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DIE EMOTIONELLE PEST

 

 

Nietzsche ist in vieler Hinsicht der Christus des 19. Jahrhunderts. Wie sein Vorgänger Jesus, war er einerseits ein Herold der Orgonomie, andererseits aber auch eine archetypische Verkörperung des Blauen Faschismus.

 

 

DER VERDRÄNGTE NIETZSCHE

Peter Nasselstein

 

Ich kehre immer wieder zu Nietzsche zurück, zu diesem Mann des weiten Blickfeldes und des großen Leidens. Sein Schicksal war es, aus dem heraus, was er wahrnahm, aber nicht verstand, für die gesamte Menschheit zu leiden.

Wilhelm Reich, 1947 (41:432)

 

Nietzsche war ein "Seismograph", der wie kein anderer die Erschütterungen wahrnahm, die mit dem Beginn des chaotischen Zusammenbruchs der gesellschaftlichen Panzerung einherging.(1) Im 20. Jahrhundert nahmen diese Erschütterungen kataklysmische Ausmaße an, so daß es nur natürlich ist, daß Nietzsche wie kein anderer Denker das vergangene Jahrhundert geprägt hat. Warum er immer populärer wird, hat aber auch einen zweiten Grund: er hat vorgezeichnet, wie man das durchbrechende Lebendige sozusagen "auffangen" und die Panzerung auf höherem Niveau, vor allem aber auf einer glaubhafteren, nämlich "aufgeklärten" Basis, rekonstruieren kann.

Auf diese Weise verkörperte er selbst am besten das, was er auf Wagner gemünzt über den modernen Menschen schrieb, nämlich einen "Widerspruch der Werte": "er sitzt zwischen zwei Stühlen, er sagt in einem Atem Ja und Nein." Eine Diagnostik dieser "modernen Seele" beginnt mit der Freilegung der Widersprüchlichkeiten ihrer Instinkte und Werte, "der Vivisektion vollzogen an ihrem lehrreichsten Fall", in der die Falschheit Fleisch geworden ist (6:52f). Wohlan:

 

 

1. Nietzsche, Wegbereiter Reichs

Nietzsche betrachtet sich selbst als bloßen Herold und Vorläufer der "Philosophen der Zukunft" (5:59-63). Welcher Art diese Zukünftigen sein sollen, wird daran deutlich, wie Nietzsche auf seine eigene Vergangenheit zurückschaut: ähnlich wie Reich, der stets bedauerte, daß er so viele Jahre seines Lebens mit der Psychoanalyse vergeudet hatte, behauptet Nietzsche, eingedenk seiner Zeit als klassischer Philologe, später nichts als Physiologie, Medizin und Naturwissenschaft getrieben zu haben (6:325).

Als "Physiologe und Vivisektor des Geistes" (5:341) versetzt er sich in das Innere des Menschen, so wie ein Naturforscher sich in die Natur begibt, um aus einzelnen Naturphänomenen weitreichende Rückschlüsse auf das Gesamtsystem zu ziehen. Entsprechend bedient sich Nietzsche "der Person nur wie eines starken Vergrößerungsglases, mit dem man einen allgemeinen, aber schleichenden, aber wenig greifbaren Notstand sichtbar machen kann" (6:274).

Die ihm zugänglichen Erkenntnisse der Naturwissenschaft überträgt er auf das Seelenleben des Menschen.(2) Zum Bloßlegen untergründiger Bewegungstendenzen benutzt er jedoch nicht die Mittel der Mathematik, um eine entsprechende Linie durch das Wirrwarr der Einzelerscheinungen zu ziehen, sondern als "ästhetischer Mensch" (5:341), als "Künstler-Philosoph" (12:89), verläßt er sich durchgehend auf seine "ästhetische" Intuition. Der entsprechender Ansatz wird vielleicht durch seine Anmerkung greifbarer, daß wir von Tier und Pflanze lernen müssen, was "Blühen" ist (orgonomisch spräche man vielleicht von "Erstrahlung") und von dieser Warte aus den Menschen neu betrachten. Dann könne der bleiche, ausgemergelte, "zeugungsunfähige", von Schuldgefühlen geplagte Mensch nicht mehr das Ideal sein. Nietzsche fügt an, daß es in uns eine "Entartung" gegeben haben muß, die "einen so schlechten Geschmack", also das Fehlen der besagten Intuition, erzeugt hat. Er, Nietzsche, bekämpfe diesen "schlechten Geschmack" (9:327). Das Übel und die Unmöglichkeit es zu erkennen und zu bekämpfen sind eins!

Ein "Philosoph als Künstler" (11:489) wie Nietzsche bietet uns die Möglichkeit, durch die "Löcher in der Panzerung" (die aus einem gewöhnlichen Philosophen einen "Künstler-Philosophen" machen) in eine andere Welt jenseits der besagten "Entartung" zu blicken, d.h. objektiv zu sein. In diesem Sinne gibt er "in der Hauptsache" den Künstlern mehr recht als den bisherigen Philosophen, denn die Künstler folgten ihren Sinnen und verloren deshalb "die große Spur nicht, auf der das Leben geht" (11:587). Die "Widersinnlichkeit" der bisherigen Philosophie, ist "der größte Widersinn des Menschen", deshalb gilt es, sich an die Sinne zu halten und sie sozusagen zu Ende zu denken (11:128).

Er unterstreicht, daß wir genau in dem Ausmaß Wissenschaft besitzen, als wir dem Zeugnis der Sinne folgen, die wir allenfalls schärfen und "bewaffnen" müssen (etwa durch Mikroskope). Ansonsten bleiben wir entweder in Metaphysik, Theologie, "Psychologie" und Erkenntnistheorie stecken oder bloßer "Formal-Wissenschaft" verhaftet wie der Logik und ihrer Anwendung, der Mathematik. In ihnen kommt, so Nietzsche, die Wirklichkeit gar nicht vor, "nicht einmal als Problem". Auch wird nie die Frage gestellt, welchen Wert für das Leben Zeichen-Konventionen, wie die Logik, überhaupt haben (6:76). Das ist Reich pur, inklusive der Skepsis gegenüber der "formalen Logik" und "höheren Mathematik".(3)

Begriffe, die verschiedene Dinge zusammenfassen, sind für Nietzsche nicht Verlautbarungen einer abstrakten Logik, sondern ein biophysiologischer Ausdruck. Worte (etwa "Baum") gehen mit einer gewissen, wenn auch vielleicht nur schwachen Emotion einher. Die Grundlage des Begriffs, das Gemeinsame der "Bäume", ist, so Nietzsche, diese Emotion. Entsprechend geht er davon aus, daß der ganze Organismus denkt und das Gehirn nur "ein enormer Zentralisations-Apparat" ist (11:279f). Aus der Selbstbespiegelung des Geistes sei noch nichts Gutes erwachsen. Erst seitdem man sich, auch was die geistigen Vorgänge betrifft, am "Leitfaden des Leibes" orientiert, komme man von der Stelle (11:249.266).

Die (man möchte fast sagen singuläre) Übereinstimmung mit Reich könnte gar nicht größer sein: man denkt mit dem ganzen Körper. Entsprechend meint Nietzsche, man solle "keinem Gedanken glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, - in dem nicht auch die Muskeln ein Fest feiern" (6:281). Er hat sich seine Schriften buchstäblich erwandert.

In der Vorrede von Die fröhliche Wissenschaft führt er aus, daß der Philosoph nicht zwischen Leib und Seele trennen, sondern nur aus seinem ganzen Wesen schöpfen kann, welches er "beständig in Licht und Flamme verwandelt" (3:349f). Über sich selbst schreibt er, daß er weder Geist noch Körper ist, "sondern etwas Drittes". Er leide, wie er am 31.12.1882 an seinen Freund Franz Overbeck schrieb, stets "am Ganzen und im Ganzen" (15). Er habe seine Schriften immer mit seinem "ganzen Leib und Leben" geschrieben und wisse nicht, was "rein geistige" Probleme seien (9:170).

Nietzsche untergräbt die rationalistische Sprachauffassung, indem er zeigt, daß es keine Korrelation zwischen Sprache und Wirklichkeit gibt. Deshalb ist alle Philosophie und Religion, also alle "Metaphysik", null und nichtig. Berühmt ist sein Satz, wir würden Gott solange nicht los, wie wir noch an die Grammatik glauben (6:78). Gleichzeitig vertritt er jedoch die Ansicht, daß die Sprache als unmittelbarer, d.h. durch Reflexion unverdorbener emotionaler Ausdruck, das Leben unverzerrt wiedergibt. Während die "Denkwirtschaft" (7:739f) am "Kolumbarium der Begriffe, der Begräbnisstätte der Anschauung" (1:886) arbeitet, redet der Lyriker fern von bloßer "Subjektivität", um mit dem jungen Nietzsche zu reden, "aus dem Abgrunde des Seins" heraus (1:44). Der extreme Sprachkritiker Nietzsche setzt folgerichtig auf die lebendige "Anschauungsmetapher" (1:882) und spricht von der "Gefühlsrede" (1:489) und "Leiblichkeit des Ausdruckes" (1:487).

Zwar behauptet er, daß von "irgendeiner Kongruenz des Gedankens und des Wirklichen" nicht die Rede sein könne, doch fährt er im nächsten Satz fort, die Wirklichkeit sei nur "irgendeine Triebbewegung" (9:263). Unser Wissen ist die "abgeschwächteste Form unseres Trieblebens" (9:210). Aus ähnlichen Überlegungen heraus kann für Reich nur der ungepanzerte Organismus wirklich objektiv sein. Entsprechend harmonieren Reich und Nietzsche auch in ihrer Haltung zu Kants "Kritik der Reinen Vernunft", die infrage stellt, ob wir etwas Gesichertes über unsere Umwelt erfahren können. Nietzsche stellt die umgekehrte Frage: Ist es nicht widersinnig, daß ein Werkzeug seine eigene Tauglichkeit kritisieren, d.h. der Intellekt selbst seine Grenzen erkennen soll? (3:13). Das entspricht Reichs Auseinandersetzung mit Kants Vernunftkritik bzw. "Sinnesorgan-Kritik" in Äther, Gott und Teufel (36).

Man kann den "aufklärerischen" nicht vom "dionysischen" Nietzsche trennen: sein "semantischer Nihilismus" und die unauslotbaren Dionysos-Dithyramben, mit ihrer Einheit von Emotion, Musik, Lyrik und Rede jenseits aller starren Begrifflichkeit, bedingen einander. Was ganz Reichs Auffassung entspricht, der sich einerseits gegen das Intellektualisieren als Ersatzkontakt wandte und die Wortfixiertheit der Psychoanalyse überwinden wollte, andererseits aber immer wieder feststellte, daß Metaphern, wie etwa die sprichwörtliche "Hartnäckigkeit" oder "Halsstarrigkeit", biophysische Realität paßgenau wiedergeben. Kontaktvolle Sprache orientiert sich, Nietzsche zufolge, am bereits erwähnten "Leitfaden des Leibes" (11:565). Entsprechend will Nietzsche die chimärenhafte "Seele" durch den lebendigen Leib ersetzen (11:565). Man "tut" nicht, man "wird getan", "in jedem Augenblicke!" (3:115).

