich konnte Gäng im vorgegebenen Rahmen nicht alles behandeln, aber es wäre doch angebracht gewesen, auch die dunkleren Seiten dieser Tradition auszuloten: Teufelswahn, Antisemitismus, verdeckte sadomasochistische Perversion, schizophrener Wahn. Stattdessen weht der hehre gottessucherische Weihrauch in die Hallen der Orgonomie hinein.... Reich hat sich mit dem Teufel im Abschlußkapitel der Charakteranalyse (42) und in Äther, Gott und Teufel (39) befaßt. Das fällt bei Gäng alles unter den Tisch und ein kastriertes Buch Christusmord wird für Jesus-Verrückte, Gottessucher, Schwärmer und Religionslehrer schmackhaft gemacht.

Der Aufsatz von Hausmann ist auf den ersten Blick ganz passabel. Er bringt Reich in die "emazipatorische" polit-"wissenschaftliche" Diskussion ein. Aber alles Wesentliche wird als anstößig, als Sektierertum abgetan. Dafür ist typisch, daß sich Hausmann ausgerechnet dort aufregt, wo Reich nicht den "kleinen Mann auf der Straße", sondern rosarote Intellektuelle wie Hausmann infrage stellt (14:Fußnote 27).

Daß Reich insbesondere Mystiker á la Gäng und Linksliberale á la Hausmann angreift, wird so vergessen gemacht. So etwas nennt sich dann "kritische Aufarbeitung". Reich wird sogar in die pathologische Ecke gestellt: Hausmann will einen anstößigen quasi "faschistischen/stalinistischen" Reich von einem angeblich immer noch aktuellen Reich trennen, der Machtstrukturen infrage stellt, statt neue (orgonomische) zu errichten. Aber der Anstoß erregende Reich ist der wirklich interessante - da er im besten Sinne des Wortes "unzeitgemäß" ist: er widerspricht dem relativistischen Zeitgeist.

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Vor diesem Hintergrund ist interessant, daß sogar die Neuübersetzung selbst Reich verfälscht und zwar ganz im Sinne von Gäng und Hausmann. Das ist um so bemerkenswerter, weil die Übersetzerin Waltraud Götting durchaus fähig zu sein scheint. Beispielsweise erhielt sie 2003 den Übersetzerpreis des Verlags C.H.Beck, die vielleicht renommierteste Auszeichnung für deutsche Übersetzer.
(1)

Im folgenden beziehen sich alle Seitenangaben auf Göttings Neuübersetzung. Die angegebenen Stellen sollte man im Zusammenhang lesen! Alle kursiv wiedergegebenen Texte stammen aus der amerikanischen Originalausgabe von 1953.

Reich sagt, daß Christus die genitale Liebe verstand und den Fick ablehnte. In Göttings Übersetzung fährt Reich kryptisch fort: "Eine solche Erkenntnis ist bei Paulus ebenfalls nicht anzunehmen" (S. 170). Laska übersetzt: "Daß auch Paulus ein solches Bewußtsein hatte, scheint unwahrscheinlich." Und im Original lesen wir: "In Paul, such awareness seems equally unlikely." Hier, wie an vielen ähnlichen Stellen, sieht man, daß Laska wirklich mitdenkt, während Götting einfach nur mechanisch, lieblos und ohne Sprachgefühl übersetzt. Beispielsweise "bemächtigte sich", in Göttings Übersetzung, "die Psychiatrie der Menschheit" (S. 303), bei Laska "macht sich die Psychiatrie die Menschheit zum Objekt".

D.H. Lawrence habe Jesus in einem "christlicheren Licht" erscheinen lassen (S. 260). Bei Laska ist es ein "christusgemäßeres Licht". Reichs Satz "The science of man has come closer to the cosmic view of man in Christianity (...)," wird bei Götting zu: "Im Christentum ist die Wissenschaft einer kosmischen Perspektive des Menschen näher gekommen (...)" (S. 303). Laska übersetzt: "Die Wissenschaft vom Menschen ist einer kosmischen Sicht des Menschen näher gekommen (...)." In der Götting-Übersetzung (S. 44) wird "tierisch" mit "sexbesessen (sic!), bösartig, verhärtet und erstarrt" gleichgesetzt ("du widerliches Tier in Menschengestalt") - wo doch Reich das genaue Gegenteil meinte, wie bei Laska auch klar wird.

Reich schrieb über die Jünger Jesu: "Really, they are without any contact and cannot establish contact with his teachings." Götting macht daraus "vollkommen beziehungslos" (S. 89), während sie bei Laska "ohne jeglichen Kontakt" sind. Wäre Götting die orgonomische Begrifflichkeit geläufig, würde sie z.B. nicht vom "Leuchten in den sensorischen Empfindungen der Haut" (sic!) sprechen, die "dem echtem Arzt die Gesundheit eines Menschengeschöpfes" zeigt. "Bei Fieberzuständen intensiviert sich das Leuchten (...)" (S. 252). Ohne den Begriff "Erstrahlung" ist das alles Unsinn.

Was mag wohl folgender Satz zu bedeuten haben? "Wir haben darüber hinaus eine Menge nebensächlicherer Dinge gelernt, so zum Beispiel, daß die Vorstellung von Göttern und Göttinnen, die Vater und Mutter symbolisieren, zur Darstellung des frühkindlichen elterlichen Umfeldes herangezogen werden" (S. 95). Laska übersetzt kontaktvoll: "Wir haben auch viele andere, weniger wichtige Dinge erkannt, z.B., daß die späteren Vorstellungen von Göttern und Göttinnen davon bestimmt werden, auf welche Weise das Kleinkind seine frühe elterliche Umgebung erfährt." Götting schreibt über Christus: "Aber schon hundert Jahre nach seinem gewaltsamen Tod wird die Szene von den Wundern beherrscht, nicht aber von seiner Widerlegung der Wundertaten" (S. 114f). Was soll das bedeuten? Laska: "Aber schon hundert Jahre nach seiner Ermordung werden die Wunder die Szene beherrschen und nicht seine Ablehnung des Wunderwirkens."

Auch nach mehrmaligem Lesen habe ich den folgenden Satz einfach nicht kapiert: "Du hast dir jahrhundertelang über das Rätsel des Christusmordes den Kopf zerbrochen, und es ist dein Verschulden, wenn du des Rätsels Lösung findest, die dir offenbart, daß du selbst der wahre und einzige Christusmörder bist" (S. 229). Bei Laska steht klar und verständlich: "Jahrhundertelang hast du über das Rätsel der Ermordung Christi gebrütet, und du bist schuld, wenn die Lösung des Rätsels dich als den einzigen und tatsächlichen Christusmörder bloßstellt." Das Original: "You kept brooding over the riddle of the Murder of Christ for centuries and it is your failure to find the answer which revealed you as the true and only murderer of Christ."

Im Zusammenhang unsinnig steht bei Götting: "Ihr sagt: 'Es ist sehr gefährlich, vollkommene Freiheit der Meinungsäußerung und des Handelns zu fordern. Wer sollte entscheiden, was richtig und was falsch ist?'" (S. 314). Laska übersetzt korrekt das diametrale Gegenteil: "Du sagst: 'Es ist gefährlich, das Problem der völligen Freiheit des Ausdrucks und der Tat zu berühren. Wer sollte darüber entscheiden, was gut ist und was böse?'" "You say: ‚To touch complete freedom of expression and action is very dangerous. Who should be the judge as to what is good and what is bad?'"

Es wäre zu ermüdend, so fortzufahren, deshalb nur noch zwei kurze Beispiele: Götting: "Emotionale Pest - Eine 'Pest', mir gefällt nichts" (S. 307). Laska: "Emotionale Pest - eine 'Pest', was mir nicht paßt". Reich: "Emotional Plague - A 'plague', everything I don't like." Bei Götting endet die Beschreibung des Christusmordes mit einem Satz, der das ganze Buch ad absurdum führt, das ganze Buch widerruft: "Lassen wir die Finger davon, unbedingt!" (S. 193). Bei Laska steht im richtigen ironischen Tonfall, der die Musik macht: "Nur niemals berühren!" "Don't touch it, ever!"

In der Götting-Übersetzung steckt eine teuflische Ironie. Ich zitiere: "Er äußert sich in klaren Worten über kristallklare Zusammenhänge. Aber sie haben kein Ohr für diese Worte. Sie werden seine Worte vielmehr falsch deuten, und darum muß er sterben" (S. 115). Reich beklagt sich, daß die Pest "jeden klaren Gedanken entstellt" (S. 142). "Du tust mir und meinen Worten dasselbe an, was du mit allen Dingen tust, die du anfaßt" (S. 243).

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Die Leistung bei der Neuübersetzung des auf Amerikanisch geschriebenen Murder of Christ (31) entspricht den (teilweise grob fehlerhaften) Neuübersetzungen der deutschen Werke Reichs, die in den USA die von Reich autorisierten ursprünglichen Übersetzungen von Theodore P. Wolfe ersetzt haben, der unter der lückenlosen Aufsicht und Anleitung Reichs gearbeitet hatte. Desinteressierte professionelle Übersetzer beraubten Reich seiner authentischen Stimme. Sie konnte nicht mehr wirken, entsprechend verpuffte das Interesse des Publikums schnell.

Weitaus verheerender ist die deutsche Übertragung von Myron Sharafs Reich-Biographie Fury on Earth (52) durch einen "Reichianer", der alles andere als ein professioneller Übersetzer ist. Diese Übersetzung, die unter der grotesken Überschrift Der heilige Zorn des Lebendigen (53) erschienen ist, zeigt ungewollt, wie sogenannte "Reichianer" wirklich ticken:

"Compulsive character" wird mit "triebhafter Charakter" übersetzt (S. 102), also das genaue Gegenteil des triebgehemmten Zwangscharakters. Der "Reich" des Heiligen Zorns des Lebendigen "betrachtete die Schizophrenie als Überbrückung (sic!) eines Bruches zwischen Gefühl und Wahrnehmung" (S. 378), statt "split between sensation and perception". "Indiscretions" wird nicht etwa mit "Unbesonnenheiten", sondern mit "Indiskretionen" übersetzt (S. 388) und so Sharafs wichtige Darstellung der Mechanismen der Emotionellen Pest zerstört.

Ich grübelte, ob man "hypersensitive Zustände" mit dem Orgonenergie-Akkumulator behandeln kann (S. 370) - und was das überhaupt ist, bis ich im Original nachschlug: "hypertensive states". Aus "Depletion at the extremities", aufgrund des Energierückzuges im Zusammenhang mit der Fallangst des Babys, wird "Erschöpfung an den Extremitäten" (S. 392). Warum nicht einfach übersetzen: "Energierückzug von den Extremitäten und dadurch Verlust des Gleichgewichtsgefühls"? Nein, der "Übersetzer" muß das Gegenteil daraus machen und es so darstellen, als hätte sich die Energie an den Extremitäten "erschöpfend" verausgabt.

Wir lesen über Reichs OIRC (Orgonomic Infant Research Center): "Einerseits könne das (Baby im Bauch, PN) die Genitalität der Mutter stärken und andererseits - durch den Anstieg des bioenergetischen Niveaus - die Angst vermindern" (S. 398). Im Original steht das exakte Gegenteil: "In one case, it could enhance the mother's genitality; in another, it could decrease it out of anxiety from the rise in the bio-energetic level."

Über Nachfolgeprojekte zum OIRC schreibt der "Übersetzer": "Rein reichianisch sind die Faktoren, die den oralen Orgasmus, die Lösung von Panzerblockaden bei Säuglingen und Kindern und das Konstatieren der Genitalität in der Kindheit betreffen" (S. 401). Man vergleiche dies einmal mit dem Original: "His concepts and findings concerning such factors as the oral orgasm, the dissolution of armor blocks in infants and children, and the affirmation (!, PN) of childhood genitality are clearly unique to him and his students."

Interessant ist die Übersetzung des folgenden Satzes. Reich erklärt die Betonung und Hervorhebung seines Namens: "It was identified with the most uncompromising expression of his concepts and he wanted that quality to come through." Reich stelle also, so Sharaf, den Namen "Wilhelm Reich" in den Vordergrund, weil er eindeutig für die Orgasmustheorie und die Entdeckung des Orgons stand. Der "Übersetzer" macht daraus: "Er werde so mit dem kompromißlosen Ausdruck seiner Gedanken identifiziert und er wollte, daß diese Qualität sich durchsetze" (S. 422). Das ist praktisch das Gegenteil dessen, was Sharaf, bzw. Reich gemeint hat!

Die soziopolitische Quintessenz von Christusmord faßt der "Übersetzer" wie folgt zusammen: "Konservative - in welcher Maskierung auch immer - gelangen schnell an den Punkt, an dem sie gegen die messianische Botschaft nach 'Recht und Ordnung' rufen" (S. 478). Daraus muß der deutsche Leser schließen, daß für Reich die verlogenen ("maskierten") Konservativen die Schurken im Stück sind. Doch Sharafs Satz sagt das exakte Gegenteil aus: "Conservatives in whatever guise have a point when they call for 'law and order' against the messianic message."

Erstaunt hat mich der Satz: "Er ließ sich voll darauf ein (auf die UFO-Geschichten, PN), da er seit langem geglaubt hatte, daß das Leben sich im Universum und nicht auf unserem Planeten entwickelt hatte" (S. 498). Das war mir wirklich neu! Kein Wunder, denn bei Sharaf steht etwas vollkommen anderes: "He was primed to respond, for he had long believed that life had developed in the universe and was not confined to our planet." Reich hat das Gegenteil dessen geglaubt, was in Der Heilige Zorns des Lebendigen suggeriert wird: Reich hatte aus den Bion-Experimenten geschlossen, daß sich Leben überall entwickelt, während hier das diametrale Gegenteil suggeriert wird, nämlich eine Art "kosmische Luftkeimtheorie"!

Es ist traurig, daß mit dieser "Übersetzung" die quasi offizielle Standardbiographie der Orgonomie für Deutschland verloren ist. Eine Biographie, which "is the story of life energy, shimmering with the same energy that inspired it" (Peter Reich). Eine Biographie, die ohnehin über kurz oder lang irgendein renommierter Verlag mit einer professionellen Übersetzung herausgegeben hätte. Jetzt ist sie für Jahrzehnte blockiert mit einer "Übersetzung", die diesen Namen nicht verdient und darüber hinaus in einem Verlag, dessen Programm wie eine Illustration meines Aufsatzes über den Blauen Faschismus wirkt: In der Verlagswerbung findet sich Sharafs Buch neben (ausgerechnet!) Rudolf Bahro und etwa Rosenbergs "Reichianischem" "Therapie"-Leitfaden Orgasmus, Duhms Der unerlöste Eros (sic!) und Machwerke wie Rettet den Sex oder Schlangenkult und Tempelliebe (Der Schlüssel zum Geheimnis sakraler Erotik) - "sakrale Erotik", nun wirklich das exakte Gegenteil der Orgonomie. Eine Reihe, in die sich allein schon vom Titel her Der heilige Zorn des Lebendigen harmonisch einpaßt.

 

 

2. Lassek: Orgon-Therapie (1997)

1930 traf Reich folgende Feststellung: "Eine sich allgemein durchsetzende wissenschaftliche und rationelle Betrachtung des Lebens wird die Altäre jeder Art von Gottheit zerstören; man wird nicht mehr gewillt sein, im Interesse einer abstrakten Kulturidee oder eines 'objektiven Geistes', oder der metaphysischen 'Sittlichkeit' Gesundheit und Lebensfreude von Millionen zu opfern." Hieran schloß er folgende Frage: "Werden sich noch Wissenschaftler - wie in unserem Zeitalter - dazu hergeben, die vernichtende zwangsmoralische Regulierung des menschlichen Lebens durch ihre 'wissenschaftlichen' Feststellungen zu stützen?" (32:155). Beklemmenderweise zeichnen sich Tendenzen ab, daß diese Frage sogar für die "Orgonomie" selbst zu bejahen ist.

Wie aus Reichs Aufzeichnungen aus den 1930er Jahren ersichtlich wird, sollte seine Bion-Forschung ein Beitrag im Kampf gegen die nationalsozialistische Mystik sein (47). Damals machte Reich im Zusammenhang mit seiner "Orgasmus-Formel" deutlich, daß das, was die "metaphysisch" orientierte Biologie bis dahin als "organisierende Intention" oder "Entelechie" bezeichnet habe, im Wechsel von Spannung - Ladung - Entladung - Entspannung zu suchen sei. Diese dem Leben eigentümliche Kombination rein physikalischer Einzelfunktionen steuere den Prozeß des Lebens. Damit konnten, wie Reich schrieb, "metaphysische Erklärungsprinzipien (...) durch die dialektisch-materialistische Formulierung der Lebensvorgänge ersetzt werden" (44:33). Vor diesem Hintergrund bestritt er, daß "das Lebendige ein vom Nichtlebenden völlig abgetrenntes, eigens metaphysisch gegebenes Gebiet" sei (44:74).

Heiko Lassek dreht in seinem Beiheft zu Reichs soeben zitierten Buch Die Bionexperimente (44) Reichs Lebensforschung in einen Beitrag zur Untermauerung des Mystizismus um (22). Lassek läßt sich über "lebensenergetische Grundprozesse" aus, die von "Wirkstrukturen jenseits der materiellen Welt" gesteuert werden (22:24). Offenbar würden, so Lassek, seine Mikrophotos von Bionen "die auf unbekannte Art und Weise in diese Präparationen hineinreichenden und hineinwirkenden Formgesetze der biologischen Welt paraphrasieren" (22:32).

Die gleichen Aussagen finden sich in Lasseks Orgon-Therapie, einem "Handbuch der Energiemedizin" (24), wo ebenfalls von überweltlichen "organisatorischen und informatorischen Wirkstrukturen" die Rede ist (S. 88). Die Lasseksche "Orgon-Therapie" öffne den Körper "für Wirkstrukturen anderer Seins- und Erfahrungsebenen" (S. 178). Lassek behauptet, daß in der "fortgeschrittenen Phase der plasmatischen Pulsationsarbeit" "metanormale Wahrnehmungen" und "metanormale Erfahrungen" auftreten (S.130). In diesem Zusammenhang zitiert er ellenlang Michael Murphy.

Lasseks okkulte Versprechungen an seine Patienten reichen ans "yogische Fliegen" und andere infantile Allmachtsphantasien heran. In diesem Zusammenhang spricht er von der "Arbeit mit feinsten Berührungen und intentionalen Feldern am Wundernetz der energetischen Bahnen innerhalb und außerhalb des menschlichen Körpers" (S. 130). Da ist von "hierarchisch höheren Ebenen" die Rede und unvermittelt stehen wir vor einem Weltbild, in dem wir uns diesen "höheren Ebenen" unterwerfen müssen.

Statt wie Reich die Natur unbekannter Funktionen mühsam zu ergründen, wird dem Mystiker alles fertig auf dem Tablett serviert, denn "mit Zwecken läßt sich leicht alles erklären" (35:77f). Es ist "Gottes Wille", es ist der "Geist", das "Naturgesetz", dem alles folgt. Für Blitze ist der Donnergott verantwortlich! - Nichts anderes verbirgt sich hinter inhaltsleeren Begriffen wie "Wirkstruktur". Was ist für die Struktur der Bion-Präparate verantwortlich? Jenseitige Strukturen! Lassek führt eine Aussage von Thure von Uexküll an, derzufolge sich "die Lebenserscheinungen (...) ihre Ursachen selbst zuordnen" (S. 130). Grundsätzlich sei zu sagen, "daß reine Energie Chaos ist und formgebende Einflüsse hinzutreten müssen, um Veränderung zu bewirken" (S. 179).
(2)

Ein Zitat von Ernst Jünger leitet Lasseks zentrale theoretische Ausführungen in Orgon-Therapie (S. 32) ein: die Eisblume auf der winterlichen Glasscheibe und die Rose im Garten stehen "genetisch" auf gleicher Stufe, da sie Ausdruck transzendentaler Formgesetze sind. Das ist keine orgonomische Aussage in anderen Worten, sondern schlägt allem ins Gesicht, für das Reich steht: die "genetische" Entfaltung der Funktionen und die dergestalt organisch gestaffelten Funktionsbereiche (vgl. Orgonometrie). Bei Lassek hingegen ist alles "flach", befindet sich auf der gleichen Ebene.

Hierzu passen Lasseks kaum nachvollziehbare Erläuterungen, in denen alles mögliche und unmögliche wild zusammenpurzelt: primärer Narzißmus des Kindes, Winnicott, die Erlebnisse der befruchteten Eizelle im Eileiter, Taoismus, Blablabla über "Quantenmateriefelder", C.G. Jung, Kierkegaard, gar der windige Okkult-Betrüger Gurdjieff, A.N. Whiteheads "appetition for completion" und Aristoteles' "causa finalis".

Lassek behauptet, Reich hätte "kurz vor seinem Tode" etwas über cosmic longing gesagt und zwar in einem Vortrag, den Lassek auch zitiert, vom 26.08.1956 (S. 186). Es war natürlich der 26.08.1950. Und auch an anderen Stellen schöpft Lassek aus Verwechslungen und Fehlern tiefschürfende Erkenntnisse über Reich und die Orgonomie. Offensichtlich will Lassek mit Hilfe eines von ihm selbst konstruierten "späten Reich" ins Kosmische abdriften - und meint damit das exakte Gegenteil dessen, was Reich mit "kosmisch" meinte. Reich: "Der bioenergetische Kern des Lebens und dessen kosmischer Bedeutung ist die Orgasmusfunktion, d.h. die unwillkürliche Konvulsion des gesamten lebenden Organismus bei der beiderseitigen bioenergetischen Entladung während der genitalen Umarmung von Mann und Frau" (38:69). Dies ist der Kern von all dem, wofür der Name "Wilhelm Reich" steht. Ein Wissenschaftler, der nach eigenem Bekunden nur eine einzige Entdeckung gemacht hat: die Funktion der orgastischen Plasmazuckung (39:3). Und nicht, wie Lassek, der Leiter eines "Wilhelm Reich Instituts", das entsprechende Zitat verfälscht, die Funktion der "lebendigen Plasmazuckung" (25:25).

Rätselhaft bleibt, wer eigentlich Lassek therapiert und ausgebildet hat. Ja es drängt sich einem die Frage auf, ob er sich überhaupt intensiver mit der Orgonomie beschäftigt hat. Jedenfalls machen Orgon-Therapie und seine anderen Beiträge zum Thema (20, 21, 23, 25) einen merkwürdig "laienhaften" Eindruck.(3) Zum Beispiel nennt er Ola Raknes durchgehend "Ola Rakness". Reich hat sich mit Einstein nicht auf Orgonon zu Forschungsdemonstrationen getroffen (S. 12). Und Reich war sicherlich nicht, wie Lassek behauptet, Opfer "antikommunistischer Hetze" - sondern Kommunisten haben die Hetze gegen ihn ingang gesetzt (27). Magnus Hirschfeld hat nicht mit Reich zusammen am Berliner Psychoanalytischen Institut gearbeitet (S. 18). Nie in seinem Leben hat Reich Untersuchungen an der Universität Kopenhagen durchgeführt, wie Lassek behauptet (S. 126). Wirklich, so gut wie keine Angabe stimmt! Reich baute das Observatorium nicht 1947, sondern 1948/49 (S. 26). Und er leitete nicht das "Orgone Energy Institute", sondern das "Orgone Institute" (er war das Orgone Institute). Das Eissler-Interview wurde nicht 1954, sondern 1952 geführt (S. 34).

Lassek zitiert zwar korrekt, daß Reich keine Neurotiker mehr ertragen könne, doch Lassek dreht es so, als hätte sich Reich jetzt Krebspatienten zugewendet und an ihnen grundlegend neue Behandlungswege erarbeitet (S. 119). In Wirklichkeit bezog sich das "keine Neurotiker mehr" natürlich auf eben diese Krebspatienten: ab 1944 hat Reich keine mehr behandelt und wollte diesen Bereich seinen Mitarbeitern überlassen.

Lassek zufolge wird "die sich Entladungswege suchende Energie näher an den biologischen Kern zurückgedrängt" und wendet sich schließlich gegen den Kern selbst: das Resultat sei Krebs (23:186f). Unglaublicherweise zitiert er aber wenige Seiten weiter Reich: die Annahme, daß es bei Krebspatienten in der biologischen Tiefe verdrängte Affekte gäbe, sei falsch. Reich: "Es gab auch in der Tiefe keine Affekte!" (23:191). Beim Krebs wendet sich also Reich zufolge die Energie nicht, wie Lassek behauptet hat, gegen ihren eigenen Ursprung (Stauung, Angst)!

Lassek wundert sich bei Krebspatienten über das leichte Auftreten dessen, was "in vielen neoreichianischen Richtungen als Orgasmusreflex bezeichnet (wird)" (23:188). Dann, drei Seiten weiter, das erwähnte Reich-Zitat, wo Reich "ebenfalls" beschreibt, wie er bei den charakteristischerweise angstfreien Krebspatienten überraschend leicht zum Orgasmusreflex vordringen konnte. Ein Kommentar der Lassekschen Argumentationsweise erübrigt sich.

Außerdem ging es Reich vor der Entdeckung der mangelnden Ladungskapazität beim Krebs nicht nur um "Entladung", wie Lassek behauptet. Ganz im Gegenteil war es Reich stets um die Erhöhung des Energielevels zu tun. Versteht Lassek überhaupt die Reichsche Orgasmustheorie? Die Orgasmusfunktion sichert die Entladung und erlaubt so ein hohes Energieniveau! Ist der Abfluß blockiert, muß als Ausgleich der Energiepegel gesenkt werden, bis schließlich alle Energieproduktion zum Erliegen kommt. Das Endresultat ist Krebs.

Vor diesem Hintergrund ist es auch sinnlos, zwischen "Entladungstechniken" und "Aufladungstechniken" zu unterscheiden, wie Lassek es tut. Oder anders gesagt: es geht hier um funktionelle Zusammenhänge! Bei den "östlichen" Techniken gilt vollkommen mechanisch-logisch verlängerte Inspiration als energiesteigernd. In der Orgonomie ist es natürlich die Exspiration (Eröffnung des Entladungsventils), die befreit werden muß, um Energie zu mobilisieren. Die Inspiration (Aufladung) sorgt für sich selbst. Doch in der Lassekschen "Orgontherapie" wird zunächst "die Inspirationsphase (...) verlängert und vertieft" (S. 149).

Lasseks "Pulsations- und Kanalisierungsarbeit" ist Ersatzkontakt, dreht sich um Ersatzkontakt und führt den Patienten zum Ersatzkontakt. Lowensche Streßpositionen werden eingenommen und dabei Akupressur verabreicht. Wenn überhaupt an etwas, dann erinnert diese Methode an die Frühphase der Vegetotherapie und insbesondere die Zeit der "vegetotherapeutischen Gymnastik". (Auf die sich Lassek ausdrücklich beruft [S. 119], weil er irrigerweise annimmt, sie wäre eine spätere Entwicklung Reichs.)

Was es in dieser merkwürdigen Art von "Orgontherapie" nicht zu geben scheint, sind Dinge wie die segmentäre Panzerung, das Dreischichtenmodell oder die Herstellung der orgonotischen Kontaktfähigkeit, ganz zu schweigen von Charakteranalyse. Reichs letzte Ansätze zur psychiatrischen Orgontherapie drehten sich hauptsächlich um das okulare Segment, doch bei Lassek - der stolz darauf ist, daß er die späte Orgontherapie von 1948 bis 1957 wieder freigelegt habe, als Reich direkt mit dem Protoplasma arbeitete - fällt zu diesem Thema kein einziges Wort. Vergleicht man die Lasseksche "Pulsationsbehandlung" mit der Orgontherapie von Baker (2), Herskowitz (16) und Konia (17), sieht man, daß bei den letzteren, also beim Original, tatsächlich mit der "Ausdruckssprache des Lebendigen" (ein Begriff der ebenfalls bei Lassek nirgendwo auftaucht) gearbeitet wird, ohne daß es zu dramatischen Ausbrüchen kommt.