Nietzsche zufolge kann man seine eigenen Gedanken nicht ganz in Worten wiedergeben (3:514). Auch die Gedanken selbst sind bloße "Schatten unserer Empfindungen" - "immer dunkler, leerer, einfacher, als diese" (3:502). "Unsere Instinkte sind besser als ihr Ausdruck in Begriffen" (11:244). Das "Geistige" ist nur ein Mittel, durch das sich ein höherer Leib bilden will (10:655f).

Alles keine sonderlich bemerkenswerten Aussagen, wäre Nietzsche nicht so spezifisch. Beispielsweise spricht er davon, daß "die Katze Mensch" immer wieder auf ihr eines Bein "Ich" zurückfalle, sei Symptom der physiologischen "Einheit" oder besser gesagt "Vereinigung" und biete keinen Anlaß, an eine "seelische Einheit" zu glauben (12:29).(4) Bewußtsein beginnt mit der Koordination der von außen kommenden "Eindrücke". Anfänglich erfolgt dieser Prozeß weit außerhalb des biologischen Zentrums des Organismus, nähert sich diesem Mittelpunkt aber beständig an (12:295).

Auf den "peripheren" Ursprung des Bewußtseins verweist Nietzsche auch, wenn er darauf hinweist, daß das "Ich-Bewußtsein" nicht nur "hinzukommt, wenn der Organismus fertig fungiert", d.h. die "Einheit aller Funktionen" des Organismus hergestellt ist, sondern eine weitere Bedingung darin besteht, daß wir uns selbst einem "höheren Ganzen", er nennt Völker, Staaten und Gesellschaften, als Funktion einordnen. Auf uns selbst gestellt brauchen wir kein "Bewußtsein des Ich" (9:563). Generell ist Bewußtsein "im Verkehr entwickelt, und in Hinsicht auf Verkehrs-Interessen" (13:68).

In welchem Ausmaß seine Bewußtseinstheorie quasi "orgonomisch" ist, zeigt sich daran, daß er den Menschen als einen "Haufen von Leidenschaften" betrachtet, "welche durch die Sinne und den Geist in die Welt hineingreifen" (10:207). Selbst unsere "hochgeistigsten" Ideale werden von unseren Trieben gesetzt, "um unsere Triebe recht zu befriedigen", das nennt man dann "idealisieren" (9:336f). Nietzsche bezeichnet die Triebe als "schaffende Künstler" (9:354). Deshalb könnten wir unseren Trieben vertrauen, denn "sie werden schon wieder Ideale schaffen! wie es die Liebe immerfort tut" (9:353). Ein neues Ideal entsteht, wenn "ein anderer Trieb zur Herrschaft kommt" (9:396). Entsprechend gilt für Nietzsche als Lebensmaxime, das "Rechte und Naturgemäße" sei, "ohne Grundsätze" zu leben, "aber mit Grundtrieben, ein beweglicher Geist im Dienste starker Grundtriebe, und eben deshalb ohne Grundsätze" (3:149).

Wenn er von "Werten" und deren "Umwertung" spricht, redet er "unter der Optik des Lebens: das Leben selbst zwingt uns Werte anzusetzen, das Leben selbst wertet durch uns, wenn wir Werte ansetzen..." (6:86). Und wir müssen Werte setzen, "denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Notwendigkeit des Perspektivischen und des Irrtums" (1:18). Rebellieren wir, im Namen der "Natur", gegen diesen Wahn, gehen wir zugrunde, da die "Verengerung der Perspektive" eine Lebensbedingung ist und deshalb "Natur" und "natürlich" (5:108-110). Der Irrtum ist der "Vater des Lebendigen" (9:545). "Weisheit", etwa im Sinne der Inder, ist der "Versuch über die perspektivischen Schätzungen (d.h. über die 'Willen zur Macht') hinwegzukommen" und deshalb "ein lebensfeindliches und auflösendes Prinzip" (12:190).

Der besagte "Irrtum" ist alles andere als Willkür eines von der Wirklichkeit abgeschnittenen Denkens, also keine Folge von Kontaktlosigkeit, sondern ganz im Gegenteil Ausdruck des Vertrauens in Leib und "Welt", die letztendlich weitaus schlauer sind als unser Denken. Deshalb gilt für Nietzsche: "wesentlich, vom Leibe ausgehen und ihn als Leitfaden (...) benutzen" (11:635). Ohnehin gebraucht die Natur das Gehirn nur, "um dem Unterleibe eine Funktion zu erleichtern und umgekehrt" (9:95). Unsere "moralischen Urteile und Wertschätzungen" sind nur "Bilder und Phantasien über einen uns unbekannten physiologischen Vorgang" und unser "sogenanntes Bewußtsein" ist, so Nietzsche, nur ein "mehr oder weniger phantastischer Kommentar über einen ungewußten, vielleicht unwißbaren, aber gefühlten Text" (3:113; Hervorhebung hinzugefügt).

Das Bewußtsein ist eine bloße "Oberfläche" (6:294), hinter ihr "arbeiten die Triebe" (11:621). Die uns ins Bewußtsein tretenden Motive unseres Handels sind nur "Oberflächen-Phänomene", hinter denen der Kampf unserer Triebe um die Übermacht steht (12:15). Denken ist demnach ein Verhalten der Triebe zueinander (5:54). Der Intellekt ist bloßes Werkzeug unserer Triebe und wird niemals frei (9:229). Er ist eine Maskerade, ein "Mantel" (5:168). Denken hat, so Nietzsche, nichts mit dem logischen Schritt von einem Gedanken zum nächsten zu tun, denn zwischen den Gedanken "waltet eine Zwischenwelt ganz anderer Art": die Triebe (11:477). "Zwischen zwei Gedanken spielen noch alle möglichen Affekte ihr Spiel" (13:53f). Gedanken "sind Symptome des eigentlichen Geschehens": dem Machtspiel der Triebe und Affekte (12:26). Denken ist nur "ein gewisses Verhalten der Triebe zueinander" (3:559), nur "eine Zeichensprache für den Machtausgleich von Affekten" (12:17) und deshalb imgrunde integraler Bestandteil unserer "Instinkt-Tätigkeiten" - und selbst "hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen Wertschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben" (5:17). Richtig verstanden geht also, wie auch Reich stets sagte, jedes Sollen aus einem Sein hervor.

Vor dem Hintergrund dieser die Bedeutung des Bewußtseins relativierenden Philosophie hat Nietzsche die Tiefenpsychologie, vor allem die Freudsche Psychoanalyse, in großen Teilen vorweggenommen. Er spricht vom "neuen Psychologen" (5:27). In diesem Zusammenhang wird der 491. Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches häufig zitiert, der es tatsächlich in sich hat: Der Mensch verteidigt sich gegen sich selbst gegen jede "Auskundschaftung", so daß die "eigentliche Festung" unzugänglich, sogar unsichtbar bleibt, wenn denn nicht Außenstehende ihn selber auf geheimem Wege hineinführen (2:318f).

Was die Libidotheorie betrifft sagt Nietzsche beispielsweise, daß es ein und dieselbe Kraft ist, die sich in der Kunst und in der Geschlechtlichkeit ausdrückt (13:600). Hinter dem Sinn für Kunst und Schönheit steht indirekt ein geschlechtliches Verlangen, das der Trieb dem Gehirn "mitteilt" (12:325f). Berühmt ist seine Aussage aus Jenseits von Gut und Böse, daß Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf reichen (5:87). Entsprechend hat sich die Psychologie nicht in die Tiefe gewagt, da sie an moralischen Vorurteilen und Befürchtungen hängengeblieben ist (5:38).

Im "ästhetischen Zustand" ist die Sinnlichkeit, der "Geschlechtsreiz", nicht etwa aufgehoben, sondern "transfiguriert" sich nur (5:356). Beim Künstler frägt Nietzsche danach, welche Triebe er "sublimisiert" (12:256). Beispielsweise ist der Richter "ein sublimierter Henker" (9:477). Wenn ein Trieb "intellektueller" wird, stellt er sich dem Triebanteil, der auf der älteren Stufe verharrt, entgegen. Wobei Nietzsche beispielsweise an Menschenliebe oder die Anbetung des Göttlichen denkt, die sich dem Geschlechtstrieb, dessen bloße Sublimierung sie sind, wie als sein Widerspruch entgegenstellen (9:486).

Die inneren Konflikte der Eltern wirken im Wesen des Kindes fort, machen seine "innere Leidensgeschichte" aus (2:265). Nietzsche wird noch konkreter, was die Entwicklung der Libido betrifft: das Bild, das wir uns von den "Weibern" machen, wird von unserem Verhältnis zu unserer Mutter bestimmt (2:265). Im 128. Aphorismus der Morgenröte ("Der Traum und die Verantwortlichkeit") geht er nicht nur, wie in vielen anderen Passagen auf den Traum und seine Bedeutung für den Seelenhaushalt ein, sondern erwähnt in diesem Zusammenhang auch Ödipus (3:117f) - als hätte er sozusagen "zu viel Freud gelesen".(5)

Tagsüber sei der "untere Intellekt" dem Bewußtsein verschlossen, trete jedoch des Nachts in Gestalt des Traums ins Bewußtsein (11:156). Aber auch im Wachen werde von uns ständig viel untergründig empfunden, erinnert und phantasiert, was nicht ganz ins Bewußtsein tritt (9:475). Was man im Wachen nicht wisse, "darüber belehrt völlig unzweideutig der Traum" (2:408). Ur-Freudianisch ist auch die Aussage, daß in den "Ausbrüchen der Leidenschaft" und im "Phantasieren des Traumes und des Irrsinns" der Mensch seine und der Menschheit tierische Vorgeschichte wiederentdecke (3:226).

Den Begriff "Es" hatte Freud bei Georg Groddeck und dieser bei Nietzsche entliehen. Nietzsches Gebrauch dieses Begriffs steht jedoch der Orgonomie, und der modernen Wissenschaft überhaupt, weitaus näher als der Privatmythologie Freuds. Nietzsche zufolge wird der bereits thematisierte "Zentralisations-Apparat" Gehirn zunächst durch die Nervenbahnen über die Außenwelt informiert. Diese Wirkung wird bearbeitet, auf eine mögliche Ursache zurückgeführt und diese dann in die Außenwelt projiziert. Also erst nachdem sie längst gewirkt hat und diese Wirkung verarbeitet worden ist, tritt die Erscheinungswelt ins Bewußtsein. Während "ich" sehe, sieht "es" bereits etwas anderes (11:437). Über das "Ich" und das "Es" lese man auch den 17. Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse (5:30f)!