In Lasseks "psychosomatischer Orgontherapie (Vegetotherapie)" bzw. "Pulsationsarbeit" ist alles auf den schnellen Effekt ausgerichtet. Durch Atemübungen kommt es infolge der Hyperventilation zu Krämpfen bzw. "Pulsationswellen" (sic!). Der Patient wird aufgefordert, "die Arme vor den Körper parallel zu strecken, die Finger beider Hände vollständig zu strecken und zu spreizen und die so geöffneten Handinnenflächen während der vertieften Atmung in Abstand von zirka zehn Zentimetern zu halten. Des weiteren sollte das Becken aus der Ausgangsposition heraus leicht (!) angehoben werden. Die Füße sollen an den Fußballen stärker als an der Ferse belastet sein. Ist eine ausreichende Ladung des Körpers durch die vertiefte Atmung erreicht worden, setzen Vibrationen in der gesamten Oberschenkelmuskulatur ein, am ausgeprägtesten zunächst im Adduktorenbereich" (S. 152, das Ausrufungszeichen stammt von Lassek!). Danach breiten sich dann die Vibrationen vom Becken ausgehend nach oben über den ganzen Körper aus, bis schließlich das einsetzt, was Lassek für einen "Orgasmusreflex" hält.

Man gewinnt den Eindruck einer eklektischen und dazu noch überinvasiven und überaktivistischen Therapie voller "Übungen" ohne jedes charakteranalytische und bioenergetische Verständnis. Bereits 1928, noch im Rahmen der Freudschen Psychoanalyse, hat Reich gezeigt, daß in gut verlaufenden psychoanalytischen Therapien es nur wenige aber folgerichtig aufeinander aufgebaute Interpretationen des präsentierten psychologischen Materials geben darf, daß ein generelle Linie eingehalten werden muß, die in umgekehrter chronologischer Reihenfolge von der Gegenwart bis zu den frühsten Erinnerungen reicht und daß bei jeder Interpretation darauf zu achten ist, stets vom wichtigsten Ich-Widerstand, d.h. vom Charakter auszugehen. Auf die Orgontherapie übertragen bedeutet dies, daß man (d.h. dazu eigens ausgebildete Psychiater) sparsam mit körperlichen Interventionen umgeht, systematisch sich vom Augensegment zum Beckensegment vorarbeitet und dabei immer die Charakterdiagnose des Patienten vor Augen hat. Genauso wie damals (gute) Psychoanalyse nicht hieß, wild und unsystematisch "herumzuinterpretieren", bedeutet heute Orgontherapie nicht, "die Energie zu mobilisieren" oder irgendwelche verkrampften Muskeln zum Zittern zu bringen.

Lassek zufolge arbeitete Reich nur mit dem Energiefluß, der gemäß dem energetischen Orgonom vorne am Körper vom Kopf hin zum Genital fließt, während Lassek darüber hinaus auch den Energiefluß aktiviert, der von unten nach oben den Rücken entlang strömt. Tatsächlich ist es derjenige Energiekanal, der von allen östlichen Lehren (z.B. Tantra) aktiviert wird: vom Wurzel-Chakra und dem Sex-Chakra bis hinauf zum Scheitel-Chakra, "nach oben" - hin zur Überwindung der Sexualität. In der Orgonomie hat dieser Energiestrom eine vollkommen andere Bedeutung: er steht funktionell für das sensorische System (Richtung ZNS). Ausgerechnet diesem System die Funktion der (motorischen) Entladung zu geben, wie Lassek es tut, ist wirklich pervers.

Betrachten wir das Hirn als Stausee, dessen Abfluß blockiert ist, sorgt Reich für die Öffnung des Abflusses hin zum Genital. Der Zufluß reguliert sich dann von selbst (wenn man mal von der Mobilisierung des hinteren Halses und Nackens und in geringerem Maße später auch der unteren Segmente absieht). Bei Lassek ist es anders: hier wird zunächst vom Steißbein aus der Zufluß geöffnet und es kommt zum Überlaufen des Stausees und einer möglichen permanenten, unaufhebbaren Blockade des Abflusses durch, um im Bild zu bleiben, angeschwemmte sich verkeilende Holzbalken ("hook"). Derartig blockierte Menschen wenden sich dann der vermeintlichen "Esoterik" zu, um Erleichterung zu finden.

In Orgon-Therapie (S. 129, 145) sind die Orgonom-Formen vollkommen korrekt abgebildet: vom Steißbein, den Rücken hoch, über den Kopf führen Pfeile runter zum Genital. In der von Lassek höchstpersönlich herausgegebenen Lebensenergie-Forschung (25) finden sich die identischen Abbildungen (auch sonst ist der Text, wie alle Texte Lasseks zum Thema, identisch), doch merkwürdigerweise mit dem einen kleinen Unterschied, daß hier die Pfeile, die den Energiefluß im Rücken wiedergeben sollen, entweder in beide Richtungen zeigen, also zum Kopf und zum Steißbein (25:49) oder nur zum Steißbein (25:59). Übrigens sehen die nach oben weisenden Pfeilköpfe in Lebensenergie-Forschung (25:49) so aus, als wären sie nicht richtig wegretuschiert worden, folglich entsprechen die nach unten, Richtung Steißbein, weisenden Pfeilköpfe also tatsächlich einer späteren Korrektur, die dann auch zehn Seiten weiter erfolgreich vollzogen wurde (25:59).

Auf S. 45 von Orgon-Therapie stellt Lassek den biologischen Kern (gemeint ist natürlich das bioenergetische Zentrum) und seine Erstrahlung bildlich dar. Nach Reich ist der Solar plexus dieses Zentrum, während es nach Lassek ein stiftförmiges Gebilde ist, das in der Mitte des Körpers von der Höhe der Hüfte bis zur Höhe der Armansätze verläuft. So findet der Zentralmechanismus der Neurose, die Wirkung, welche die Zwerchfellpanzerung auf das Ganglion coeliacum ausübt, keinen Platz mehr. Auch wird es mit Lasseks Modell unmöglich, die Sehnsucht bioenergetisch zu erklären, denn sie entspricht einer Energiebewegung vom Zentrum hin zum Brustsegment - aber das ist bei Lassek's Modell ja schon durch das "stiftförmige Gebilde" ausgefüllt. Ähnliches läßt sich in abgeschwächter Form auch zur sexuellen Erregung sagen, dem Energiefluß vom Zentrum hin zum Ganglion mesentericum und weiter zu den Genitalien. Offenbar hat Lassek's Modell des bioenergetischen Zentrums die gleiche Funktion wie andere seiner theoretischen Eigenentwicklungen: die Pulsation zwischen Zentrum und Peripherie soll zum Erliegen gebracht werden.

Lassek setzt Parasympathikotonie mit Unterladung gleich. In der Wirklichkeit ist es natürlich so, daß, wie Reich gezeigt hat, bei der durch Unterladung gekennzeichneten Krebsbiopathie der Orgonenergie-Akkumulator parasympathikoton gegen die sympathikotone Schrumpfung wirkt. Außerdem stellt Lassek zur diagnostischen Systematik Parasympathikotonie gleichberechtigt neben die Sympathikotonie, während Reich alle Biopathien auf Sympathikotonie zurückgeführt hat, bei denen es allenfalls zu einer reaktiven Parasympathikotonie kommen kann (etwa bei Asthma). Wie groß die Verwirrung ist, die Lassek angerichtet hat, wird deutlich, wenn behauptet wird, daß Abhängigkeit parasympathisch und Unabhängigkeit sympathisch sei (11:114) oder daß Sympathisch (Kontraktion) für Angriff (Expansion) steht, Parasympathisch (Expansion) für Resignation (Kontraktion) (11:115).

Wie eine Einteilung der Biopathien korrekt auszusehen hat und wie die biopathischen Diathesen voneinander abzugrenzen sind, hat der amerikanische Orgonom Robert Dew ansatzweise beschrieben (vgl. 28). Nur ansatzweise, einfach weil man dazu eine jahrzehntelange internistische Erfahrung hinter sich haben muß, die einfach deshalb nicht vorliegt, weil die Orgonomen somatische Biopathien nur sporadisch zu Gesicht bekommen.

Lasseks Formulierung von drei bioenergetischen "Grundtypen" ist kaum mehr als eine fehlerhafte und mechanistische Reformulierung des Reichschen Biopathiekonzepts, aufgepeppt mit ein bißchen Psychosomatik á la Viktor von Weizsächer: Reichs Schrumpfungsbiopathie wird zu Lasseks "Typ 3", die Stauungsbiopathie wird zum "Typ 2" und eine Schrumpfungsbiopathie mit Stauung im Kern, also Reichs Leukämie-Konzept, wird zum "Typ 1". Dabei vermengt Lassek Dinge miteinander, die man auseinanderhalten muß. Nehmen wir nur mal Typ 2, den "autoimmunreaktiven Typ": dazu lassen sich, wenn ich es richtig verstanden habe (denn Lassek selbst setzt sich da schlauerweise nicht fest), die sympathikotone Hochdruckbiopathie und die parasympathikotone Asthmabiopathie zählen. Doch diese beiden Biopathien im gleichen Atemzug zu nennen, macht wenig Sinn, da sie zwei grundlegend unterschiedliche Therapien benötigen. Noch problematischer wird es, wenn Lassek gar die diabetische Biopathie (eine klassische Schrumpfungsbiopathie) zu seinem "Typ 2" zählt.

Wie bereits gesagt, ist Krebs nicht dadurch gekennzeichnet, daß sich die Energie zurück gegen den Kern wendet (Stauungsangst), wie Lassek behauptet, sondern ganz im Gegenteil durch eine Aufgabe der Energieproduktion im Kern. Nach Reich ist Leukämie so etwas wie eine Autoimmunreaktion gegen den krebsigen Zerfall des Blutes und damit kaum so grundlegend verschieden von Autoimmunerkrankungen, wie Lassek es darstellt. Autoimmunerkrankungen, die der Orgonomie zufolge ebenfalls parasympathische Überreaktionen auf eine zugrundeliegende Sympathikotonie darstellen. Die Sympathikotonie ist die funktionell identische Grundlage aller drei Krankheitsbilder. Eine Betrachtungweise, die bei Lassek ganz unter den Tisch fällt.

Bluthochdruck bezeichnet Lassek als "Kontraktionsbiopathie" (S. 66) - der Leser muß dies irgendwie mit der "Schrumpfungsbiopathie" zusammenwerfen, dergestalt verwirrt werden und gar nichts mehr verstehen. Bluthochdruck, wo der Patient tatsächlich überladen ist und geradezu "abstrahlt", ist natürlich eine klassische "Stauungsbiopathie" - und eben keine "Kontraktionsbiopathie". Wir haben gesehen, daß umgekehrt Krebs von Lassek als "Stauungsbiopathie" dargestellt wird.... Entsprechend beschreibt Lassek in einem Diagramm mit der Unterschrift "Krebs" auf S. 119 von Orgon-Therapie, nicht etwa den Krebs, sondern sein Gegenteil: die Stauungsneurose.

Asthma wird mit "Verharren in der (inneren) Kontraktion" gleichgesetzt (S. 49) - natürlich ist das parasympathische Gegenteil wahr. Lasseks Behauptung, daß bei ständiger sympathikotoner Anspannung parasympathische Impulse aufgestaut werden und dann durchbrechen (S. 69), ist eine mechanistische Vorstellung in Reinkultur. Wie klar und funktionell doch dagegen das orgonomische Konzept ist: Parasympathikotonie als überschießende "Erstickungsreaktion" gegen die zugrundeliegende Sympathikotonie.

Reich zufolge ist Panzerung nicht, wie Lassek behauptet, "plasmatische Motilitätsstörung" oder "biopathische Lähmung der Plasmaperipherie" (S. 119) - damit umreißt Reich die Anorgonie, also das Gegenteil der Panzerung. Die quergestreifte, Skelett-Muskulatur zählt Lassek zur Peripherie (S. 128), statt sie, wie in der Orgonomie üblich, zur Mittleren Schicht zu rechnen.... Das führt dazu, daß in Lasseks Therapie die Entladung nicht etwa über die quergestreifte, sondern über die glatte Muskulatur erfolgt! Statt, wie in der Orgonomie üblich, die autonomen Impulse zu befreien und in der quergetreiften Muskulatur zum Ausdruck zu bringen, werden sie bei Lassek immer weiter "verinnerlicht" und ausbalanciert. Genauso verarbeitet die klassische Psychoanalyse psychische Konflikte - etwas, was Reich überwunden hat.

In welchem Ausmaß und im schlechtesten Sinne Lassek "psychoanalytisch" orientiert ist, wird deutlich, wenn er dem "Körpertherapeuten" Will Davis zustimmt, der uns die von Reich überwundene Mär vom primären Narzißmus auftischt: "(...) während der ersten paar Monate des Lebens, wenn der Organismus in einem undifferenzierten Zustand ist, kennt er nur sich selbst" (S. 124). Auch sonst ist bei Lassek á la Margaret Mahler vom Kleinkind die rede, bei dem es keinen Unterschied zwischen Ich und Außenwelt gibt. Nicht nur, daß das nach neueren Forschungen reiner Unsinn ist (vgl. Biologische Entwicklung aus orgonomischer Sicht), disqualifiziert sich insbesondere jeder mit solchen Aussagen, der sich auf Reich berufen will. Von Anfang an empfindet sich das Baby als separat von Mutter und Umwelt. Ja sogar das Embryo ist eine separate Entität, das mit dem Mutterorganismus wechselwirkt, um die Nährstoffe kämpft (was bis zum spontanen Abortus führen kann!), etc.

Es ist bezeichnend, daß sich ausgerechnet Lassek die Behauptung herausnimmt, die Schüler jenes Therapeuten, nämlich Elsworth F. Baker, der von Reich beauftragt wurde, die zukünftigen Orgonomen auszubilden, würden "eine Art Psychoanalyse unter Einbeziehung des Körpers" betreiben, während Lassek die Orgontherapie wieder etabliert habe (S. 30). Das ganze gewürzt mit einem grotesken Narzißmus: Orgon-Therapie strotzt nur so von Lassek-Fotos, bzw. Fotos mit Lassek (6 Stück) und im Literaturverzeichnis findet sich folgender Eintrag: "Runge, W.: Pulsationsarbeit nach Wilhelm Reich und Heiko Lassek, Diplomarbeit, TU Berlin, 1996". Wilhelm Reich und Heiko Lassek....

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Wolfgang Runge zitiert zum Energiebegriff eine Arbeit eines gewissen R. Vogl über Akupunktur und Lowens bioenergetische Analyse: "Um dem physikalisch besetzten Begriff der Energie ein nichtphysikalisches Pendant zu geben, prägte Oswald (...) den Ausdruck Energetik (...)" (51). - Das ist schlicht Nonsense, denn nichts könnte weiter von "Oswald" entfernt sein (vgl. Hans Hass und der energetische Funktionalismus). Im übrigen hieß der Mann Ostwald!

Auf der gleichen Seite behauptet Runge, Reichs Experimente zum Nachweis der Orgonenergie seien nicht zufriedenstellend verifiziert worden. Daran schließt sich dann eine Gleichsetzung der Orgonenergie mit Prana, Chi, diversen philosophischen Konzepten und "nicht-physikalischen Energiearten" an. Runge schreibt, sich auf Aristoteles beziehend: "Ich werde in dieser Arbeit die Begriffe 'Orgon' und 'Lebensenergie' synonym im Sinne einer 'wirkenden Wirklichkeit', einer zielgerichteten Kraft im menschlichen Organismus verwenden" (51:99). Kann man sich überhaupt eine unwissenschaftlichere Vorgehensweise vorstellen, Begriffe geradezu gegenteilig zu benutzen, als es üblich ist?(4)

In einem Buch, das von Lassek höchstpersönlich herausgegebenen wurde, verweist Runge auf Harold Saxton Burrs Messungen von bioelektrischen Feldern, da "in der Pulsationsarbeit auch von einer Arbeit an 'intentionalen Feldern' gesprochen wird (eine genaue Definition konnte ich nicht finden)". Und dann weiter: "Arbeit an 'intentionalen Feldern' kann bedeuten, diese von Burr entdeckten Felder und die Wechselwirkungen zwischen ihnen als Wirklichkeit zu akzeptieren" (51:102). Sic!

Die Methodik von Runges Arbeit paßt zum theoretischen Niveau: acht Probanden wurden interviewt, ohne standardisierte Fragebogen, geschweige denn eine statistische Auswertung oder irgendwas - und irgendwelche schwer definierbaren Veränderungen wurden festgehalten. Runge stellt fest, daß "in der Pulsationarbeit sowohl Zittern als auch wellenartige Zuckungen (Schlängeln, Schwingen) ohne vorhergehende systematische Auflösung der einzelnen Panzersegmente auftreten, [dies] spricht dafür, daß die Pulsationarbeit einerseits auf dem Fundament der Vegetotherapie steht, daß aber andererseits die von Reich beschriebenen Prozesse auch mit der modifizierten Methode der Pulsationsarbeit angeregt werden können" (51:116).

Bei dreien der acht Probanden kam es zu heftigen Durchfällen. Bei einem von diesen, der zu Lassek ging, um seine sexuelle Erlebnisfähigkeit zu erhöhen, dauerte der Durchfall sogar monatelang! Gleichzeitig kam es bei dem betreffenden zur Verschlechterung der Sehschärfe (51:117). Immerhin wurde er gelassener und bekam beim Sex "Lachanfälle" (51:121).

Offensichtlich beinhaltet Lasseks "Pulsationsarbeit" folgendes:

1. werden die unteren Segmente, vor allem das Beckensegment, frühzeitig mobilisiert, so daß es zu einer vagotonen Überexpansion kommt, die nicht ertragen werden kann: Ergebnis ist der vagotone Angst-Durchfall;

2. kommt es durch den von Lassek stolz bis in die Einzelheiten beschriebenen Energieschwall, der von unten in die oberen Segmente flutet, zu einer akuten, krampfartigen Abpanzerung insbesondere des okularen Segments: Ergebnis sind chronisch geweitete Pupillen und die damit einhergehende Abnahme der Sehschärfe; und

3. führt dieses "therapeutische" Vorgehen zu einer generellen Intoleranz gegenüber jeder bioemotionalen Erregung, also zu einer allgemeinen Verflachung, ähnlich wie nach Drogenmißbrauch ("Lachanfälle beim Sex").

Übrigens ist in Lasseks Therapie "das Auftreten von Empfindungen, Gefühlen und Emotionen (...) selten, jedoch nicht ausgeschlossen (...)" (51:122). "Genau genommen zielt die Pulsationsarbeit mit dem Umgehen emotionaler Entladungen auf die Ebene, die sogar noch unter der Ebene der autonomen Körperreaktionen liegt, auf die organismische Ebene der plasmatischen Reaktionen" (51:128). Man könnte auch sagen: ein Ausweichen ins Mechanische und Somatische aus Angst vor tiefen Gefühlen - oder mit anderen Worten: aus Angst vor Pulsation.

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Lassek und Runge sind beileibe keine Einzelfälle, sondern repräsentativ für die deutschen "Reichianer". Dazu abschließend ein weiteres der schlichtweg unglaublichen "Begleithefte" zur deutsche Edition des Reichschen Spätwerks:

Zunächst ist von Interesse, wie im Begleitheft zu Reichs OROP Wüste (3), das Prof.Dr. Arnim Bechmann, Leiter des "Instituts für ökologische Zukunfts-Perspektiven" in Barsinghausen, zu verantworten hat, die Orgontherapie beschrieben wird: die Widerstandanalyse habe sich aus der Charakteranalyse entwickelt (3:20) - anstatt umgekehrt. Dann wird die "Entwicklung der psychotherapeutischen Technik Wilhelm Reichs" sogar wie folgt dargelegt: Psychoanalyse - Charakteranalyse - Widerstandsanalyse - Vegetotherapie - Bioenergetik - Orgontherapie (Bechmann zufolge Bioenergetik plus Orgonenergie-Akkumulator). Reichs Therapietechnik hätte aus "Atmung, Körperübungen und Massagen" bestanden (3:40).

Sodann kritisiert Bechmann, "daß im Reichschen Modell Deutungen für Biographien, das heißt strukturierte, nach ausgeprägten Gesetzen ablaufende Lebensaufbauten, in denen auch die Grundlebensenergie unterschiedliche Qualitätsstufen durchläuft (Vergeistigung), weder angelegt noch einfach zu integrieren sind" (3:61). Entsprechend bedauert Bechmann, daß Reich eine Grenzlinie z.B. zur Anthroposophie gezogen hat, die doch auch praktische Erfolge vorzuweisen habe (3:61). So wird die Orgonomie kastriert und ver-Steiner-t: "Ohne die Bedeutung von Sexualität für das menschliche Verhalten herunterspielen zu wollen, kann jedoch eingewendet werden...." (3:60, Hervorhebung hinzugefügt).

Nicht nur die herrschende Naturwissenschaft, sondern auch die Orgonomie kenne "keine Moral, keinen Geist und keine geistigen Wesen, die außer oder über dem Menschen wirksam sind und an denen sich die Verantwortlichkeit im Umgang mit Welt orientieren ließe." Da aber der Mensch nicht zum Maß aller Dinge werden dürfe, fordert Bechmann die Einordnung des orgonomischen Wissens in "eine übergreifende Weltsicht", in der "die Vorstellung von einer geistigen Entwicklung des menschlichen Bewußtseins und der sich daraus ergebenden Verantwortlichkeit" ebenso Platz haben müsse "wie die Erfahrung göttlicher Wesen" (3:120f).

 

 

3. Maaz: Der Gefühlsstau (1990)

Der Psychiater Hans-Joachim Maaz ist Chefarzt des Evangelischen Diakoniewerkes Halle. In einer autobiographischen Skizze am Ende von Der Gefühlsstau (26) nennt er als seinen theoretischen Hintergrund der Reihe nach: "Sigmund Freud, Wilhelm Reich, Arthur Janov, Alexander Lowen, Fritz Perls, Alice Miller, Horst-Eberhard Richter, Wolfgang Schmidbauer, Jürg Wille" (S. 237). "Die persönlichen freundschaftlichen Kontakte mit Alther Lechler, David Boadella und Eva Reich haben mich auf meinem Weg sehr ermutigt" (S. 237f). "Marx, Fromm, Reich, Adorno halfen, die kranke Gesellschaft des Westens zu verstehen" (S. 176).

Ansonsten tauchen diese Namen im Buch nicht mehr auf, dem man anmerkt, daß es ganz und gar aus der Praxis geschöpft ist. Daß hier kein nur mit leeren Begriffen hantierender Theoretiker á la Herbert Marcuse, sondern ein Praktiker am Werk ist, erkennt man an der wohltuenden Fähigkeit des Autors auch komplizierte psychologische Zusammenhänge einfach und klar zu erklären. Hier und in der ganzen Atmosphäre des Buches fühlt man sich stark an Reich erinnert, ohne daß je der Eindruck von "Reichianismus" aufkommt. Das Buch ist authentisch. Der Autor lebt, was er schreibt.

Maaz bietet eine eindringliche und beklemmende Beschreibung, wie sich eine Gesellschaft in den Individuen reproduziert. Wie ihre Autonomie gebrochen wird, damit die Gesellschaft funktioniert. Wie durch die Verweigerung der Grundbedürfnisse, insbesondere in der Kindheit, das "Mangelsyndrom" hervorgerufen wird, auf das normalerweise zur Entlastung mit Gefühlen reagiert würde. Da diese Gefühle aber wiederum unterdrückt werden, kommt es zum "Gefühlsstau", der die Gesellschaft in den sicheren Untergang treibt. Selbst nach einer pseudo-revolutionären Entladung des Gefühlsstaus fängt der Zyklus von vorne an, da die Chrakterstrukturen bestehenbleiben und deshalb das Mangelsyndrom nicht wirklich beseitigt wird.

"Die Menschen schaffen sich die einengende Lebensart immer wieder, die sie früh [in der Kindheit] vorfanden und akzeptieren mußten. Dieser 'Wiederholungszwang' birgt bei aller Tragik den großen Vorteil, daß man von besseren und freieren Verhältnissen verschont bleibt und damit nicht an die defizitären und frustrierenden Erfahrungen in der Kindheit erinnert werden kann." So schafft sich das Volk eine Gesellschaft, "die das schmerzvolle Aufbrechen der alten Wunden verhindert" (S. 95). Es bedarf der "psychischen Revolution", damit es zur wirklichen "Wende" kommt!

In diesem Zusammenhang erinnert Maaz an den bruchlosen Wechsel vom National- zum Realsozialismus: "der Führerkult, die Massenaufmärsche, die religionsartigen Rituale und Fetische, der Fremdenhaß und die Feindbildmechanismen (die DDR hatte sich u.a. gerade Israel zum verhaßten Feind gemacht, ist dieser Zynismus noch zu übertreffen?), der psychische Terror durch Bespitzelung, Ängstigung und Überwachung, das dummdreiste Spießertum und die Arroganz der Macht, die Verherrlichung von Stärke, Beherrschung, Disziplin und Ordnung, das verlogene Frauenbild, die falsche Mutterverehrung, die sexuelle Prüderie, die repressive Erziehung, die Gehirnwäsche - alles Charakteristika, die sowohl für die 'faschistische' wie auch für die 'stalinistische' Gesellschaftsstruktur typisch waren. Die faschistische Lebensweise ist praktisch ohne Bruch übernommen und fortgeführt worden" (S. 95f).

Auch beim Übergang vom Realsozialismus in die Demokratie sei Vorsicht angebracht, "denn fruchtbar ist er noch - der Schoß, aus dem dies kroch!" Man könnte vielleicht auch sagen, daß sich aus der unorganisierten Emotionellen Pest immer wieder von neuem die Organisierte Emotionelle Pest herauskristallisiert. Zum Beispiel wie heute in der Sowjetunion der zerfallen(d)e Kommunismus Nationalismus und Mafiatum gebiert.

Maaz bietet eine derartig beklemmende Beschreibung der als "DDR" organisierten Emotionellen Pest, daß es manchmal Überwindung kostet weiterzulesen, da das so "konzentriert dargestellte konzentrierte Böse" einfach zu viel wird. Die Beklemmung entsteht für den Westler insbesondere aber dadurch, daß er über den Umweg des Vergrößerungsglases "DDR" an die unorganisierte Emotionelle Pest in der westlichen Welt gemahnt wird.

Gleichzeitig begeht hier Maaz seinen größten Fehler, eben weil er nicht zwischen unorganisierter und Organisierter Emotioneller Pest unterscheidet - zwischen Wirtsgewebe und Krebstumor. Er setzt West und Ost gleich, da beide Systeme im selben Mangelsyndrom gründen würden, das sie nur auf gegensätzliche Weise verhüllen. Der Westen macht den Osten für das Mangelsyndrom verantwortlich und projiziert in den Osten alles Böse, der Osten macht es genau umgekehrt. Gibt es demnach imgrunde keinen Unterschied?!

Maaz beklagt, in den Industriestaaten herrsche "eine Ideologie von Leistung, Wohlstand, Fortschritt und Wachstum", die "entfremdete, gespaltene, gefühlsblockierte und angepaßte Charaktere braucht". Man könne diese Charaktere, wörtlich, als "faschistische", "stalinistische" und "konsumterroristische" bezeichnen (S. 232). Dem ist entgegenzuhalten, daß man nicht einfach, wie Maaz es hier tut, unterschiedslos alles über einen Kamm scheren kann. Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied, ob eine Gesellschaft nur krank ist, wie unsere, oder ob sie so ist, wie Maaz oben die Kontinuität vom National- zum Realsozialismus beschrieben hat. Es gibt gewichtige Unterschiede zwischen einem System, in dem das Politikantentum jedwedes Fachwissen vom Tisch wischt, bis das Land ökonomisch ausgeblutet ist und Generationen sich umsonst für den "Aufbau" geopfert haben - und einem System, in dem die Arbeitsdemokratie eine Chance hat, zumal die Komplexität einer modernen Wirtschaft zwingt, sich auf das Fachwissen der "unteren" Ebenen zu verlassen, zu denen deshalb immer mehr Verantwortung delegiert wird, wodurch sie an Autonomie gewinnen.

So pauschal Maaz den "Kapitalismus" angreift - charakteristischerweise macht er feine Unterschiede, wenn er zwischen "Sozialismus" und "Stalinismus" differenziert, so als wäre ein nicht-stalinistischer Sozialismus (die Dominanz der Politik über die Wirtschaft) überhaupt denkbar!

In Westdeutschland finden wir, Maaz zufolge, überwiegend "Hysterie": das Ich narzißtisch gestylt und dabei die kollektive Not vergessend, gibt sich der Westdeutsche in einem destruktiven Expansionismus einer hysterischen Produktivität hin. Es herrscht egozentrische Ellenbogenmentalität, der Kult von Jugend und Stärke. In Ostdeutschland "orale Depression und analer Zwang": das Ich geht im Kollektiv auf, gibt sich in seiner Versorgungsmentalität der Kontraktion von Angst, Abhängigkeit und Unterwerfung hin. Es herrschen orale Depressivität, Apathie und anales zwangsneurotisches Streben nach Prämien, Orden und Privilegien.