Konzeptionell ist Nietzsche weit ins "biologische Fundament" der Psychologie vorgedrungen. Er fordert eine Psychologie als "Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht", eine "Physio-Psychologie" (5:38). Bei dieser "angewandten Physiologie" denkt er, wie der Nietzsche-Forscher Volker Gerhardt ausführt, "an zu seiner Zeit aktuelle naturwissenschaftliche Experimente, die einen Zusammenhang zwischen ästhetischem Erleben und meßbaren physiologischen Erregungszuständen nachzuweisen suchen. So gibt es zum Beispiel eine quantifizierbare Korrelation zwischen nervösem Muskeltonus, elektrischem Hautwiderstand und psychischer Anspannung. Es ist keine Frage, daß hier Übergänge zwischen Leib und Seele sichtbar werden - Verbindungen, die Nietzsche hoffen lassen, die Seele ganz als Ausdruck des Leibes verstehen zu können" (19:91). Man denke in diesem Zusammenhang an Reichs "bio-elektrische" Experimente in Oslo!

In Nietzsches Notizbüchern machen die Reflexionen über den Forschungsstand seiner Zeit tatsächlich einen "orgon-biophysikalischen" Eindruck. Bei der Lust sieht er eine "Expansion", "eine überschüssige Kraft, die sich ausgeben will", und er verweist auf das "Umarmen, Hüpfen, Tanzen, Springen, Lachen, Schreien, Jauchzen, Singen, Sprechen" (10:287). Lust ist eine "Affirmation" (12:256). Unlust beschreibt er als Negation: "die Extremitäten werden kalt: in Lust und im Zorne heißer" (10:287). Der Schmerz ist ein "Einziehen der Segel", d.h. "unsere Lebensenergie" vermindert sich (14:269). Ebenfalls paßgenau "proto-orgonomisch" führt er aus, daß bei der Wut der Wille erst zurückströmt, sich konzentriert, um dann als Haß plötzlich "nach der Peripherie" zu strömen, um zu zerstören (10:288).

Im Zusammenhang mit seiner Lehre vom "Willen zur Macht", auf die wir noch näher eingehen werden, spricht er eindeutig von der organismischen Pulsation: Müßte man nicht Lust und Unlust als "Kardinal-Tatsachen" ansetzen, so frägt er, wenn Lust Wachstum an Macht, Unlust hingegen gleichbedeutend mit Machtverlust ist und das innerste Wesen des Seins nichts anderes ist als eben: "Wille zur Macht"? Wäre Wille ohne die "beiden Oszillationen des Ja und des Nein", also Lust und Unlust, überhaupt denkbar? (13:260). Entsprechend dürfen wir nicht einen konstant gleichbleibenden Zustand anstreben, sondern müssen gleich dem Dasein selbst periodische Wesen werden wollen (10:28). Insbesondere thematisiert er die Abfolge von Bewußtsein und Unbewußtsein, Erkenntnis und lebensnotwendiger Ignoranz und spricht in diesem Zusammenhang von der "Energie unserer Zusammenziehung und Ausbreitung" (9:526).

Was schließlich das "Über-Ich" anbetrifft: Das Gewissen ist, so Nietzsche, "nicht die Stimme Gottes in der Brust des Menschen, sondern die Stimme einiger Menschen im Menschen" (2:576). Er präzisiert so, daß seine Definition des Gewissens vollends mit dem Freudschen Begriff des Über-Ich identisch wird: unser Gewissen enthalte, was dem Kind ohne Begründung von Personen abgefordert wurde, die es verehrte und gleichzeitig fürchtete (2:576). Das Gewissen setze sich aus Empfindungen zusammen, die das Kind bei Eltern und Lehrern antraf und nachahmte (9:183). Und schließlich notiert er sich, daß sich der "väterliche Gottesbegriff" aus der patriarchalischen Familie heraus entwickelt habe (12:11).

Das schlechte Gewissen ist "der Instinkt der Grausamkeit, der sich rückwärts wendet, nachdem er nicht mehr nach außen hin sich entladen kann" (6:352). Hierher gehört auch Nietzsches Diktum, daß der kriegerische Mensch unter friedlichen Umständen über sich selber herfällt (5:87). Und Nietzsche geht sogar noch weiter in seiner Beschreibung, wie die Außenwelt unsere Seele formt, indem er, fast schon eine "orgonomische" Begrifflichkeit verwendend, Reichs Definition des Charakters vorwegnimmt: Instinkte, die nicht "entladen" werden, wenden sich wieder nach innen und rufen die "Verinnerlichung" des Menschen hervor. So wächst im Menschen das heran, was man als "Seele" bezeichnet (5:322, siehe auch 12:335). Auch nimmt Nietzsche das, was Reich als "Verschachtelung der Triebabwehr" beschrieben hat, vorweg: im Gegensatz zum Tier habe der Mensch eine Fülle gegensätzlicher Triebe: "ein Trieb als Herr, sein Gegentrieb geschwächt" (11:289).

Daß Nietzsches Begriff "Seele" identisch ist mit "Charakter", wird auch daran deutlich, wenn Nietzsche an anderer Stelle scheinbar im Widerspruch zum obigen behauptet, daß jene seelenlos (= "charakterlos") sind, die Mühe und Härte bei "inneren Bewegungen" merken lassen, denn "Seele" sei die Summe aller inneren Bewegungen, die leicht fallen und deshalb gerne und anmutig getan werden (3:226). Die "höchste Seele" ist demnach dadurch gekennzeichnet, daß sie Strömungsempfindungen hat: es ist "die sich selber liebenste, in der alle Dinge ihr Strömen und Wiederströmen und Ebbe und Flut haben" (4:261). Dieser "Übermensch" (Reichs "Genitaler Charakter") ist Nietzsches Lösung für das "Leiden des Menschen am Menschen", das die Folge einer "gewaltsamen Abtrennung von der tierischen Vergangenheit", einer "Kriegserklärung gegen die alten Instinkte" ist (5:323).(6)

Man lese die Abhandlung über "'Schuld', 'schlechtes Gewissen' und Verwandtes" in Zur Genealogie der Moral, wo bereits im ersten Abschnitt das Verhältnis von Verdrängung und Charakterbildung eingehend beschrieben wird (5:291-337). Was Nietzsche geleistet hat, ist nicht bloße Vorwegnahme der Psycho- und Charakteranalyse, sondern weist, insbesondere was das Über-Ich betrifft, weit darüber hinaus ins Vegetative: "die Moral war bisher ein Mittel, die physiologische Grundlage des Menschen in ihrer Entwicklung zu stören" (9:72). In diesem Zusammenhang benutzt er sogar Reichs Ausdrücke: nachdem er aus einer unerschlossenen Quelle die Worte "Moral wesentlich als Wehr, als Verteidigungsmittel" abschreibt, notiert er sich "verpanzert, stoisch" (12:415). Es fehle an aller Erziehung für die "vornehmen Seelen": "sie müssen sich verpanzern und entstellen, um etwas von sich zu retten" (11:361).

Daß Nietzsches Verwendung des Begriffs "Panzerung" keine bloße Sprachfigur ist, zeigen seine Ausführungen über das Bedürfnis nach einem festen Halt in der Welt: es ist so groß geworden, weil uns beigebracht wurde, uns selbst zu mißtrauen. Da wir keine Leidenschaft ohne schlechtes Gewissen mehr haben dürfen und dergestalt unser eigenes Wesen verlästert haben, klammern wir uns, Gewißheit suchend, statt dessen an die Religion, die Wissenschaft, Parteien, Sekten, etc. (9:370). Folglich entsprechen unsere Vorstellungen vom "absoluten Raum" und der "Substanz" dem "menschlich-tierischen" Drang nach Sicherheit und einem festen Halt (12:97). Das erinnert an Reichs Erläuterungen in Äther, Gott und Teufel (36) über die Auswirkungen der Panzerung auf das Denken.

Gewisserweise hat Nietzsche sogar den Schritt zur Vegetotherapie getan: "Charakter = Organismus" (9:621). Bei seiner Analyse von Schopenhauers Verwendung des Begriffs "Willen" weist er u.a. auf das "begleitende Muskelgefühl" hin, welches, auch ohne daß wir uns bewegen, ins Spiel kommt, wenn wir "wollen" (5:32). Das gleiche gilt für die passive Aufnahme, etwa beim Kunstgenuß. Kunst wirkt beim Betrachter und Zuhörer als "Suggestion" auf jene Muskeln und Sinne, welche auch beim Künstler tätig waren. Kunst redet "zu dieser Art von feiner Erreglichkeit des Leibes" (13:296). Kurz: der Körper macht, was er "will", er "urteilt", nicht wir. "Unsere heiligsten Überzeugungen, unser Unwandelbares in Hinsicht auf oberste Werte sind Urteile unserer Muskeln" (13:480).

Wie Nietzsche in Also sprach Zarathustra sagt: "Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser - der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er" (4:40). "Unser Leib ist weiser als unser Geist!" (11:244). Gäbe es im Wesen des Menschen so etwas wie eine Einheit, dann liegt sie nicht im bewußten Ich und seinem Fühlen, Wollen und Denken, sondern in der erhaltenden, aneignenden, ausscheidenden, überwachenden Klugheit des Organismus als Ganzheit, von der das bewußte Ich nur ein Werkzeug ist (11:434). Verändert sich die "Leiblichkeit", wird sich auch "Seele und Sitte" verändern (10:535), die wiederum so viel wert sind, wie die Physiologie ihrer Protagonisten. Das geht hinauf bis zur höchsten "Geistigkeit" des Menschen. Man darf, so Nietzsche, die "kühnen Tollheiten der Metaphysik", insbesondere deren Antworten auf die Frage nach dem Wert des Daseins, "zunächst immer als Symptome bestimmter Leiber ansehen" (3:348). Letztendlich ist alles auf den Gegensatz "Dekadenz-Ästhetik" kontra "klassische Ästhetik" zurückzuführen, der "unauslöschlich" an die entsprechenden "biologischen Voraussetzungen" gebunden ist (6:50).

Deshalb gilt auch, daß man zwar versuchen kann, mit dem Munde zu lügen, "aber mit dem Maule, das man dabei macht", sagt man doch die Wahrheit (5:101). Klingt das schon "charakteranalytisch", wird es vollends "vegetotherapeutisch", wenn Nietzsche die "aufgeblasenen" Wichtigtuer mit ihrer Brustpanzerung beschreibt: "Einen Erhabenen sah ich heute, einen Feierlichen, einen Büßer des Geistes: oh wie lachte meine Seele ob seiner Häßlichkeit! Mit erhobener Brust und denen gleich, welche den Atem an sich ziehen: also stand er da, der Erhabene, und schweigsam" (4:150). Und weiter über die Brustpanzerung: "was hilft's! sein Herz ist eng und all sein Geist ist in diesen engen Käfig eingefangen, eingeklemmt" (13:556). Nietzsche setzt noch eins drauf: "Mit lässigen Muskeln stehen und mit abgeschirrtem Willen: das ist das Schwerste euch allen, ihr Erhabenen!" (4:152).