Maaz geht also von der traditionellen diagnostischen Triade aus: genital hysterisch, anal zwanghaft und oral depressiv. Entsprechend gibt es bei ihm drei "Charaktere": den "hysterischen Charakter" hat es, außer im Kulturbetrieb, in der DDR kaum gegeben, dafür um so mehr den oral fixierten abhängigen "gehemmten Charakter" und den anal fixierten bürokratischen "zwanghaften Charakter". Wobei der Gehemmte die passive, der Zwanghafte die aktive Ausformung der autoritären Persönlichkeit ist. "Der gehemmte Untertan führt die Befehle widerwillig aus, die der zwanghafte Despot sich mühsam abringt" (S. 102).

Diese Konstrukte mögen einiges für sich haben, aber es handelt sich dabei zweifellos nicht um "Charaktere" (im Sinne Reichs), sondern um Syndrome, die grundsätzlich in jedem Charakter auftreten können. Jedenfalls gibt es in der Reichschen Charakteranalyse weder so etwas wie einen "oralen Charakter", noch einen genuin "analen Charakter". Alle Menschen erreichen zumindest die phallische Libidostufe, die allenfalls oral "gehemmt" oder zugunsten der Analität nachträglich wieder aufgegeben wird. Und das, was Maaz "hysterisch" nennt, entspricht zum Teil dem "phallisch-narzißtischen Charakter" bei Reich. Wie nicht anders zu erwarten, bei jemanden, der es allen ernstes fertig bringt Freud, Reich, Janov, Lowen und Perls in eine Reihe zu stellen, erweist sich Maaz' theoretische Analyse als ziemlich flach.

Neben den beiden oralen und analen "Charakterstrukturen" sieht Maaz sechs "soziale Rollen" in der alten DDR am Werk: den Machthaber, den Karrieristen, den Mitläufer, den Oppositionellen, den Utopisten und schließlich den Flüchtling und Ausreisenden. Bei den einen dreht sich alles um Macht als Ersatz für ein verlorenes, gehemmt-zwanghaftes Leben; den anderen geht es weniger um "Macht statt Lust", sondern um "Liebe durch Leistung", d.h. unbewußt wollen sie für ihre Leistung mit Liebe belohnt werden. Und selbst jene, die gegen die Macht rebellieren, tun dies oft aus unbewußter Rebellion gegen die Eltern. Dieser irrationale Hintergrund hat sich, so Maaz, nach der "Wende" gezeigt, als die Oppositionellen Macht erlangten, ohne sie mit authentischen Inhalten füllen zu können. Bei den DDR-Flüchtlingen sieht Maaz die Irrationalität darin am Werk, daß sie letztlich vor sich selbst fliehen, bzw. vor ihrem inneren Mangelsyndrom.

In der DDR war dieses Mangelsyndrom auch äußerlich im kläglichen Leben greifbar, während es im Westen vom äußeren Überfluß überdeckt wird. Dem inneren Mangelsyndrom kann man aber nicht durch Flucht entgehen, denn letztlich dienen alle sozialen Rollen (auch die, die wir im Westen spielen) nur dieser einen Aufgabe: der Abwehr und Kompensation des Mangelsyndroms und der Bewältigung des Gefühlsstaus. Die "psychische Revolution" ist vonnöten, um diese sozialen Rollen aufzusprengen.

Reich sprach von der "Sexuellen Revolution", während Maaz alles von der Sexualität auf die diffuse Entladung von Gefühlen verlagert: "nichtgelebte" Gefühle sind gefährlich und richten Schaden an, "der sich von körperlichen und seelischen Symptomen, über Ehekonflikte und Gewalttaten bis hin zur Umweltzerstörung, ja zum Krieg und Konzentrationslagern mit Gaskammern erstrecken kann" (S. 147). Maaz sieht nicht, daß Emotionen energie-ökonomisch keine Bedeutung haben, solange sie nicht zielgerichtet, kontaktvoll, integriert und zentriert sind: sie in diese Bahn ("orgastische Potenz") zu lenken, ist Aufgabe des Therapeuten
(5) - nicht die ziellose Aufhebung eines "Gefühlsstaus" á la Janov, die nur noch mehr Chaos und letztendlich mehr Panzerung erzeugt. Außerdem kann man die Charakterstrukturen, die die Misere reproduzieren, nur von der genitalen Störung her verstehen (orgastische Impotenz). Ohne Orgasmustheorie bleiben Charaktereinteilungen mechanische Klassifizierungen.

Zwar gibt Maaz eine hervorragende Beschreibung genitaler Sexualität, die das Gegenteil der Potenzprotzerei ist, bei der es vielmehr um Hingabe und Geschehenlassen geht, wodurch es beim Partner zu einer "ansteckenden Zündung" komme (S. 71), doch leider weicht Maaz ansonsten der Genitalität als Grundproblem der Neurose aus. Dies sieht man schon an seiner vollständig auf Prägenitalität aufbauenden Charaktereinteilung. Pauschal behauptet er, in der DDR wäre es nie bis zu einer "genitalen Entwicklungsphase" gekommen (S. 89), um gleich darauf zu konstatieren, das Land hätte manchmal gewirkt, als wäre es im "Ödipuskomplex" befangen (S. 90). Wie soll es aber zum neurotisierenden Ödipuskomplex kommen, wenn nicht zumindest die phallische Frühphase der Genitalität erreicht worden ist? Daß die Menschen einen gewissen Kontakt mit der Genitalität aufgenommen haben, ist doch schon aus Maaz' eigener Behauptung ersichtlich, daß "jeder Mensch einen gesunden Anteil in sich trägt und bewahrt" (S. 164).

Gerade mit diesem "gesunden Anteil" hat Maaz Probleme. Bezeichnend ist etwa, wie er geradezu anklagend über die Verdrängung der Analität sagt: "Exkremente wurden mit einem starken Ekelgefühl belegt; Spucken, Rülpsen und Furzen waren immer verpönt" (S. 62). Daß waren sie noch weit stärker bei den genitalen Trobriandern und z.B. bei Reich, demzufolge in einem solchen antisozialen Verhalten nichts als Verachtung für die Genitalität zum Ausdruck kommt. In dieser Beziehung zeigte er sogar Sympathie mit den strengen Regelungen, die Moses und Paulus trafen (siehe 38). Neurotisches Verhalten erfordert moralische Regulierung - welche für die primären Triebe das reine Gift wäre.

Leider scheint Maaz, der den Menschen als "somato-psycho-sozio-spirituelle Einheit" (S. 225) versteht, diese strenge Linie zwischen Moral und Selbstregulation nicht zu ziehen. Bei ihm ist viel von "Moral", "Ethik", "ethischen Werten", "Schuld" (S. 41) und gar vom "spirituellen Bedürfnis nach Sinn" (S. 64) die rede. Wie wenig wert doch sein ganzer Begriff von der "psychischen Revolution" ist, wird besonders deutlich, wenn schließlich das ganze eine religiöse Dimension annimmt und man sich fatal an C.G. Jung erinnert fühlt. Den Schmerz, der durchlitten wird, wenn die Hüllen über dem Mangelsyndrom wegfallen, verknüpft Maaz mit der "christlichen Botschaft des Leidensweges, den uns Jesus Christus vorgelebt, aber nicht abgenommen hat. Der Weg am 'Kreuz' ist das unvermeidliche Leiden auf dem Weg zu 'neuem Leben'." Daß die Kirchen dies dem Gläubigen durch die Stellvertreterfunktion Jesu abgenommen hat, sei ihr Beitrag zur Neurotisierung des Menschen (S. 212). - Eine sehr merkwürdige Interpretation. Einerseits sieht Maaz, wie Reich, in Jesus den gesunden Menschen, andererseits nimmt er ihn als Vorbild für die Annahme des Leidens, das der Mensch auf sich nehmen muß, "will er zu neuem Leben gelangen" (S. 229). Eine perverse Neuinterpretation des Christusmordes. (Wir werden auf diese quasi Jungianische Geisteshaltung in der 8. Besprechung zurückkommen.)

 

 

4. Beeler: Der Irrationalismus in der Menschenmasse (1990)

Das Oeuvre des "Reichianischen" Autors aus der Schwyz umfaßt die Titel Das Sexuelle Manifest (4), Gegen Militär und ZS-Zwang (5), Die Notizen (6) und Der Irrationalismus in der Menschenmasse (7) sowie Der rabiate Jesus in Schwyz (8). Das letztere Buch habe ich nicht gelesen, aber nach Beelers vorangehendem ermüdend eintönigen Schaffen zu urteilen, wird es nichts neues bringen. Kennt man das hier zu besprechende "Hauptwerk" des Autors, ist man über den Inhalt seiner anderen Bücher im Bilde.

Das Sexuelle Manifest soll hinsichtlich der sexuellen Unterdrückung das leisten, was Das Kommunistische Manifest für die sozialistische Bewegung getan hat. Und tatsächlich gibt es eine Parallele. Nachdem sie ihr Manifest verfaßt hatten, wurden Marx und Engels aus dem Bund der Kommunisten als "halbgebildete Pseudointellektuelle" hinausgeworfen, weil sie den im Bund organisierten Arbeitern nichts als Standesdünkel und Verachtung entgegengebracht, sowie die demokratischen Spielregeln mißachtet hatten (9). Beeler ist wahrhaftig ein zweiter Marx!

Wenn alle Marxistischen Experimente gescheitert sind, liegt das, Beeler zufolge, am "Kleinen Mann". Auf diese Weise wird eine große Wahrheit Reichs in eine stupide Gemeinheit verkehrt und zum Schaden, den die "Massen" hatten, kommt noch der Hohn von Seiten des rabiaten Marxisten aus der Schwyz. Die Menschenmasse sei, so Beeler im Manifest, "blöde, vertrottelt und stupide". In Gegen Militär ist vom "blöden Herdenvieh - die Masse" die rede. In den Notizen spricht Beeler von den "95 Prozent Vollidioten, die mit ihrer abgrundtiefen Blödheit und geistigen Beschränktheit unsere Gesellschaft beglücken". "Die heutige Menschenmasse ist über alle Vorstellung hinaus dumm und naiv!" Die Menschen sind "dumm wie Hornvieh".

Bei den Notizen handelt es sich um Beelers Tagebuch: "Mein Herz ist verdunkelt. Anstelle der Menschenliebe findet man nur Menschenhaß. Ich kann mich nicht einmal mehr der Natur erfreuen. Ich verachte alles!" In seinem Irrationalismus bezeichnet Beeler den "maßlos vertrottelten, einfältigen, stupiden heutigen Durchschnittsmenschen" (S. 32) als "Leuteschrott" (S. 10) und unterstreicht: "Die Masse ist Schrott" (S. 17). - Das hat nichts mehr mit Reich zu tun, sondern ist Faschismus in Reinkultur: Verachtung für jene "Massen", die man "befreien" will.
(6)

Erschreckend, was dieses "Hornvieh" so alles anstellt! Beeler regt sich z.B. darüber auf, daß Inzest, "die ursprüngliche und natürliche Form der Fortpflanzung", verboten ist (S. 96, Hervorhebung von Beeler). "Gefängnisstrafen werden für 'Delikte' ausgesprochen, die in Wirklichkeit gar keine Verbrechen sind, die weder dem Einzelnen noch der Gesellschaft in irgendeiner Form Schaden zufügen."

Wenn die sozio-ökonomische Entwicklung eine "gewisse Stufe" erreicht hat, werde sich die Sexualunterdrückung automatisch auflösen. Der soziale Fortschritt ist, so Beeler (S. 74), mit dem technischen notwendig verknüpft, denn "der technische bringt den wirtschaftlichen, und der wirtschaftliche in Zukunft den sozialen Fortschritt. Die Zeit arbeitet für den Menschen" (S. 91).

Trotz dieses "Marxistischen New Age" zitiert Beeler (S. 45f) Reichs Aussage, daß die Existenz des Menschen in ein biologisches Leben und ein maschinelles "Leben" aufgespalten sei. Reich: "Tiersein und Nichttiersein, biologische Verwurzelung auf der einen und technische Entwicklung auf der anderen Seite, spalten [den Menschen] in seinem Dasein und Denken auf." Hierauf folgt Beelers Anmerkung: "Diese Aussage Reichs darf selbstverständlich nicht etwa so interpretiert werden, daß der Mensch, wenn er in Zukunft glücklich (= sexuell frei) leben will, auf die Technik verzichten müßte." Aber das ist gar nicht Reichs Punkt! Reich geht es vielmehr darum, den Traum von einer durch die Technik glücklichen Zukunft als Flucht vor dem Tiersein, und damit vor der wirklichen Grundlage des Glücks, zu entlarven. Im Verlauf des Zitats schreibt Reich denn auch, der Mensch träume davon, "daß die Maschine ihn sein Leben leichter mache und ihn selbst genußfähiger machen werde." Worauf Beeler stupide anmerkt: "Irgendwann einmal in Zukunft wird dies der Fall sein." Reich fährt fort: "Der Lebensgenuß mit Hilfe der Maschinen ist sein Traum von jeher. Und die Wirklichkeit? Die Maschine wurde, ist und wird sein gefährlichster Zerstörer bleiben, wenn er sich nicht von ihr differenziert."

Beeler ist gläubiger, orthodoxer Marxist, der alle Hoffnung in die "Entwicklung der Produktivkräfte" legt. Um also "Reichianer" bleiben zu können, muß Beeler Reich Marxistisch uminterpretieren. Wenn Reich z.B. schreibt, die Fronsklaverei früherer Tage sei durch inneres Sklaventum, d.h. das Maschinewerden des Menschen abgelöst, merkt Beeler an: "Die Lohnsklaverei, die durch die ökonomische Entwicklung geworden ist, trägt heute einen nicht geringen Anteil dazu bei" (S. 48).

 

 

5. Robinson: The Freudian Left (1969, 1990)

Von Anfang an macht Robinson, ein Geschichtsprofessor von der Stanford Universität, in The Freudian Left (50) keinen Hehl aus seiner ambivalenten Haltung gegenüber Reich. Einerseits zieht ihn Reichs Radikalität an, um andererseits von der mit ihr verknüpften Simplizität (Einfalt?) abgestoßen zu werden. Beides, Radikalismus und Komplexität, findet Robinson bei Marcuse, seinem großen intellektuellen Helden. Da jedoch Marcuse geradezu das Negativ Reichs ist, also eine Beschäftigung mit Marcuse für den Studenten der Orgonomie sehr erhellend sein sollte, macht die Authentizität von Robinsons Marcuse-Rezeption das Buch ganz besonders interessant. Marcuse selbst hat den ihn betreffenden Abschnitt gegengelesen, so daß es sich praktisch um Originalliteratur handelt.

Zwischen die Abschnitte über Reich und Marcuse hat Robinson eine Abhandlung über den psychoanalytischen Anthropologen Geza Roheim geschoben. Dieser Abschnitt stellt im Buch einen ziemlichen Fremdkörper dar und der Rezensent muß zugeben, daß er nicht recht verstanden hat, wieso man Roheim zur "Freudianischen Linken" zählen soll. Trotzdem ist auch dieser Teil lesenswert, denn nach der Erstveröffentlichung von Robinsons Buch 1969 erschien 1972 in den USA Reichs Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral (45), dessen Schlußteil sich eingehend mit Roheims Ansichten auseinandersetzt. Gerade die Tatsache, daß Robinson Reichs Ausführungen über Roheim nicht kannte, macht einen Vergleich reizvoll.

Auch Roheim ist in vieler Hinsicht das Gegenbild Reichs. Roheim war ein "wilder Psychoanalytiker" der schlimmsten Sorte. Wirklich alles wurde als psychoanalytische Metapher interpretiert. Ein Gegenstand hatte nicht wegen seiner Funktion, sondern wegen seines psychologischen Sinngehalts Bedeutung. Überall sah Roheim Sinnbilder der Sexualorgane, des Ödipuskomplexes, etc. Darüber hinaus war dies auf der ganzen Welt gleich, d.h. der australische Buschmann lebte in der gleichen "psychoanalytischen Welt" wie der mitteleuropäische Kleinbürger. Bei Roheim wurde das psychoanalytische Konzept vom Unbewußten tatsächlich zu jenem Statischen, ewig gleichen Absoluten, wie Reich es der Psychoanalyse in Äther, Gott und Teufel (39) anlastete. Die Haltung von Vieh führte Roheim auf den Ödipuskomplex zurück ("Vater Stier und Mutter Kuh") und die Bestellung der Felder war primär Inzest mit Mutter Erde. Politik war die Anbetung des Phallus und Ökonomie der ritualisierte Austausch von Faeces. Roheim brach alles rücksichtslos über den psychoanalytischen Leisten und führte so die Freuds Werk ad absurdum.

Immerhin wurde selbst Roheim durch die Fakten dazu gebracht, nicht nur ungewollt "sich selbst zu widerlegen und den Einbruch der sexuellen Zwangsmoral zu bestätigen", wie Reich sagt (45:187),
(7) sondern von Robinson erfahren wir auch, daß Roheim gegen Ende seiner Laufbahn sich immer mehr explizit Malinowski, und damit Reich, annäherte. So kann man Roheims psychoanalytische Anthropologie z.B. als eine jahrzehntelang andauernde schmerzhafte Abkehr von Freuds Totem und Tabu betrachten.

Robinson behauptet jedoch weiterhin, daß, verglichen mit dem Standart an spekulativer Eleganz, den Freuds Totem und Tabu gesetzt habe, Reichs Theorien über die Entstehung des Patriarchats "verschwommen, nicht überzeugend und nicht schlüssig" wären (S. 52). Reich hat selbst zugegeben, daß hier ein Schwachpunkt der Orgonomie liegt, - den m.E. erst James DeMeo mit seiner "Saharasia-Theorie" beseitigt hat (13). Die Sache ist nur die, daß es Robinson gar nicht auf die Fakten ankommt, aus denen man halt nur langsam ungeschliffene Theorien herauspressen kann, sondern auf möglichst elegante und anregende Theorien, losgelöst von jeder störenden Wirklichkeit. Dabei ist es Robinson offensichtlich gleichgültig, daß Roheim durch sein abgehobenes Theoretisieren aus der Psychoanalyse eine lächerliche Farce gemacht hat. Vollends in Verzückung gerät Robinson aber bei Marcuse, der gleich aus der gesamten Humanwissenschaft eine Realsatire machte. Reich sagt anläßlich seiner Diskussion von Roheims Theorien, man dürfe "die sogenannte Freiheit der wissenschaftlichen Forschung nicht mit wissenschaftlichem Libertinismus verwechseln" (45:187).

Voll Bewunderung beschreibt Robinson die Charakterdynamik Marcuses, ohne daß Robinson überhaupt ahnt, was er da schildert: "In all seinen Schriften hat Marcuse die Antithese negativ-positiv oder bejahend-zerstörend in einer ironischen Art und Weise verwendet. Positiv, bejahend, oberflächlich optimistisch zu sein (...), beinhaltet einen grundsätzlich konservativen Standpunkt. Die wahrhaft progressive Haltung war die der Negation. Ich glaube, daß Marcuses offensichtlich sehr bewußte Wahl dieses paradoxen Sprachgebrauchs uns sehr viel über seinen intellektuellen und psychologischen Aufbau erzählt. Im unmittelbarsten Sinne offenbart es eine ziemlich spielerische Qualität des Denkens, eine philosophische Cleverness (...). Zur gleichen Zeit weist der wiederholt hochschätzende Gebrauch von 'Negation' und 'Destruktion' auf einen kaum verhüllten grimmigen Zorn hin, der Marcuses Entfremdung von der etablierten Ordnung widerspiegelt" (S. 184f). "Diese Verherrlichung von Negation und Destruktion (...) schlug sich selbst in seiner Bereitschaft nieder, konsequent die negativsten und gewalttätigsten intellektuellen Konstruktionen zu vertreten, insbesondere Freuds Todestrieb." Zugegebenermaßen, so Robinson weiter, sei Marcuse nur in die "Tiefe der Negation" hinabgestiegen, um sich dialektisch zu einem um so höheren Humanismus hinaufzuschwingen, nichtsdestoweniger müsse man aber Marcuses Entfremdung unterstreichen. "Nur intensiver Zorn kann zu einem derartigen Enthusiasmus für Negation und Tod geführt haben" (S. 186).

Das ist der Hintergrund vor dem sich Marcuse auf die Seite eines "unverfälschten Freud" gegen Reich stellte. Unausgesprochen beinhaltete seine Kritik an Reich:

Reich habe die Psychoanalyse verraten, als er die von Freud aus der gesellschaftlichen Verdrängung befreite Prägenitalität wieder unter das Joch der Genitalität spannte.

Er habe sie verraten, als er das von Freud als unaufhebbar bloßgestellte "Unbehagen in der Kultur" therapeutisch aufzuheben trachtete und so das Individuum mit der Kultur versöhnte.

Und er habe sie verraten, als er den von Freud in der Todestriebtheorie gefaßten Dualismus zwischen dem allumfassenden Eros und seinem Todfeind, dem Thanatos, verwässerte, indem er den Eros auf die bloß sexuelle und dann weiter auf die genitale Befriedigung reduzierte und mit seinem therapeutischen Optimismus kompromißlerisch den (für Freud zur Conditio humana gehörenden, für Marcuse nur auf diese gegenwärtige Kultur beschränkten) unaufhebbaren Bruch zwischen dem erotisch Lebendigen und dem maschinell Toten verkleisterte. Dieses Maschinelle zeige sich z.B. in der stupiden "Kolbenbewegung" der genitalen Sexualität, die so zum Ausdruck des Thanatos wird, während in der unverfälschten polymorph-perversen Sexualität der ganze Körper vom Eros erfaßt werde.

Dies heißt aber nicht, daß Marcuses Held der Beathe Uhse-Kunde ist, der ja kaum noch ein "Unbehagen in der Kultur" spürt, sondern ganz im Gegenteil ist es der verklemmte Neurotiker, der, von Haß gegen die Kultur ergriffen, dazu gebracht wird, das System radikal infrage zu stellen (ein gutes Beispiel ist der Jesuiten-Zögling Lois Bunuel und die anarchischen Gewaltphantasien in seinen Filmen). Damit sei Reichs gesamter sexualökonomischer Ansatz hinfällig.

Marcuse behauptet: anstatt, daß die sexuelle Befreiung das System untergräbt, macht sich das System diese vielmehr zunutze, indem der Mensch im Kapitalismus mit billigem Sex abgespeist wird und so sozusagen dem Eros der Treibstoff entzogen wird, mit dem er gegen Thanatos rebellieren kann, vielmehr wird der Eros immer mehr reduziert und mechanisiert bis zum Extrem und dieses Extrem des absolut zerstörten Eros ist Reichs Genitalität. Alle paar Tage kommt es in einer streng monogamen Beziehung zu einem isolierten Orgasmus, der dem Eros alle Kraft entzieht und den Menschen befähigt, frei von allen erotischen Phantasien in der kapitalistischen Produktion zu arbeiten. Die lebendige Prägenitalität fällt so der Desertifikation zum Opfer analog dem Trockenlegen von Sümpfen und dem Abholzen von Wäldern. So feiert in Wilhelm Reich, dem Verräter an Marx und Freud, der Todestrieb seinen letzten Triumph!

Anfangs priesen sowohl Marcuse als auch Reich den technologischen Fortschritt. Reich, weil die Industrialisierung die alten patriarchalen Familienbande zerschlug. Marcuse, weil die Maschine den Menschen von der Arbeit zugunsten der Sexualität befreite. Später änderten beide ihre Einstellung zur Technik drastisch. Reich lehnte die Maschinenzivilisation ab, da sie den Menschen selbst zur Maschine machte. Marcuse glaubte, daß, anstatt den Eros zu befreien, die technische Welt den Eros verdrängen und in der Umwandlung vom Organischen zum Unorganischen durch den Todestrieb ersetzen würde.

Diese Parallelität der geistigen Entwicklung ist bemerkenswert - insbesondere deshalb, weil sie, wie gezeigt, auf diametral entgegengesetzten Fundamenten ruht. Während Reich die Genitalität von ihren prägenitalen Überlagerungen befreien will, redet Marcuse der polymorph-perversen Befreiung von der "Tyrannei der Genitalität" das Wort. Bei Reich pendelt der befreite Mensch zwischen genitaler Befriedigung und Arbeit hin und her,(8) während Marcuse in dieser zur Arbeit befähigenden Genitalität geradezu den Kern der Repression erkennen will, die durch die verweigernde Regression auf die "anarchische" Sexualität des Babys überwunden werden soll.

Der bezeichnenste Ausdruck dieser sexuellen Revolution Marcusischer Provenienz war vielleicht die jede sexuelle Spannung zwischen den Geschlechtern hintertreibende Unisex-Mode Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, mit ihrer parallelen Abkehr von "spießiger Genitalität" und "Leistungsgesellschaft". Marcuse wollte den Eros gegen den Todestrieb, den er vorbehaltlos von Freud übernommen hatte, mobilisieren. Was ja nicht so schlecht ist, wie es auf den ersten Blick scheint ("Marcuse glaubt an den Todestrieb!") - aber was steckt denn im psychoanalytischen Kontext anderes hinter diesem ominösen "Todestrieb", als eben die Regression auf das Prägenitale, Infantile, Undifferenzierte, Präorganische, Tote! (So fassen jedenfalls m.W. heutige Psychoanalytiker den Todestrieb Freuds auf.) Mit seiner Mobilisierung eines "polymorph-perversen Eros" gegen den Todestrieb, folgt Marcuse doch letztlich - dem Todestrieb. Auf diese Weise kann man dann sogar noch weitergehen als die bisherige Ablehnung Marcuses von orgonomischer Seite und sagen: "Marcuse glaubt nicht nur an den Todestrieb - er glorifiziert den Todestrieb und will seinen Triumph herbeiführen!"

Für Marcuse ist nicht mehr, wie bei Reich, die Familie die zentrale Struktur- und Ideologiefabrik der kapitalistischen Gesellschaft, sondern Bürokratie, Massenmedien und Unterhaltungsindustrie prägen in der modernen Industriegesellschaft so direkt das Individuum, daß der Ödipuskomplex vollkommen belanglos wird. Hier muß das Wort von der "repressiven Entsublimierung" fallen. Während wir früher gezwungen waren, unsere Sexualität zugunsten der Arbeit zu sublimieren, habe sich nun in der hochtechnisierten Gesellschaft die Sexualität aus den viktorianischen Banden befreit - nur um zu einem Instrument der Manipulation durch Staat und Monopole zu werden. Robinson (S. 241) faßt die Entwicklung Marcuses in folgendem Satz sehr schön zusammen: "Während der sexuell Abartige der Held von Triebstruktur und Gesellschaft [1955] gewesen war, übernahm in Der eindimensionale Mensch [1964] der hochgradig verklemmte Neurotiker die Rolle des Hauptkritikers der Gesellschaft." Folgerichtig meint Robinson in seinem Vorwort von 1990, daß Marcuse wohl die AIDS-Epidemie sehr willkommen geheißen hätte, da unterdrückte Sexualität die für die repressive Gesellschaft gefährlichste sei. Schlechter ist besser! Robinson vergißt dabei nicht nur zu erwähnen, daß Reich genau umgekehrt argumentiert hat, sondern auch, daß Safer Sex nun wirklich definitiv die "Tyrannei der Genitalität" gebrochen hat, also frei nach Marcuse die Sexualität befreiter sein müßte denn je!

Immerhin ist es tröstlich, wenn Robinson in seinem Vorwort von 1990 trocken feststellt, daß (während man Reich weitgehend ignoriert) "Marcuse lebhaft geschmäht und verunglimpft wird". Ansonsten revidiert Robinson seine vormalige Haltung, die er mit Reich und Marcuse teilte, daß Freud (bei Reich zumindest der frühe Freud) ein "Krypto-Revolutionär" war. Jetzt pflichtet Robinson der modernen Einschätzung von Freud als konservativem Moralphilosophen bei, "der sich damit zufrieden gab hysterisches Elend ins allgemeine Unglücklichsein zu verwandeln." Hier muß man Robinson recht geben: Reichs Verhältnis zu Freud war ein Mißverständnis (siehe 19).