Aus der Lehre, daß kein Gott über uns wacht, es kein ewiges Sittengesetz gibt, sondern daß wir unverantwortliche, sterbliche Tiere sind, werde eine tiefe Umwandlung hervorgehen: "der Weise und das Tier werden sich nähern und einen neuen Typus ergeben!" (9:461). Doch erst vor dem Hintergrund von Reichs Entdeckung der Panzerung, und der Möglichkeit ihr vorzubeugen und sie aufzulösen, macht diese Prophetie Nietzsches Sinn. Die innere Logik seines Denkens zeigt, daß nur der Genitale Charakter das Ziel sein kann. Im "Übermenschen", der an sich "eine Art Vergöttlichung des Leibes" erfährt, feiert das Dasein seine eigene Verklärung. Von dieser "Höhe der Freude, wo der Mensch sich selber und sich ganz und gar als eine vergöttlichte Form und Selbst-Rechtfertigung der Natur fühlt", führe, so Nietzsche, die Linie hinab "zu der Freude gesunder Bauern und gesunder Halbmensch-Tiere": - der "dionysische" Mensch (11:680f).

Das Christentum, und überhaupt "religiöse Befreiung", ist für Nietzsche eine sexuelle Perversion dieses unschuldigen dionysischen Erlebens. Das "religiöse Rauschgefühl und die Geschlechtserregung" sind als "zwei tiefe Gefühle, nachgerade fast verwunderlich koordiniert" (13:295). Nach den rituellen Verrenkungen folgt die Erschöpfung "oft jäh, oft unter epileptischer Form" (13:364). Bei den "großen Erotikern des Ideals", den "Heiligen der transfigurierten und unverstandenen Sinnlichkeit", d.h. Aposteln der "Liebe" wie Jesus, Franz von Assisi, dem heiligen Francois des Paule, geht "der fehlgreifende Geschlechtstrieb aus Unwissenheit gleichsam in die Irre, bis er sich endlich noch an Phantomen befriedigen muß: an 'Gott', am 'Menschen', an der 'Natur'." In Klammern gesetzt führt Nietzsche weiter aus, daß sich die unio mystica mit den physiologischen Begleitsymptomen der "sinnlichsten und naturgemäßesten Geschlechtsbefriedigung" vollzieht (12:480f). Die folgenden daran anschließenden Worte hat er wieder gestrichen: "unter Umständen selbst mit erectio und ejaculatio" (14:745). Vollends "sexualökonomisch" ist eine Notiz, in der er die "Hysterie in Europa" nicht nur auf Müßiggang, geringe Nahrung und wenig Bewegung zurückführt, vielmehr breche der religiöse Wahnsinn, wie bei den Indern, auch aus Mangel an geschlechtlicher Befriedigung aus (11:70).

Entsprechend kennt auch Nietzsche einen, wenn man so will, "Einbruch der Sexualmoral": das "asketische Ideal und sein sublim-moralischer Kultus" könne man "ohne alle Übertreibung das eigentliche Verhängnis in der Gesundheitsgeschichte des europäischen Menschen nennen" (5:392). An anderer Stelle schreibt er, die Moral, insofern sie verurteilt, also als "Zwangsmoral" in Reichs Sinne, "nicht als Moral aus Hinsichten, Rücksichten, Absichten des Lebens", sei ein Irrtum, eine "Degenerierten-Idiosynkrasie", die erbarmungslos ausgelöscht werden sollte, da sie "unsäglich viel Schaden" angerichtet hat (6:87).

Sein "jenseits von Gut und Böse", seine "Stellung außerhalb der Moral", die nicht nur im übertragenen Sinne bedeutet, daß man dazu die Stadt verläßt (3:632f), entspricht Reichs "Bühne und Wiese" (siehe Die kosmische Überlagerung [40]). Im Unterschied zu Freud drang Nietzsche also, jenseits der irrationalen sekundären Schicht ("Gut und Böse"), zum rationalen Kern vor. Jedenfalls notierte sich Reich in seinem Tagebuch, daß Nietzsche vom "gütigen Kern" wußte, "der unter dem Block aus Eis verborgen ist" (41:432).(7)

Nietzsche spricht vom "Genie des Herzens, (...) das den verborgenen und vergessenen Schatz, den Tropfen Güte und süßer Geistigkeit unter trübem dickem Eise errät und eine Wünschelrute für jedes Korn Goldes ist, welches lange im Kerker vielen Schlammes und Sandes begraben lag" (5:237). Bereits in Vermischte Meinungen und Sprüche spricht er, im Zusammenhang der dichterischen Darstellung des "schönen Menschenbildes" und der "großen Seele", von "Kraft, Güte, Milde, Reinheit" und über "ungewolltes, eingeborenes Maß": "das Umschließende, Allgemeine, Goldgrundhafte" (2:420). Über "die erste Natur" sagt er: "So wie man uns jetzt erzieht, bekommen wir zuerst eine zweite Natur: und wir haben sie, wenn die Welt uns reif, mündig, brauchbar nennt. Einige wenige sind Schlangen genug, um diese Haut eines Tages abzustoßen: dann, wenn unter ihrer Hülle ihre erste Natur reif geworden ist. Bei den meisten vertrocknet der Keim davon" (3:275). Der reife Mann wird dem Kind wieder ähnlicher; dem "Grundcharakter", der das "Grundempfinden und Grundmeinen" bestimmt (2:346f). Wir sollten, so Nietzsche, die menschlichen, sozialen und moralischen Bande so lange abstreifen, "bis wir tanzen und springen können wie die Kinder" (9:399).

Gegen "die Verleumder der Natur", richtet sich der 294. Aphorismus von Die fröhliche Wissenschaft: "Das sind mir unangenehme Menschen, bei denen jeder natürliche Hang sofort zur Krankheit wird, zu etwas Entstellendem oder gar Schmählichem, - diese haben uns zu der Meinung verführt, die Hänge und Triebe des Menschen seien böse; sie sind die Ursache unserer großen Ungerechtigkeit gegen unsere Natur, gegen alle Natur! Es gibt genug Menschen, die sich ihren Trieben mit Anmut und Sorglosigkeit überlassen dürfen: aber sie tun es nicht, aus Angst vor jenem eingebildeten 'bösen Wesen' der Natur! Daher ist es gekommen, daß so wenig (natürliche Grazie und, PN) Vornehmheit unter den Menschen zu finden ist: deren Kennzeichen es immer sein wird, vor sich keine Furcht zu haben, von sich nichts Schmähliches zu erwarten, ohne Bedenken zu fliegen, wohin es uns treibt - uns freigeborene Vögel! Wohin wir auch nur kommen, immer wird es frei und sonnenlicht um uns sein" (3:534f).

 

 

2. Nietzsche, Antipode Reichs

So weit so gut, doch man lasse sich nicht täuschen: auch Nietzsche ist der Grundideologie der gepanzerten Gesellschaft verhaftet, d.h. auch er verfolgt das Ziel, das (sexuelle) Tiersein des Menschen zu überwinden. Das besondere an ihm ist nur, daß er auf geschickte Weise dieses erzreaktionäre Gedankengut als Befreiung verkauft: "Dem Menschen sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Tier zu gebärden: und wirklich, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Tiere sind. Nun aber leidet er noch daran, daß er so lange seine Ketten trug, daß es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte: - diese Ketten aber sind, ich wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und sinnvollen Irrtümer der moralischen, der religiösen, der metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn auch die Ketten-Krankheit überwunden ist, ist das erste große Ziel ganz erreicht: die Abtrennung des Menschen von den Tieren" (2:702).

In Zur Genealogie der Moral führt Nietzsche aus, daß sich alle Instinkte, die sich nicht nach außen entladen, nach innen wenden. Das klingt "Reichianisch", aber er fährt "Freudianisch" fort, daß die innere Welt, "ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt", erst dadurch an "Tiefe, Breite, Höhe" gewonnen habe, "als die Entladung des Menschen nach außen gehemmt worden ist" (5:322). "Der höchste Mensch würde die größte Vielheit der Triebe haben, und auch in der relativ größten Stärke, die sich noch ertragen läßt." Beim starken Menschen fänden sich mächtige, gegeneinander gerichtete und deshalb gebändigte Instinkte (11:289). Eine bis zum Zerreißen gespannte, aber sich doch selbst bändigende "blonde Bestie"! Der "Übermensch" sei "der römische Caesar mit Christi Seele" (11:289). Cesare Borgia wäre nicht nur "sehr gesund" (11:21), "gesündeste Natur" (5:117) gewesen, sondern fast "Übermensch" (6:136.300) Jedenfalls sei dieser "einem Typus Cesare Borgia hundert Mal ähnlicher als einem Christus" (14:481). Napoleon sei eine "Synthesis von Unmensch und Übermensch" (5:288) gewesen.

Wenn also bestimmte Aussagen bei Nietzsche an das Reichsche Konzept von der "Verschachtelung der Triebabwehr" gemahnen, muß daran erinnert werden, daß für Nietzsche der Übermensch ein Wesen mit einer übergroßen, d.h. durch und durch "verschachtelten Seele" ist. Hinzu kommt, daß seine aufklärerische Analyse des Über-Ichs durch seinen Kult der Macht unversehens zur reaktionären Affirmation einer gepanzerten, "über-ich-igen" Gesellschaft wird. So ist für ihn Moral die "Lehre von den Herrschafts-Verhältnissen, unter denen das Phänomen 'Leben' entsteht" (5:34). Und wie lautet das "moralische Imperativ" des Lebens? Daß man gehorchen soll und zwar "irgendwem, und auf lange"! Ansonsten ginge man nämlich zu Grunde und verlöre alle Achtung vor sich selbst. Wobei sich "das Leben" mit dieser Forderung jedoch nicht an den Einzelnen wende ("was liegt ihr am Einzelnen!"), sondern an Völker, Rassen, Zeitalter und Stände, vor allem aber an die (auf diese Weise zu überwindende) Tierspezies "Mensch" (5:110).

Das besondere an Nietzsches Konzept der Sublimation wird durch den 285. Aphorismus von Die fröhliche Wissenschaft deutlich, in dem er auf die Hingabe an Gott, bzw. an "Ozeanische Gefühle", ganz im Sinne Freudscher Gottlosigkeit, als höchste heroische Askese verzichtet. Danach fährt er mit einer "Reichschen" Allegorie fort: "Es gibt einen See, der es sich eines Tages versagte, abzufließen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloß: seitdem steigt dieser See immer höher" (3:527f). Nietzsches Zielvorstellung ist, daß, genauso wie der See immer höher steigt, auch der Mensch, wenn "er nicht mehr in einen Gott ausfließt" (3:527f), immer höher bis zum "Übermenschen" steigen möge. Dessen Gegenteil sei der Pöbel, denn "alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen, einem Reize Widerstand zu leisten" (6:109). "Wo, in pöbelhafter Art, eine Begierde die Oberherrschaft führt (oder überhaupt die Begierden), da gibt es keinen höheren Menschen" (11:242).