Ein noch größeres Mißverständnis, Reichs Haltung zu Marx, beschrieb Robinson schon 1969: "Reichs Ablehnung der Politik brachte unvermeidlich die Entfremdung von seinem politischen Mentor Karl Marx mit sich. Er hat den Bruch nie ausdrücklich eingestanden, aber er wurde in Reichs späteren Schriften offensichtlich. Reich ließ die Klassenanalyse als grundsätzlich hirnverbrannt fallen. Insbesondere behauptet er, daß keinerlei Beziehung zwischen Klassensituation und Charakterstruktur bestehe. Diese Kritik an Marx war schon stillschweigend in seiner früheren Reduktion der Geschichte auf ein matriarchales und ein patriarchales Zeitalter enthalten. Tatsächlich war nur die Analyse des Faschismus vollständig in einem Marxistischen Bezugsrahmen geblieben. Aber nun gibt Reich offen die Sinnlosigkeit zu zwischen 'proletarisch' und 'kapitalistisch' zu unterscheiden, geschweige denn feinere ökonomische Unterschiede zu machen."

Hinter Reichs Abkehr von Marx habe das gleiche gestanden, wie hinter seiner Abkehr von Freud. Obwohl Reich 1929 in Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse hervorgehoben habe, daß sowohl Marx als auch Freud die Realität vom Konflikt (zwischen Klassen, bzw. Trieben) her interpretiert hätten, sei, so Robinson, Reichs eigenes Denken vollkommen anders geartet gewesen. Deshalb habe sich Reich von Freud getrennt, als dieser den unaufhebbaren Dualismus und Konflikt zwischen Eros und Thanatos auf die Spitze trieb. "Auf ähnliche Weise fand Reich schließlich Marx' Doktrin vom Klassenkampf mit seinem eigenen Hang unvereinbar, das soziale Leben als imgrunde konfliktfrei zu betrachten. Antagonismen in der Realität wären künstliches Produkt politischer Ideologien, wobei der Marxismus selbst in dieser Hinsicht zu den schlimmsten Übeltätern gehöre. Unterhalb des sichtbaren Konflikts bestände eine grundlegende Gemeinsamkeit der Interessen, die alle produktiven Individuen verband. Am Ende zog Reich offensichtlich Bentham gegenüber Marx vor" (S. 58f). Der englische Philosoph Jeremias Bentham (1748-1832) war Begründer des "Utilitarismus". Marcuse kritisiert bei ihm die "ausschließlich individualistische Lösung der Frage nach dem Glück" (S. 187). Vorher im Buch (S. 16) merkt Robinson an, daß Reichs Begriff "Sexualökonomie" weniger eine Synthese von Freud und Marx sei, "sondern in der Tat mehr einem Gemenge von Freud und Adam Smith ähnelt".

Merkwürdigerweise reiht Robinson 1990 neben Marcuse immer noch Reich bei den "westlichen Marxisten" ein. Und was Freud betrifft, zählt er neben Roheim und Marcuse ausgerechnet Reich zu den Bewunderern des spekulativen Kulturkritikers und Metapsychologen Freud, der sich z.B. in Totem und Tabu und Das Unbehagen in der Kultur zeigte. Schon 1969 strotzte der Abschnitt über Reich nur so von Fehlern: Die Vegetotherapie sei "eine kuriose Mischung aus Yoga und Chiropraktik", die am Ende "im physischen Ausagieren von Geschlechtsverkehr in der Arztpraxis kulminiert" (S. 62). Der Akkumulator "war Reichs ultimative therapeutische Zuflucht, die angewendet wurde, wenn sowohl Charakteranalyse als auch Vegetotherapie versagt hatten: der Patient setzte sich einfach in die Kiste und absorbierte Orgonstrahlung" (S. 73). Auf diese Weise konnte Reich alle möglichen Krankheiten "von Hysterie bis Krebs" heilen (S. 65). Als Literaturhinweis für diesen Unsinn gibt Robinson Bradys Hetzartikel "The Strange Case of Wilhelm Reich" an (vgl. 15). Reichs Tod im Gefängnis, in das Brady ihn gebracht hatte, kommentiert Robinson: "So war das traurige aber (man kann sich des Gefühls nicht erwehren) angemessene Ende einer Karriere, die so absolut feierlich und so hoffnungslos grandios war, daß sie sich unmerklich in eine Farce auflöste."

 

 

6. DeMarchi: Der Urschock (1988)

Der italienische Reichianer Luigi DeMarchi stellt in seinem Alterswerk Der Urschock (12) die These auf, daß alles menschliche Elend auf den "existentiellen Schock" zurückzuführen ist, der dem "menschlichen Affen" widerfuhr, als dieser seiner Sterblichkeit und der letztendlichen Vergeblichkeit von allem gewahr wurde. Der italienische Originaltitel lautet übersetzt: "Äffchen, ich liebe Dich!". Diese Worte umreißen sehr schön den Grundimpetus von DeMarchis "humanistischer existentieller Psychologie". Es ist die Liebeserklärung an den "menschlichen Affen", der von seiner "Stiefmutter Natur" in eine kosmische Ödnis verbannt wurde, die er mit dem Bewußtsein durchwandern muß, zum Tode verurteilt worden zu sein und perverserweise nicht mal zu wissen, wann denn das Todesurteil vollstreckt wird: morgen oder erst in 30 Jahren?! Wir sitzen alle in der Todeszelle.

Alle Kultur, Philosophie, Religion und alle politischen Aufstände dienten nur dem Ziel, mit der unerträglichen Todesangst fertigzuwerden. Gefährlich wird diese Angst dadurch, daß die Menschen sie paranoid nach außen projizieren, wobei die vermeintlich "bösen" Gruppen wie "die Juden", "die Kapitalisten", "die Roten", etc. sozusagen "das Sterben übernehmen" müssen, damit der Sensenmann gesättigt an uns vorbeigeht. Der Ex-Linke DeMarchi verkündet hier eine radikale Absage an alle politischen Verkünder des Paradieses auf Erden. Auch sie würden dem "Urschock" ausweichen und ihr vermeintlicher Progressismus sei nur ein denkbar untauglicher Versuch den Tod zu besiegen. Es käme darauf an, daß wir uns mit "humanistischem Elan" gegen unseren wirklichen Feind, den Tod, solidarisieren und z.B. mittels Genmanipulation gegen ihn vorgehen.

DeMarchis Utopie ist realistisch. Am Horizont zeichnet sich ab, daß man wirklich jedes einzelne menschliche Organ (selbst Augen und Ohren) durch künstliche Geräte ersetzen kann. Man denke nur an die neuen "Reproduktionstechniken" und andere Fortschritte der Bionik, etwa das "künstliche Herz"! Das "Tier im Menschen", die Orgasmusfunktion wird bald überflüssig werden (vgl.
Hans Hass und der energetische Funktionalismus). DeMarchis Kampf gegen den Tod gilt also, orgonomisch betrachtet, in Wirklichkeit dem Leben, dem Lebendigen, denn sein logisches Ende ist ein "unsterbliches" kybernetisches Kunstwesen.

Für DeMarchi liegt der Ursprung der Panzerung im "existentiellen Urschock", den die ersten Menschen (offenbar dekadente "Existentialisten"!) erfuhren, als sie sich ihrer eigenen Sterblichkeit bewußt wurden. Reich habe die Sterblichkeit verdrängt. Ein bemerkenswerter Vorwurf, denn DeMarchi erwähnt an keiner Stellle Reichs Konzept einer Todesenergie (DOR). Reich wies 1955 in seinem Aufsatz "Die emotionelle Wüste" auf den "wohlverborgenen Haß" gegen jeden hin, "der auf die Existenz einer tödlichen, übelriechenden DOR-Energie hinweist" und auf "die grundsätzliche Neigung, alles, was mit Genitalität, dem System der Energieentladung, zu tun hat, zu 'verbergen'." Diese Verdrängung sei Ausdruck der grundlegenden Tatsache, daß das DOR im eigenen Organismus selbst zum Preis des Todes verborgen werden muß (37). Man bekommt den Eindruck, daß genau dies DeMarchis Problem ist.

Es ist erhellend, kurz die beiden grundverschiedenen Ansätze, mit dem Tod umzugehen, Revue passieren zu lassen: In Die Massenpsychologie des Faschismus (34) hat Reich die biophysischen Auswirkungen der ersten industriellen Revolution beschrieben, in deren Folge sich der Mensch mit der Dampfmaschine identifizierte, so daß er sich selbst in ein maschinenartiges Anhängsel der Maschine verwandelte. Reich nannte das "Maschinenmenschentum" und verwies insbesondere auf den Stalinismus und Faschismus. Man denke an die "futuristischen" Ursprünge des Bolschewismus in Rußland und des "Fascismus" in Italien. Marinettis Futuristisches Manifest von 1912 schließt mit der Hoffnung, daß die "Maschinisierung" des Menschen den Tod besiegen werde. Das läßt sich bis auf die Träume des 17. und 18. Jahrhunderts vom Maschinenmenschen im Anschluß an Descartes zurückverfolgen. (Sehr schön in Fellinis Film Casanova dargestellt.) In dieser Tradition steht DeMarchi.

Gleichzeitig gibt es aber auch einen Aspekt des Reichschen Werkes, der Parallelen zu DeMarchis Kampf gegen den Tod aufweist: Mit seiner "einzigen Entdeckung", der "Funktion der orgastischen Plasmazuckung" (39:3), hat Reich aufgezeigt, was das Phänomen "Leben" überhaupt ausmacht. 1927 konstatierte er die Abhängigkeit des "Destruktionstriebes", bzw. des Freudschen "Todestriebes", von der Libidostauung aufgrund orgastischer Impotenz und schrieb: "Es mag kein Zufall sein, daß mit dem Versiegen der individuellen Quelle des Eros (des Lebenstriebes) die Involution einsetzt, die zum Sterben führt" (33:155). Ein Jahrzehnt später diskutierte Reich das Verlöschen der Quellungs-Ladungs-Funktion beim Tod und die Frage ob ihre Restitution möglich sei: "Einmal werden sich die Mittel finden, die Funktionen wieder herzustellen, vor allem Quellung und Ladung. Doch solche Hoffnungen gehören der naturwissenschaftlichen Träumerei an. Wir wollen sie uns nicht versagen. Aus manchem Traum von heute wird die Wirklichkeit von morgen!" (44:207). Wiederum ein Jahrzehnt später läßt Reich durchblicken, daß die Bekämpfung des Krebses (= verfrühter Tod) letztendlich Todesbekämpfung ist (35:256). Ein weiteres Jahrzehnt später schreibt er: "Das Leben bewegt sich gegenwärtig, unter den gegebenen Umständen, auf Messers Schneide zwischen zwei Arten des Todes. Wie es sich damit verhalten wird, nachdem das Leben sich seiner selbst und seiner Funktionsweise bewußt geworden ist, können wir nicht sagen. Es liegt im Bereich des Möglichen, sogar im Bereich des Wahrscheinlichen, daß das Leben auf der Grundlage des Wissens, das es sich über das Leben anzueignen im Begriff steht, neue, sicherere, breitere Seinsweisen für sich selbst gestalten und schaffen wird" (48:186).

Problematisch wird dieser Kampf gegen die Vergänglichkeit, wenn sie nicht als Orgonenergie-Operation, sondern mechanistisch verstanden wird. Entscheidend für die Orgonomie ist weniger die Trennung zwischen naturgegeben und menschengemacht (so als wäre der Mensch nicht Teil der Natur!), sondern zwischen ungepanzert und gepanzert, zwischen OR und DOR. Deshalb ist der Kampf gegen die Vergänglichkeit Kampf gegen DOR. Wie das obige Zitat aus der deutschen Übersetzung von Contact with Space gezeigt hat, kann man dies nicht auf einen Konflikt zwischen natürlich und künstlich verkürzen, denn die Artefakte des Menschen, etwa die Erfindungen Reichs, ermöglichen die Verbreiterung des Raumes, in dem sich das Lebendige weiter und besser entfalten kann, als es bis jetzt in der "natürlichen" Evolution möglich war.

Bei dieser "Ausweitung des Lebensraumes" muß man zwei Arten von "Vitalisierung der Materie" auseinanderhalten: 1. können im Sinne des Bionexperiments die physikalischen Elemente Spannung-Entspannung und Ladung-Entladung so kombiniert werden, daß Leben entsteht; und 2. kann das Leben die tote Materie "verlebendigen", indem es sich die Materie dienstbar macht.

Ist "Leben" kosmische Energie, die innerhalb einer Membran pulsiert, dann ist, "nach unten" geblickt, diese kosmische Energie die spezifische Lebensenergie. So gesehen lebt die "unbelebte Natur"! Schauen wir umgekehrt "nach oben" kann man den funktionellen Erweiterungen jener "pulsierenden Membran" das Leben sicherlich ebenfalls nicht absprechen! Obwohl weder in der kosmischen Energie noch in diesem Füllfederhalter, den ich als Erweiterung meiner selbst hier in meiner Hand halte, die Orgasmusformel am Werk ist! Wir rechnen doch auch die "toten" Produkte der Epidermis, die Haare, zum Leben! Tot werden sie erst auf dem Boden des Frisiersalons, wenn sie ihre Funktion verloren haben. Werden sie wieder "lebendig", wenn man sie zur Perücke macht? (vgl. Hans Hass und der energetische Funktionalismus).

Der "technische" Kampf gegen den Tod im Sinne DeMarchis ist der Orgonomie also durchaus nicht wesensfremd, trotzdem sind beide Ansätze letztendlich diametral entgegengesetzt.

 

 

7. Kornbichler: Wilhelm Reich (1989)

Marxisten, Psychoanalytiker und andere "Wertetheoretiker" werfen der Orgonomie ein primitives, biologistisch-naturalistisch verkürztes Menschenbild vor. Und Reich sprach ja tatsächlich von einer naturwissenschaftlichen Lösung der sozialen Tragödie des Menschentiers, dessen kulturelle Lebensformen unmittelbar von seiner biologischen Sexualbefriedigung abhängen, so daß z.B. unsozial identisch mit "unbiologisch" ist (siehe 34:67.335.340). Reich ist davon ausgegangen, daß die Trennung von Biologie und Soziologie künstlich sei, letztlich in die Metaphysik der "objektiven Werte" führe und imgrunde auf der patriarchalen Dichotomie von sexuell-sinnlich (sündige Natur) und asexuell-geistig (kulturelle Reinheit) beruhen würde.

Auf der Grundlage von Alfred Adlers "moralwissenschaftlicher" Individualpsychologie ist Thomas Kornbichler in seinem Buch über Wilhelm Reich (18) angetreten, wieder einmal die Kultur gegen Reichs naturwissenschaftliche Sexualökonomie auszuspielen. Er steht dabei in der Tradition der metaphysischen Entartung der Psychoanalyse, die mit Freuds Bändigen und Herrwerden über das Triebleben begann. Bei Jung führte sie zum "kollektiven und überindividuellen Unbewußten" und bei Adler zu einer idealistischen Kulturtheorie, die auf überindividuellen Werten beruhte. Diese Werte äußern sich im Gemeinschaftsgefühl, dem der pathologische individuelle "Wille zur Macht" gegenübersteht (siehe 49).