Der Nietzsche von Der Wanderer und sein Schatten hatte sich noch über die "zivilisierte" Megalomanie des Menschentiers lustig gemacht, das kein Tier mehr, sondern "frei" sein will; die eine Ausnahme im Reiche der Natur, "das Übertier, der Fast-Gott, der Sinn der Schöpfung, der Nichthinwegzudenkende, das Lösungswort des kosmischen Rätsels, der große Herrscher über die Natur und Verächter derselben, das Wesen, das seine Geschichte Weltgeschichte nennt! - Vanitas vanitatum homo" (2:547f). Aber wenn schon das "Übertier" in seiner "menschlich, allzumenschlichen" "Eitelkeit der Eitelkeiten" nichtig ist, wie dann erst der "Übermensch"!

Tatsächlich sind Eitelkeit und Übermensch eins! Der Übermensch steht nicht für eine neue Menschengattung, die doch nur eine neue eingeebnete "Herde" gleicher Exemplare wäre, sondern er ist ganz im Gegenteil das Produkt der Etablierung einer Rangordnung, die der planmäßigen Züchtung des "Typus des aufsteigenden Lebens" dient (13:481). "Nicht 'Menschheit', sondern Übermensch ist das Ziel!" (11:210).

Deshalb bedauert Nietzsche, daß man der Arbeiterschaft Flausen über ihre Rechte und ihre Würde in den Kopf pflanzt und so die mögliche Heranbildung eines selbstgenügsamen neuen Sklavenstandes hintertreibt (13:29f). Der Übermensch sei nun einmal der "Luxus-Überschuß der Menschheit" infolge eines "Maximum in der Ausbeutung des Menschen" (12:462) durch eine "neue regierende Kaste" (9:497). Es handelt sich dabei um die "ganzeren Bestien", also insbesondere die "blonde, arische Eroberer- und Herren Rasse" (5:263f), die einst über friedliche Völker hergefallen sei und so die Hochkulturen begründet habe.(8) Ohne die so etablierte gesellschaftliche Rangordnung könne es gar nicht zu jener Spannung im Inneren des Menschen kommen, die zur Herausbildung höherer Zustände führe (5:205f). Damit vertrat Nietzsche ein ähnliches Konzept wie vor ihm Marx und nach ihm Freud ("Aufhebung" und "Sublimierung"), das mit Reich unvereinbar ist.

Einerseits hat Nietzsche wie kaum einer das Wesen der Panzerung des "Menschen-Tiers" (5:295) erfaßt, wenn er schreibt, daß der Mensch "kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter" ist als jedes andere Tier: "er ist das kranke Tier" (5:367). Andererseits deutet er diese Tragödie, also faktisch die Abpanzerung, ganz Freudianisch zum großen Glücksfall um, denn so werde der Mensch zu einer "Brücke" hin zu etwas Höherem. Konkret bedeutet dies, daß der Mensch durch die "Zucht" einer gepanzerten, "über-ich-igen" Gesellschaft, also durch die "Falle" hindurchgehen muß, um eine neue Unschuld zu gewinnen. Wenn er von der "Rückkehr zur Natur" rede, meine er in Wirklichkeit ein "Hinaufkommen" (6:150). Es ginge nicht um die Schwächung der Leidenschaften, sondern um die Herrschaft über sie. Aus diesen seinen "Untieren" solle der "große Mensch" "Haustiere" machen (13:485). Nietzsches huldigt dem "griechischen Ideal": erst über "das Tier im Menschen" Herr werden und dann "über das Weib im Menschen" (12:296).

Auch Nietzsche wäre über Reich und seine Orgasmustheorie hergezogen! Es hat eine tiefere Bedeutung, daß Freud, der ansonsten seltsam wortkarg war, wenn es um Reich ging, ausgerechnet gegenüber Lou Salomé, Nietzsches "Freundin" und "Hebamme" seines Zarathustra (vgl. das Gedicht "Sils-Maria" [3:649]), mit bissiger Ironie über die angebliche Primitivität und Einseitigkeit ("passionierte Steckenpferdreiterei") von Reichs Orgasmustheorie herzog! (18:191).(9)

Hierher gehört auch, was Nietzsche über den teilweise durch Wagners frühes Stirnerianertum inspirierten Ring des Nibelungen zu sagen hat, insbesondere über Siegfried. Siegfried ist die Frucht eines blutschänderischen Ehebruchs und unterwirft sich keinem Gott. "Seine Hauptunternehmung aber geht dahin, das Weib zu emanzipieren - 'Brünnhilde zu erlösen' ... Siegfried und Brünnhilde; das Sakrament der freien Liebe; der Aufgang des goldenen Zeitalters; die Götterdämmerung der alten Moral - das Übel ist abgeschafft..." (6:20). Bereits als Anhänger Wagners hatte Nietzsche quasi "Freudianisch" eingeworfen: "Der 'gute Urmensch' will seine Rechte: welche paradiesischen Aussichten!" (1:122f). Mit der gleichen bissigen Ironie hätte er auf Reichs Sexualökonomie reagiert! Unbewußt spricht er hier mit der Stimme des lieblosen und machthungrigen Alberich aus Wagners Götterdämmerung, der Hagen, seinem Sohn und Mörder Siegfrieds, lehrt: "Hasse die Frohen". Es spricht Nietzsches "Ressentiment". Er, der allen ernstes in seinen Vornotizen zum Zarathustra-Abschnitt "Von der Keuschheit" geschrieben hatte: "Es gibt genug, die nichts besseres wissen auf Erden als mit einem Weibe zusammen zu liegen. Was wissen die vom Glück!" (10:219).

Dieses Ressentiment des Onanisten war um so stärker, da er den sexualökonomischen Hintergrund seines eigenen Untergangs zumindest erahnt hat, als er sich notierte: "Irgend etwas muß derb und grob sein am Menschen: sonst geht er auf eine lächerliche Weise zu Grunde vor lauter Widersprüchen mit den einfachsten Tatsachen: z.B. mit der Tatsache, daß ein Mann von Zeit zu Zeit ein Weib nötig hat, wie er von Zeit zu Zeit eine rechtschaffene Mahlzeit nötig hat" (11:257). Wobei Nietzsche konkret an Shelley, Hölderlin und Leopardi (der "früher Onanie trieb, später impotent war") dachte (11:451). Erstaunlich ist eine Vorstufe zum 234. Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse, wo Nietzsche sich nicht nur wundert, ob sich "je eine Universität schon um die gute Ernährung ihrer Studenten gekümmert", sondern bemerkenswerter Weise fortfährt: "Um einen gesunden geschlechtlichen Umgang?" (14:367).

Sechs Jahre vor seinem Zusammenbruch hatte sich Nietzsche gefragt, was ihn den Anblick des eigenen Lebens aushalten mache: "der Blick auf den Übermenschen, der das Leben bejaht. Ich habe versucht, es selber zu bejahen - Ach!" (10:137). In einer späten Notiz frägt er, ob die "höheren Menschen" nicht von ihrem "Niedrigsten" in die Höhe gedrückt würden: "flieht ihr nicht vor euch, ihr Steigenden?" (13:555).

Reich hat sich wiederholt mit dieser Flucht Nietzsches und dessen "übermenschlichen" Aspirationen befaßt. Bereits sein erster größerer Aufsatz, "Libidokonflikte und Wahngebilde in Ibsens Peer Gynt", ist ein entsprechendes Nietzsche-Zitat vorangestellt (34:19), welches wohl auf die Leiden des Menschen an seinen inzestuösen Bindungen anspielen soll: "Ich lehre Euch den Übermenschen. (...) Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebenso soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham" (4:14; merkwürdigerweise steht bei Reich "Schau" statt "Scham"). Am Ende seiner Karriere hatte Reich zu diesem Thema folgendes zu sagen: "Es hat wenig Sinn (...) sich einen Übermenschen zu erträumen, der sich von den Menschen in der Falle total unterscheidet, wie es Nietzsche getan hat, bis er, selbst in der Falle eines Irrenhauses gefangen, endlich die volle Wahrheit über sich selber schrieb - zu spät...." (35:33f).

Hier bezieht sich Reich auf das Buch My Sister and I, das 1951 erschienen war, also zur gleichen Zeit als Reich an Christusmord schrieb. Angeblich hatte Nietzsche diese Bekenntnisse, in denen er, Reich zufolge, die "volle Wahrheit" über sich aussprach, in der Irrenanstalt von Jena geschrieben, nachdem er wieder zur Besinnung gekommen sei. Reich fand hier Sätze wie den folgenden: "Dies ist das Paradox meiner Existenz: ich habe das Leben leidenschaftlich geliebt, mir aber nie erlaubt, diese Liebe in Richtung normaler erotischer Erfahrung zu leiten" (30:21). Dies ist sicherlich objektiv richtig und verführte, zusammen mit Nietzsches gleichzeitig im Buch bekundeten Rücknahme seiner "Machtphilosophie", Reich dazu, dieses unsägliche Machwerk so überaus ernst zu nehmen. Doch es war genau das, wie der Fälscher George David Plotkin 1965 zugab (27).

Interessant an diesem Buch ist einzig die folgende gut erfundene Geschichte - so gut erfunden, daß sie wahr sein könnte. Demnach hatte Nietzsche in seiner Kindheit ein inzestuöses Verhältnis zu seiner jüngeren Schwester Elisabeth, die ihn regelmäßig mit der Hand befriedigte. Eine Verwicklung, die seine Jugend- und Mannesjahre überschatten und ihn daran hindern sollte, ein normales Genitalleben zu führen.

In seiner wirklichen, kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch verfaßten Autobiographie Ecce homo, bekannte er, mit Lord Byrons Dramenfigur "Manfred" tief verwandt sein zu müssen: "ich fand alle diese Abgründe in mir, - mit dreizehn Jahren war ich für dies Werk reif" (6:286). Das könnte ein versteckter Hinweis darauf sein, daß My Sister and I in der Tat einen wahren Kern hat: Inzest mit der Schwester und lebenslanges Ringen mit den inzestuösen Familienbanden, wie Reich es in seinem Aufsatz anhand der literarischen Figur Peer Gynt thematisierte. Byron hatte mit seiner (Halb-) Schwester Augusta geschlafen. Eine schuldbeladene Verwicklung, die er in dem von Goethes Faust inspirierten dramatischen Gedicht Manfred thematisierte: "Du hast mich viel zu sehr geliebt, genauso wie ich dich zu zärtlich liebte, wir waren nicht dazu geschaffen, uns gegenseitig so zu quälen, obwohl es die tödlichste Sünde war, uns so zu lieben, wie wir uns liebten" (z.n. 28:243).

Bezeichnenderweise verwendete Nietzsche den Begriff "Übermensch" das erste Mal, als er 1861 als 17jähriger über Byron schrieb (42:60). Der diabolische Lord war jemand, der durch sein Überschreiten der Inzestschranke, die den Menschen erst zum Menschen macht, sein Menschentum transzendiert hatte und daran zu zerbrechen drohte, wenn nicht seine eigene "übermenschliche" Größe dem übermenschlichen Ausmaß seiner Sünde entsprechen würde.

Ein Jahr später verfaßte Nietzsche ein Novellenfragment mit dem Titel Euphorion. Einer Figur, die aus Goethes Faust II stammt: das lebensunfähige Kind von Faust und Helena, mit dem Goethe auf den "lebensuntüchtigen" Byron angespielt hatte. In Nietzsches Text ist nur leicht verschlüsselt von "Rückenmarksschwindsucht" als Folge exzessiver Onanie, Geschlechtsverkehr mit einer Nonne, Mord, Leichensezierung und nicht zuletzt Inzest die Rede (42:62). Dieses pubertäre "Umwerten aller Werte" sollte Nietzsche später kultivieren, d.h. niemals erwachsen werden.

Es ist für Nietzsche charakteristisch, daß diese sadistische Rebellion mit einem masochistischen "Amor Fati!" einhergeht. Der "Grundcharakter" sei angeboren, ein "Problem der Rasse", und ein Erzieher, der seinen Zöglingen sagte: "seid wahr! seid natürlich! gebt euch, wie ihr seid!", würde sich, Nietzsche zufolge, bald als "treuherziger Esel" erweisen (5:219). Die Instinkte "widersprechen, stören sich, zerstören sich untereinander", weshalb Nietzsche vor der freien Erziehung warnt und "Zügel" fordert (6:143). Statt in die Kinder der Zukunft setzt er seine Hoffnung in die Züchtung eines "höherwertigen, lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren" Menschentypus (13:192).

So schreibt er einerseits gegen den "Moralisten-Wahnsinn" an, welcher die "Exspiration der Leidenschaften" verlangt, fordert aber andererseits, ganz im Sinne jener Haltung, die später Freud gegen Reich vertrat, die "Bändigung" der Leidenschaften. Er will die Macht der "großen Kraftquellen, jene oft gefährlich und überwältigend hervorströmenden Wildwasser der Seele" "in Dienst nehmen" und "ökonomisieren" (13:347), zu "mühlentreibenden Strömen" machen (14:187). Ein wahrer Tantriker! (vgl. Die Massenpsychologie des Buddhismus).

Entsprechend ist auch sein "Immoralismus" wie eine Vorwegnahme der Freudschen Argumente gegen Reich, dürfe man doch, so Nietzsche, vor dem Hintergrund des "schrecklichen Grundtext homo natura" (5:169), die Moral erst dann als Illusion behandeln, nachdem sie zuvor "Instinkt und Unvermeidlichkeit" geworden sei (Brief an Carl Fuchs vom 29.7.1888 [15]). Dem "sadomasochistischen Menschentier", das sich nicht nur aus dem Leiden anderer, sondern auch aus dem eigenen Sich-leiden-machen "reichlichen, überreichlichen Genuß" ziehe (5:166), müsse eine "höherzüchtende" Moral eingebleut werden, bevor ihm gesagt werden dürfe, daß das alles willkürlicher Unsinn ist. Zwar sei jede Moral Tyrannei gegen "Natur" und "Vernunft", doch das sei kein Einwand gegen sie, wolle man nicht moralisch dekretieren, daß jede Art von Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei (5:108).

Nietzsche sieht nicht, daß zwischen primären und sekundären Trieben zu unterscheiden ist. Statt dessen frönt er einem alles einebnenden kontaktlosen Relativismus, in dem es keine Wahrheit (Kontakt) gibt, sondern nur Machtspiele (5:53). Man betrachte etwa den 38. Aphorismus der Morgenröte, wo er jeden substantiellen Unterschied zwischen den, von Reich so bezeichneten, "primären" und "sekundären" Trieben leugnet. Für Nietzsche ist das alles (fast schon "Marxistisch") kultur- und zeitbedingt (3:45). Genau diese Art von "kulturvollem" Pseudo-Immoralismus macht ihn bei den "post-modernen Philosophen" so beliebt.

Für Nietzsche gibt es auch deshalb keine Widernatur, weil die Behinderung des Lebens für ihn gleichbedeutend mit seiner Steigerung ist. Zum Beispiel spricht dieser Streiter wider die Keuschheit von der "Resorption des Samens durch das Blut" als "stärkste Ernährung" und als Mittel das Gefühl der Macht zu steigern (9:207). Bereits 1875 meinte er, daß Keuschheit "eine der mächtigsten Förderungen der Lebensenergie" sei (8:169). 10 Jahre später schreibt er in Zur Genealogie der Moral über die Schädlichkeit des Beischlafs vor großen Anforderungen und meint, daß dabei von "Keuschheit" ja eh keine Rede sein könne, da sich der "Vigor des animalen Lebens" nur anders entlade (5:355). Hinzu kommt die aus der Antike übernommene Angst des Altphilologen vor dem Austrocknen durch Sexualität: "Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt! (...) Vergiß nicht, Mensch, den Wollust ausgeloht: du - bist (...) die Wüste, bist der Tod..." (6:387).

Das, was bei Reich die freie, expansive und einzig produktive Lustfunktion ist, ist beim unfreien, pubertären Denker Nietzsche der "Instinkt der Freiheit", der "Wille zur Macht" (5:326): "Dieser gewaltsam latent gemachte Instinkt der Freiheit (...) - dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, ins Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen" (5:325). Man ersetze "Instinkt der Freiheit" durch das Wort "Libido"! Es ist die Libido der "blonden Bestie", die alle ausmerzt, "welche sich gut fühlen" (12:31) und die "von Zeit zu Zeit der Entladung" bedarf: Erquickung durch eine "scheußliche Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung" (5:275). Um einen seiner Aphorismen über "die guten Menschen" gegen ihn selbst zu richten, rettet sich dergestalt Nietzsche, "dieser", wie Lou Salomé ihn nennt, "Sadomasochist an sich selber" (16:155f), mit seinen sadistischen Phantasien "nur in die anderen, vor sich selber" (3:299).

"Freiheit" kann Nietzsche nur im Zusammenhang mit eigener Überlegenheit und der Unterwerfung des anderen denken (5:32). Anders als Reich geht es ihm nicht um eine ungehinderte Entwicklung, vielmehr dreht sich alles darum, Hindernisse zu überwinden. Da er nur an ihnen zum Ausdruck kommen kann, weiche der "Wille zur Macht" Widerständen nicht etwa aus, sondern suche sie vielmehr. Dies sei beispielsweise die "ursprüngliche Tendenz des Protoplasmas, wenn es Pseudopodien ausschickt und um sich tastet" (12:424). Leben lebe immer nur auf Kosten anderen Lebens, man fördere sein Ich immer nur auf Kosten anderer (12:167). Dem Sadomasochisten Nietzsche zufolge liegt das Lustgefühl gerade in der Unbefriedigung des Willens, denn ohne die Grenzen und Widerstände könne er nicht satt werden (13:38). In dieser Hinsicht ist Nietzsches "Wille zur Macht" nichts anderes als Liebesunfähigkeit und sexuelle Perversion: orgastische Impotenz.

In seinen Schriften und Notizen zeichnet Nietzsche getreulich nach, wie bei ihm die Panzerung die natürlichen Instinkte behindert. Sie werden durch die Panzerung förmlich "durchgequetscht" und erhalten dabei etwas Harsches und Gewalttätiges: sexuelle Erfüllung wird synonym mit – sadistischem Mord und Totschlag und masochistischem Opfertod. In seinem ersten Buch, Die Geburt der Tragödie, beschreibt er, wie sich der "dionysische Chor immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet" (1:62). Ohne diese "Entladung" ins Apollinische hätte, so Nietzsche, der dionysische "Pesthauch" die Menschheit in den Untergang gerissen (1:100). Das Wilde, das "Dionysische", muß sich sozusagen erst im "Höheren" verausgaben, um erträglich und fruchtbar zu sein. Diese verquere "Orgasmustheorie" bestimmt auch seine spätere "Psychologie des Orgiasmus". Im "dionysischen Pessimismus" wirkt "selbst der Schmerz noch als Stimulans", feiert sich das Leben im "Opfer seiner höchsten Typen" (6:160).

Bezeichnenderweise hebt Also sprach Zarathustra mit dessen "Untergang" an: der übervolle Becher will "überfließen", das Wasser, gleich der Sonne, golden aus ihm fließen und überallhin den Abglanz seiner Wonne tragen (4:12). In Nietzsches Notizen ist auch von der "Erleichterung" die rede, nachdem die "Spannung meiner Wolke" sich in Blitz, Donner und Hagel entlädt (10:439). "Aus dem Druck der Fülle, aus der Spannung von Kräften, die beständig in uns wachsen und noch nicht sich zu entladen wissen, entsteht ein Zustand, wie er einem Gewitter vorhergeht: die Natur, die wir sind, verdüstert sich. Auch das ist Pessimismus... Eine Lehre, die einem solchen Zustand ein Ende macht, indem sie irgend etwas befiehlt, eine Umwertung der Werte, vermöge deren den aufgehäuften Kräften ein Weg, ein Wohin gezeigt wird, so daß sie in Blitzen und Taten explodieren - braucht durchaus keine Glückslehre zu sein: indem sie Kraft auslöst, die bis zur Qual zusammengedrängt und gestaut war, bringt sie Glück" (13:20).

12 Jahre zuvor hatte sich der Sadomasochist gefragt, ob die griechische Tragödie, die aus dem dionysischen Opferkult hervorging, mit der "Ansammlung und Entladung in gewaltsamen, zeitlich getrennten Stößen" zu erklären sei (8:79). Er lebt in einer altjüngferlichen Welt voller schaurig-schöner "dionysischer" Katastrophen ("Wer den höchsten Augenblick genießt, erblindet" [8:186]) und dem "Vergehen" im "süßen Schmerz": "Sähest du feiner, so würdest du alles bewegt sehen: wie das brennende Papier sich krümmt, so vergeht alles fortwährend und krümmt sich dabei" (9:651). Allein schon, wie er seine Hauptbeschäftigung, das Verfassen von Büchern, beschreibt: "Jedes Buch als eine Eroberung, Griff - tempo lento - bis zum Ende dramatisch geschürzt, zuletzt Katastrophe und plötzliche Erlösung" (12:100). Und im 156. Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches: "Wenn sich die Produktionskraft eine Zeit lang angestaut hat und am Ausfließen durch ein Hemmnis gehindert worden ist, dann gibt es endlich einen so plötzlichen Erguß, als ob eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten, also ein Wunder sich vollziehe" (2:147).

Was hinter dem erwähnten "See, der sich versagt abzufließen", d.h. dem "Übermenschen" steckt, wird aus sexualökonomischer Sicht evident, wenn Nietzsche beispielsweise ausführt, seinen Affekt zu besiegen, heiße in den meisten Fällen, ihn zeitweilig zu hemmen und aufzustauen – und damit die Gefahr größer zu machen (10:130). In diesem Zusammenhang schimmert auch so etwas wie Einsicht in den eigenen Zustand auf: "Verstimmung als verhinderte Auslösung" (9:452), bzw. der "dumpfe Druck unbefriedigter Auslösung" (9:453).