Mit diesem Rüstzeug versucht Kornbichler, Reich und seine Lehre zu demontieren. Praktisch alles wird auf Reichs "Willen zur Macht" zurückgeführt und gegen sein mangelndes "Gemeinschaftsgefühl" ausgespielt. Über seine "Sexualideologie" habe Reich ("auch") persönliche Machtinteressen verfolgt, seine Beschreibung der orgastischen Potenz wäre in ihrer "mechanistischen Sprache" selber orgastisch impotent und letztlich nur ein Werkzeug im "Kampf der Geschlechter um die Macht", so daß die Orgasmustheorie das Problem sei, das zu heilen sie vorgibt. Auch "seine Orgontheorie entpuppte sich als Rationalisierung heimlicher Machtambitionen". Reich sei am Ende in den paranoiden "Wahn einer göttlichen Position" geraten.

Reich sah, daß irrationale Machtinteressen auf der Kompensation unerfüllten Liebesglücks infolge orgastischer Impotenz beruhen. Der Individualpsychologe Kornbichler sieht in der Sexualität nur ein weiteres Schlachtfeld des "Willens zur Macht", das durch die kulturellen Werte befriedet werden muß. Der kulturelle Wille bändigt die Natur - und die Individualpsychologie erweist sich als das Problem, das zu heilen sie vorgibt.

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Kornbichler gibt die Meinung des Individualpsychologen Prof.Dr.Dr. Josef Rattner wider, der über Reich sagt: "Es muß irgend etwas in seinem eigenen Wesen gegeben haben, was ihn die bunte Vielfalt der seelischen Erscheinungswelt auf die Sexualität reduzieren ließ. Vielleicht war es sein deutlich hypomanischer Zustand, seine herrschsüchtig-autistische Verfassung, die im Mitmenschen ein gefühlsmäßig und geistig bestimmtes Gegenüber nicht wahrhaben konnte. Menschen wurden ihm zu Verkörperungen von Orgasmus und Nicht-Orgasmus, eine grandiose Vereinfachung, wie sie im Weltbild von Paranoikern nicht selten vorkommt" (29).

Reichs "Orgonologie" verkörpert all das, wogegen Rattner in seiner "Enzyklopädie der Tiefenpsychologie" (29) vehement zu Felde zieht, nämlich einen "übersteigerten Materialismus". Rattner macht Reich dessen "naturalistisch-rationalistischen Ansatz", "engstirnigen Materialismus", "Pansexualismus" und schließlich "naturwissenschaftlichen Mystizismus" zum Vorwurf. Nur gut, daß Edelmenschen wie Rattner sich von aller Wissenschaftlichkeit hin zu wahrer Menschlichkeit emanzipiert haben: "Unter dem Banner des Marxismus: vergilbte Hefte. Im Ernst, er kämpfte gegen Unterdrückung, hat vielen geholfen... Danach nur noch Kauderwelsch, Science Fiction. Lebensbläschen gegen die emotionale Pest. Vegeto-Bio-Orgon-Energetik, kurz: Der Orgasmus ist der Orgasmus ist der Orgasmus. O Dr. Mabuse! O Maniak der Erlösung! O Rosenkreuzer des Ficks! O Billiger Jakob der Wissenschaft! O Bauchredner Christi! O hilfloser Helfer der Menschheit! O mystischer Technokrat! O Kabbalist aus dem Horrorfilm! O kaputter Befreier! ... Er, der Entdecker, in Handschellen vorgeführt, verweigert jegliche Auskunft. Sein Plädoyer ist wirr, er stockt, endlich verstummt er." Dergestallt zitiert die edle Seele Rattner ein Gedicht Enzensbergers über Reich. Es fasse sein, Rattners, Urteil über Reichs Persönlichkeit "treffend zusammen".

 

(weiter zu Teil 2)

 

 

 

Literatur

  1. Baker, E.F.: "My Eleven Years with Wilhelm Reich" Journal of Orgonomy, Nov. 1976
  2. Baker, E.F.: Der Mensch in der Falle, München 1980
  3. Bechmann, A.: Über Wilhelm Reichs OROP Wüste, Frankfurt 1995
  4. Beeler, U.: Das Sexuelle Manifest, CH-Schwyz 1988
  5. Beeler, U.: Gegen Militär und ZS-Zwang, CH-Schwyz 1989
  6. Beeler, U.: Die Notizen, CH-Schwyz 1989
  7. Beeler, U.: Der Irrationalismus in der Menschenmasse, CH-Schwyz: Inpuls, 1990
  8. Beeler, U.: Der rabiate Jesus in Schwyz, CH-Schwyz 1990
  9. Berg, H.v.: Marxismus/Leninismus, Köln 1986
  10. Berggrav, K.: "Personal Recollections of Reich and His Work" Journal of Orgonomy, May 1974
  11. Buhl, H.: "Vegetatives Nervensystem und energetische Medizin: Gesundheit, Krankheit und Körpertherapie" emotion Nr. 11, 1994
  12. DeMarchi, L.: Der Urschock. Unsere Psyche, die Kultur und der Tod, Darmstadt: Luchterhand Literaturverlag, 1988
  13. DeMeo, J.: Saharasia, Greensprings, Oregon 1998
  14. Gäng, P., U. Hausmann: Über Wilhelm Reichs "Christusmord", Frankfurt: Zweitausendeins, 1997
  15. Greenfield, J.: USA gegen Wilhelm Reich, Frankfurt 1995
  16. Herskowitz, M.: Emotional Armoring, Hamburg 1997
  17. Konia, C.: "Orgone Therapy" Journal of Orgonomy, 1986-1995
  18. Kornbichler, T.: Wilhelm Reich - Enfant Terrible der Psychoanalyse. Jenseits von Sigmund Freud?, Berlin: Guhl, 1989
  19. Laska, B.: http://www.lsr-projekt.de
  20. Lassek, H.: "Vegeto-/Orgontherapie nach Wilhelm Reich", in: J. DeMeo: Der Orgonakkumulator. Ein Handbuch, Frankfurt 1994
  21. Lassek, H.: "Medizinische Orgonomie mit Orgonakkumulator und Vegeto-Therapie", in: J. Fischer: Orgon und DOR Berlin 1995
  22. Lassek, H.: Über Wilhelm Reichs Bionexperimente, Frankfurt 1995
  23. Lassek, H.: "Die drei Energietypen des Menschen" emotion Nr. 12/13, 1997
  24. Lassek, H.: Orgon-Therapie. Heilen mit der reinen Lebensenergie. Ein Handbuch der Energiemedizin, Bern: Scherz, 1997
  25. Lassek, H.: "Die drei Energietypen des Menschen" In: Lassek (Hrsg.), H.: Lebensenergie-Forschung, Berlin 1997
  26. Maaz, H.-J.: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin: Argon, 1990
  27. Martin, J.: Wilhelm Reich and the Cold War, Fort Bragg, California 2000
  28. Müschenich, S.: Der Gesundheitsbegriff im Werk des Arztes Wilhelm Reich, Marburg 1995
  29. Rattner, J.: Klassiker der Tiefenpsychologie, München: Psychologie Verlags Union, 1990
  30. Reich, W.: "Orgonotic Pulsation" International Journal of Sex-Economy and Orgone-Research Vol. 3, October 1944
  31. Reich, W.: The Murder of Christ, Rangeley, Maine 1953
  32. Reich, W.: Die sexuelle Revolution, Frankfurt 1971
  33. Reich, W.: Die Funktion des Orgasmus, Frankfurt 1972
  34. Reich, W.: Die Massenpsychologie des Faschismus, Frankfurt 1974
  35. Reich, W.: Der Krebs, Frankfurt 1976
  36. Reich, W.: Ausgewählte Schriften (Auszüge aus CHRISTUSMORD), Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1976 (übersetzt von Lieselotte und Ernst Mickel)
  37. Reich, W. "Die emotionale Wüste" In: Ausgewählte Schriften, Köln 1976
  38. Reich, W.: Christusmord, Olten und Freiburg i.Br.: Walter, 1978 (übersetzt von Bernd A. Laska)
  39. Reich, W.: Äther, Gott und Teufel, Frankfurt 1983
  40. Reich, W.: Christusmord, Berlin: Ullstein, 1983
  41. Reich, W.: Die bio-elektrische Untersuchung von Sexualität und Angst, Frankfurt 1984
  42. Reich, W.: Charakteranalyse, Köln 1989
  43. Reich, W.: Leidenschaft der Jugend, Köln 1994
  44. Reich, W.: Die Bionexperimente, Frankfurt 1995
  45. Reich, W.: Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral, Köln 1995
  46. Reich, W.: Christusmord, Frankfurt: Zweitausendeins, 1997 (übersetzt von Waltraud Götting)
  47. Reich, W.: Jenseits der Psychologie, Köln 1997
  48. Reich, W.: Das ORANUR-Experiment (II), Frankfurt 1997
  49. Roner, W. [d.i. Reich]: "Die Funktion der 'objektiven Wertewelt'" Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie, 1935
  50. Robinson, P.: The Freudian Left. Wilhelm Reich, Geza Roheim, Herbert Marcuse, 2. edition, with a new preface by the author, Ithaca, NY: Cornell University Press, 1990
  51. Runge, W.: "Auswirkungen einer körperzentrierten Interventionstechnik" In: Lassek (Hrsg.), H.: Lebensenergie-Forschung, Berlin: Simon + Leutner, 1997
  52. Sharaf, M.: Fury on Earth, New York 1983
  53. Sharaf, M.: Wilhelm Reich. Der heilige Zorn des Lebendigen, Berlin: Simon + Leutner Verlag, 1994

 

 


Fußnoten

(1) Sie wurde für die Übertragung des Buches The Art of Growing Old des walisischen Schriftstellers John Cowper Powys mit EUR 10 000 ausgezeichnet.

(2) Der Untertitel von Orgon-Therapie lautet übrigens "Heilen mit der reinen Lebensenergie"!

(3) Das gilt auch für Lasseks Bion-Forschung. Beispielsweise rätselt er in seinem Beiheft Über Wilhelm Reichs Bionexperimente über Reichs Lichtquelle beim Mikroskopieren (22:18). Es war schlicht und ergreifend die Sonne, wie jeder weiß, der die Literatur kennt! (10). Lassek rätselt, was es denn um Reichs Mikroskop für eine Bewandtnis hatte (22:18f). Aus der Literatur müßte er wissen, daß es speziell für Reich hergestellt wurde! (10). Lassek wendet ein, in der Bouillon selbst hätte es vielleicht Strukturen geben können (22:32). Doch Reich hat filtrierte Bouillon benutzt (35:43). Lassek behauptet, Flimmerhärchen hätte Reich mit seiner Mikroskopiertechnik gar nicht wahrnehmen können und seine bio-elektrische/orgonotische Erklärung wäre deshalb obsolet (22:24). Doch in Der Krebs ist Reich durchaus auf die Flimmerhärchen eingegangen und warum es sich bei den betreffenden Phänomenen doch um bio-elektrische/orgonotische handelt! (35:75). Reichs Frage, wie es möglich sein konnte, "daß das gekochte Präparat mehr Leben aufwies als das ungekochte, unsterile, offene", kommentiert Lassek allen ernstes dahin, daß Reich wahrscheinlich nicht "Leben", sondern "Bewegung" sagen wollte, wegen der thermischen Bewegung nach dem Kochen! (22:24). Doch Reich meinte eindeutig die Bione, die in gekochten Präparaten mehr auftreten als in unsterilen. Irgendwie scheint Lassek Reich für ziemlich schwachsinnig zu halten! Skandalös sind in dieser Hinsicht auch seine beiden Anmerkungen auf S. 32 von Über Wilhelm Reichs Bionexperimente.

(4) 1944 schrieb Reich: "Wenn wir nicht vorsichtig vorgehen, könnten durchaus einige Generationen von Mystikern erstehen, die das Orgon metaphysisch, losgelöst von der nicht-lebenden Natur und nicht vom Standpunkt der Naturwissenschaft her verstehen. Und ich denke, wir haben bereits mehr als genug Mystizismus in dieser Welt" (30:150).

(5) Natürlich geht es dabei nicht "nur" um Sexualität oder gar "Sex", sondern generell um die energetische Streckung des Lebensapparats, d.h. um Lust (vgl. 41).

(6) Diese Haltung findet man ansonsten vor allem bei sogenannten "Esoterikern". Dahinter steht stets die Verachtung für das Genital "da unten" (vgl. Die Massenpsychologie des Buddhismus).

(7) Robinson faßt das Ergebnis von Roheims Feldstudien in Australien wie folgt zusammen: "Die Bedeutung der australischen Toleranz und Freizügigkeit wurde von Roheim in einem einzigen Satz resümiert: 'Der Aranda [-Aborigines] ist ein glücklicher Mensch.' Triebbefriedigung führte zu psychischer Gesundheit. Roheims Beobachtungen über die Australier erhärteten praktisch Reichs Grundannahme über die Beziehung von Sexualität und Glück. [Ansonsten beharrte Roheim natürlich streng darauf, daß die Kultur nur auf der Unterdrückung der Triebe und damit auf dem Unglücklichsein errichtet werden könnte! PN] Als Ergebnis der fast vollständigen Abwesenheit von Verboten, entwickelten die Australier gesunde 'genitale' Charakterstrukturen. Roheim fand bei den Primitiven keine Belege für Impotenz oder Frigidität und nur ein paar 'zweifelhafte Symptome' von sadomasochistischen Perversionen. Die Australier waren in hohem Maße rational und scheinbar zur Gewaltherrschaft und Intoleranz unfähig, die in der modernen Kultur so vorherrschend ist. Sie waren 'ein außergewöhnlich angenehmes Volk, mit dem man leicht zurecht kam, hilfsbereit gegenüber jenen (...) die sich in einer Notlage befanden und so unneurotisch und frei von Ängsten, wie nur irgendein menschliches Wesen sein kann'" (S. 142).

(8) "Je befriedigender das Geschlechtsleben ist, desto voller und freudiger ist auch die Arbeitsleistung" (34:264).


zuletzt geändert
08.03.19

 

 


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