Er spricht von der "Notwendigkeit, eine wachsende füllende Erregung durch eine ausleerende Erregung (Wut auslassen, Rachegedanken usw.) auszulösen" (9:427). "Sodann" denkt er auch an "das Leben in erotischen Vorstellungen, welche die Phantasie beschmutzen und allmählich eine Oberherrschaft gewinnen, bei welcher die Gesundheit leidet." Sowohl dem Bedürfnis nach Rache als auch dem nach Liebe müsse "auf die natürliche Art entsprochen werden und die Vorstellung rein erhalten werden. Die versagte Rache und die versagte Liebe machen den Menschen krank, schwach und schlecht" (8:414).

Nietzsche nimmt Reichs entsprechende Beschreibung in "Zur Trieb-Energetik" (34:153-167) fast wörtlich vorweg, wenn er die Lust als einen "Rhythmus kleiner Unlustreize" bezeichnet (13:38). "Dies ist der Fall z.B. beim Kitzel, auch beim geschlechtlichen Kitzel im Akt des Koitus: wir sehen dergestalt die Unlust als Ingredienz der Lust tätig. Es scheint, eine kleine Hemmung, die überwunden wird und der sofort wieder eine kleine Hemmung folgt, die wieder überwunden wird." Doch nach einem Bindestrich fühlt man sich plötzlich in eine "S&M-Sitzung" versetzt, wenn er fortfährt: "dieses Spiel von Widerstand und Sieg regt jenes Gesamtgefühl von überflüssiger Macht am stärksten an, das das Wesen der Lust ausmacht" (13:358).

Geradezu wie eine Vorwegnahme von Reichs "Orgasmuskurve" wirkt die Notiz: "Die Lust ist eine Art Rhythmus in der Aufeinanderfolge von geringeren Schmerzen und deren Grad-Verhältnissen, eine Reizung durch schnelle Folge von Steigerung und Nachlassen, wie bei der Erregung eines Nerven, eines Muskels, und im Ganzen eine aufwärts sich bewegende Kurve: Spannung ist wesentlich darin und Ausspannung. Kitzel." Doch in einem zweiten Absatz schlägt Nietzsches Argumentation ins Gegenteil dessen um, was Reich vertrat: "Die Unlust ist ein Gefühl bei einer Hemmung: da aber die Macht ihrer nur bei Hemmungen bewußt werden kann, so ist die Unlust ein notwendiges Ingrediens aller Tätigkeit (alle Tätigkeit ist gegen etwas gerichtet, das überwunden werden soll) Der Wille zur Macht strebt also nach Widerständen, nach Unlust. Es gibt einen Willen zum Leiden im Grunde alles organischen Lebens (gegen 'Glück' als 'Ziel')" (11:222). Man hört geradezu Freud "jenseits des Lustprinzips"!(10)

Für Nietzsche ist Lust "nur ein Symptom vom Gefühl der erreichten Macht, eine Differenz-Bewußtheit"; das Lebende strebe "nicht nach Lust, sondern Lust tritt ein, wenn es erreicht, wonach es strebt", d.h. Macht (13:300). Lust sei nur ein "Plus-Gefühl" bzw. ein "Differenz-Gefühl" von Macht (13:358). Sie sei "eine Reizung des Machtgefühls durch ein Hemmnis" (11:514): "der Schmerz ist nur bedingt als eine Folge des Willens zur Lust (des Willens zum Werden, Wachsen, Gestalten, folglich zur Überwältigung, zum Widerstand, zum Krieg, zur Zerstörung)" (13:229). Es sei das "Gefühl der Macht", das den Gegensatz von Lust und Schmerz aufhebt (12:96). Die Geschlechtsliebe "will die Überwältigung, das In-Besitz-nehmen und sie erscheint als Sich-hingeben" (12:419). Die natürliche Geschlechtsliebe sei, so Nietzsche, "in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter!" (6:15.306). Seine Lieblingsoper Carmen ist ein sadomasochistisches Rührstück, voller Männerphantasien von der wilden, leidenschaftlichen Frau, die schließlich umgebracht wird, nachdem sie es zu bunt getrieben hatte. Nietzsche zitiert dazu das Schlußwort der "tragischen Oper": "Ja ich habe sie getötet, meine Carmen, meine angebetete Carmen!" (9:657).

Über die Hingabe schreibt Nietzsche: "Für zwei Liebende im ganzen und starken Sinne des Wortes ist eben die Geschlechtsbefriedigung nichts wesentliches und eigentlich nur ein Symbol, für den einen Teil (...) Symbol der unbedingten Unterwerfung, für den andern Symbol der Zustimmung zu ihr, Zeichen der Besitzergreifung" (12:179). "Herrschsucht" sei nicht nur der "mächtigste Instinkt", sondern der Instinkt "des Lebens selbst" (12:457). Leben "ist essentiell ein Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigung zu wehren" (13:258). Deshalb dürfe man überall, wo die hedonistische Perspektive in den Vordergrund tritt, auf Leiden und eine "gewisse Mißratenheit" schließen (12:529f). Nietzsche ist der Todfeind der Genitalität!

 

 

3. Der verdrängende Nietzsche

Bernd Laska hat gezeigt, daß Nietzsche Anfang Oktober 1865 auf Max Stirner gestoßen sein muß, als er den Vater seines Freundes Hermann Mushake bei einem Besuch in Berlin kennenlernte. Eduard Mushacke war ein Bekannter Stirners gewesen. Laska zufolge hat Nietzsche diese "initiale Krise" nachträglich mit seinem Leipziger "Schopenhauer-Erlebnis" vom Ende Oktober verkleistert (26). Wie kein anderer Philosoph bot sich Schopenhauer an, die Wunde zu schließen, die Stirners Der Einzige und sein Eigentum (44) gerissen hatte. Beispielsweise bedauerte Friedrich Albert Lange in seiner Geschichte des Materialismus, die Nietzsche im darauffolgenden Jahr gleich nach ihrem Erscheinen las (42:135), daß Stirners destruktiver Schrift kein "positiver Teil" gefolgt sei, "denn", so Langes fragwürdige Interpretation, "aus dem schrankenlosen Ich hinaus kann ich als meinen Willen und meine Vorstellung auch jede Art von Idealismus wiedererzeugen. Stirner betont in der Tat den Willen dermaßen, daß er als Grundkraft des menschlichen Wesens erscheint. Er kann an Schopenhauer erinnern" (24:529).

Wenn Rüdiger Safranski in seinem Nietzsche-Buch über Stirner (auch recht fragwürdig) ausführt, daß Stirner im Kern des Menschen eine "schöpferische Kraft" entdeckt habe, "die Phantome erzeugt, um sich dann von den eigenen Erzeugnissen bedrücken zu lassen" (43:125f), – wird unmittelbar ersichtlich, wie problemlos Nietzsche Stirners anthropologische Analyse ("der Einzige und sein Eigentum") durch Schopenhauers "Seinsanalyse" ("die Welt als Wille und Vorstellung") ersetzen konnte. Während Stirner Nietzsche mit dessen eigener verkorksten Existenz (d.h. seinem von fixen Ideen beherrschten Ich) konfrontiert hätte, verschwindet bei Schopenhauer das eigene Leiden im "Meer des Leidens", das, Schopenhauer zufolge, alle Existenz unaufhebbar belastet. Nietzsche beschwört in seinem frühen Aufsatz "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" (1:873-890) und in den späteren Aphorismen das ganze Universum herauf, um das eigene Leid zu einem Nichts werden zu lassen, die "des großen Ernstes nicht wert (sei)" (2:354). Am 8.10.1868 bekannte er Erwin Rohde, seinem damals besten Freund, gegenüber, an Schopenhauer liebe er "die ethische Luft, de(n) faustische(n) Duft, Kreuz, Tod und Gruft etc." (15).

Wie der Stirner-Schock in Nietzsches Auseinadersetzung mit Schopenhauers Philosophie weiterwirkte, wird an den beiden zentralen Begriffen seiner Philosophie deutlich: dem "Willen zur Macht" und der "ewigen Wiederkehr des Gleichen":

Aus Schopenhauers metaphysischem Konzept eines einheitlichen alles Sein durchwirkenden austauschbaren "Willens zum Leben" wurden bei Nietzsche Myriaden von individuellen, einzigartigen "Willenspunktationen", die um die Macht ringen. Dieses atomistische Tollhaus wirkt wie eine Travestie von Stirners Denken. Entsprechend muß es durch den anti-Stirnerschen "moralischen Imperativ", der Ausdruck des höchsten Willens zur Macht ist, gebändigt und sublimiert werden. In diesem Zusammenhang rechtfertigt Nietzsche das diametrale Gegenteil des Stirnerschen "Eigners". Beispielsweise preist Zarathustra folgende "Tafeln der Überwindung": "Vater und Mutter ehren und bis in die Wurzel der Seele hinein ihnen zu Willen sein" und: "Treue üben und um der Treue Willen Ehre und Blut auch an böse und [ge]fährliche Sachen setzen" (4:75). Im Sinne des Willens zur Macht war die Moral notwendig, um die Natur und das "wilde Tier" im Menschen zu überwinden. Erst nachdem das geleistet ist, kann man sich selbst frei weiterbilden und entfalten (12:208). Die Nähe zum zweiten großen "Überwinder Stirners", nämlich zu Marx ist evident! Es geht Nietzsche nicht etwa um die Überwindung der Moral, also das Abstreifen der Panzerung, sondern um deren "Selbstüberwindung" (5:51) – die Verfeinerung und "Veredelung" des Panzers.

Während Stirner sich seiner selbst sicher ist,(11) macht sich Nietzsche von gesellschaftlichen Wertmaßstäben, von dem was "hoch" und "edel" ist, abhängig. Der Wert der Selbstsucht hänge vom Wert der Physiologie ab. Es käme darauf an, ob man für die absteigende oder aufsteigende Entwicklung stehe (6:131f). Dazu paßt die Aussage von Nietzsches tumben Adlatus Heinrich Köselitz, daß, hätte Nietzsche Stirner gekannt, Nietzsche sich vor Stirner geekelt hätte. Von "Hoheit" finde er, Köselitz, bei Stirner äußerst wenig. "Seine Denkweise wirkt bei der Niedrigkeit der Interessensphäre, in der sich seine Selbstsucht bewegt, oft widerlich. (...) Höhe, oder auch nur Aspiration nach der Höhe vermisse ich an Stirner" (21:344). Nietzsche selbst spricht in Zur Genealogie der Moral, sicherlich auch gegen Stirner gemünzt, davon, daß die Schwachen aus ihrem Ressentiment heraus die Wirklichkeit verbiegen und ihr schwaches Handeln von einem angeblich starken Subjekt abtrennen, so daß sie ihre Schwäche als Freiheit, ihr So-und-So-Sein als Verdienst auslegen können (5:281).

1873, acht Jahre nach seiner "initialen Krise", riß die Narbe, die Stirner hinterlassen hatte, erneut auf, als sich der Schopenhauerianer Nietzsche an seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, die von der Geschichte und ihrer Funktion handelte, versuchte. Zu Beginn seiner Überlegungen lehnt er im Namen der Wissenschaft die astrologische Vorstellung der Pythagoreer ab (1:261), "daß, wenn die Sterne die gleiche Stellung haben, alles wieder völlig gleich geschehen werde" (7:637); daß, wäre die "Vergangenheit und Konstellation" bekannt, man die Wiederholung voraussagen könne - und wendet ein, nichts wiederhole sich (7:681). Er vertritt also eine von Schopenhauer geprägte pessimistische Anschauung: aus der Geschichte läßt sich nichts lernen, die Zukunft bricht unberechenbar in die Gegenwart ein und liefert uns immer neuen unvoraussehbaren Problemen aus.

Im Verlauf der Arbeit setzt er sich jedoch mit dem von ihm verachteten damaligen "optimistischen" Mode-Philosophen (und abtrünnigen "Stirnerianer") Eduard von Hartmann auseinander, der ebenfalls den Gedanken einer Wiederholung der Vergangenheit ablehnt, aber aus dezidierter Opposition gegen Schopenhauers pessimistische Weltanschauung. Hartmann propagiert Hegels zukunftsgewissen Glauben an einen sinnvollen "Weltprozeß". In diesem Zusammenhang sieht sich Nietzsche gezwungen, sich auf die Seite Schopenhauers zu stellen, für den der angebliche "Weltprozeß" ein sinnloser Leerlauf ist, in dem sich ewig das gleiche ereigne. Aber auch dieses Schopenhauersche Versatzstück gestaltet Nietzsche auf eine Weise um, die, ähnlich wie beim Thema "Willen", durch alle Schopenhauer-Übermahlungen hindurch seine klandestine Auseinandersetzung mit Stirner erahnen läßt.

Nietzsche setzt sich in seiner Betrachtung gerade mit jenem Abschnitt von Hartmanns Philosophie des Unbewußten auseinander, in dem dieser Stirner zu widerlegen versucht (25:32f). In diesen Ausführungen über Stirner leugnet Hartmann die Ewige Wiederkehr - was Nietzsche mit einem kryptischen "oh Schelm!" bedenkt (1:317, 7:649). Mittels der Hegelianischen Vorstellung eines "zielgerichteten Weltprozesses" "überwindet" Hartmann also nicht nur Schopenhauers pessimistische Willensphilosophie, sondern auch Stirners "Einzigen". Damit zwingt er Nietzsche nicht nur die Verteidigung von Schopenhauers Vorstellung einer ewigen Wiederkehr auf, sondern parallel dazu auch die von Stirners "Einzigem". Es steht Hartmanns "volle Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozeß" (1:312) gegen die Ewige Wiederkehr und jene, die Nietzsche später "Übermenschen" nennen wird, "die großen Individuen" (7:649). Es ist der "Einzelne", der sich unabhängig vom übergreifenden Weltprozeß "selber einen Zweck, ein Ziel, ein 'Dazu' vorsetzt" (1:319).(12)

Wie der Autor der Geburt der Tragödie seine durch Hartmann vermittelte erneute Konfrontation mit Stirner verarbeitete, wird in der 1874 verfaßten Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung über – Schopenhauer deutlicher. Ein Stirnersches "Ich will mein bleiben!" (1:374) vereinigt sich mit der "Erlösung" der Natur in den "wahrhaften Menschen" (also den später so genannten "Übermenschen"): "bei ihrem Erscheinen und durch ihr Erscheinen macht die Natur, die nie springt, ihren einzigen Sprung und zwar einen Freudesprung, denn sie fühlt sich zum ersten Male am Ziele, dort nämlich, wo sie begreift, daß sie verlernen müsse, Ziele zu haben(13) und daß sie das Spiel des Lebens und Werdens zu hoch gespielt habe." Das ist für Nietzsche "die große Aufklärung" (1:380): das "Ich" und damit die gesamte Natur bleiben sie selbst, da es keine Ziele gibt: alles kreist in sich. Zehn Jahre später, also 1884, plante er ein Buch "zur Philosophie der ewigen Wiederkunft", das den Titel "Die neue Aufklärung" tragen sollte (11:228f).

Zur "Aufklärung" im üblichen Sinne sollte er, zum Entsetzen der Gemeinde der Schopenhauerianer und Wagnerianer, die sich um sein Buch Die Geburt der Tragödie geschart hatten, in seiner ersten Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches vordringen, deren Zusammenstellung in das Jahr 1877 fällt. Ein Buch, in dem Nietzsche ganz "Stirnerianisch" den Einzelnen vor den "allgemeinen Begriffen" in Schutz nimmt. Bezeichnend ist nun, wie er das bewerkstelligt: indem er ihn in den Gesamtkonnex des als Maschine aufgefaßten Kosmos einbindet, in der alles mit allem anderen verwoben ist, alle Handlungen unbedingt notwendig sind und deshalb der Einzelne völlig unverantwortlich für sein Tun ist. Nietzsches "Evangelium", jedenfalls nennt er es so, lautet, daß alles Notwendigkeit und deshalb Unschuld ist. Das Bewußtsein dieser Notwendigkeit wird den "weisen, unschuldigen (unschuld-bewußten) Menschen" hervorbringen, wie die Menschheit jetzt den "unweisen, unbilligen, schuldbewußten Menschen" produziert (2:105f).

Diese Frohe Botschaft beinhaltet auch das Versprechen der Unsterblichkeit, denn erwäge man, "daß jede Handlung eines Menschen (...) auf irgendeine Art Anlaß zu anderen Handlungen, Entschlüssen, Gedanken wird, daß alles, was geschieht, unlösbar fest sich mit allem, was geschehen wird, verknotet, so erkennt man die wirkliche Unsterblichkeit, die es gibt, die der Bewegung: was einmal bewegt hat, ist in dem Gesamtverbande alles Seienden, wie in einem Bernstein ein Insekt, eingeschlossen und verewigt" (2:171). Im 286. Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches heißt es schließlich: das Individuum ist einzig, "ein eigenes, nur einmaliges Ding (...), das zu allen anderen Dingen eine neue, nie dagewesene Stellung einnimmt" (2:233). Konsequenterweise wird in der Morgenröte (1880) das Sokratische "Erkenne dich selbst" mit dem gesamten Universum verknüpft: "Erst am Ende der Erkenntnis aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur die Grenzen des Menschen" (3:53).

Nietzsches "offizielles" Datum für seine Vision der "ewigen Wiederkunft des Gleichen" lautet Anfang August 1881, als er in der Nähe des Silvaplana-Sees dieses "neue Schwergewicht" erschaut, das die "unendliche Wichtigkeit" des Einzelnen und seines Handelns festlegt (9:494). Im Umfeld dieses Ereignisses macht er sich zu einem geplanten vierbändigen Werk über den "Ring der Ewigkeit" und "vom letzten Glück des Einsamen" Notizen - "das ist der, welcher aus dem 'Zugehörigen' zum 'Selbsteigenen' des höchsten Grades geworden ist: das vollkommene Ego: nur dies Ego hat Liebe, auf den früheren Stufen, wo die höchste Einsamkeit und Selbstherrlichkeit nicht erreicht ist, gibt es etwas anderes als Liebe" (9:520).

Hier, im direkten Zusammenhang mit der "Wiederkunftslehre", spricht Nietzsche als eine Art "Stirnerianer". Sein "alle Dinge sind getauft am Borne der Ewigkeit und jenseits von Gut und Böse" (4:209) ist identisch mit dem "souveräne(n) Individuum, das nur sich selbst gleiche, (...) das autonome übersittliche Individuum (denn 'autonom' und 'sittlich' schließt sich aus)" (5:293). Die sozusagen "kosmologische" Form des "einzige(n) Verlangen(s) des Individuums nach Selbstgenuß (samt der Furcht, desselben verlustig zu gehen)" (2:104) kommt in dem Satz zum Ausdruck: "Und ewig gleich des Ringes Durst, ist auch mein Durst nach mir: sich wieder zu erreichen, dreht und ringt sich jeder Ring" (10:417, vgl. 10:349).

Versuchen wir Nietzsches "Wiederkunftslehre" als in sich geschlossene Theorie uns vor Augen zu stellen: Sein Gedanke der "Ewigen Wiederkehr des Gleichen" impliziert, daß ich und die Welt untrennbar miteinander verwoben sind (siehe dazu 29), denn "der Knoten von Ursachen kehrt wieder, in den ich verschlungen bin, - der wird mich wieder schaffen! Ich selber gehöre zu den Ursachen der ewigen Wiederkunft" (4:276). "Der Einzelne ist ein Stück Fatum, von vorne und von hinten, ein Gesetz mehr, eine Notwendigkeit mehr für alles, was kommt und sein wird" (6:87).

Das wäre jedenfalls der Fall, wenn die Welt zwar zeitlich unendlich, aber räumlich endlich wäre, es nichts außerhalb von ihr gäbe und in ihr alles von allem anderen abhängig wäre. Das (isolierte) Individuum und sein (isoliertes) "Ich" wäre eine Illusion: wäre irgendein Element meiner Umgebung anders, wäre ich ein ganz anderer Mensch. Ich und meine Umwelt bilden eine unauflösliche Einheit. Daraus folgt, daß wenn ich in meiner Einzigkeit "wiederkehre", gleichzeitig das gesamte mich umgebende Universum wiederkehren muß, exakt genauso "einzigartig" wie es war bis ins letzte Atom, ohne jede auch nur allerkleinste Variation. Läge auf der Venus ein Staubkorn nicht an der richtigen Stelle, wäre alles anders. Da aber alles in der Welt unauflöslich miteinander verwoben ist, werde ich diesen gegenwärtigen Augenblick in alle Ewigkeit wieder erleben – einzig und allein, weil es diesen einzigartigen Augenblick gegeben hat. Es ist wie mit einer Uhr, bei der jede gegebene Zeigerstellung in alle Ewigkeit wiederkehren muß.

Der gewichtigste Einwand gegen die ewige Wiederholung lautet, daß, wie die Mathematik lehrt, endliche Dinge unendlich teilbar sein können, worauf Nietzsche mit einem funktionellen Argument antwortet: "Die Mechanik nimmt die Kraft als etwas absolut Teilbares: aber sie muß erst jede ihrer Möglichkeiten an der Wirklichkeit kontrollieren. Es ist bei jener Kraft eben nichts in gleiche Teile teilbar; in jeder Lage ist sie Eigenschaft, und Eigenschaften kann man nicht halbieren: weshalb es nie ein Gleichgewicht der Kraft gegeben hat" (9:530). Man kann Ereignisse und Eigenschaften nicht teilen, weil es sonst ganz andere Ereignisse und Eigenschaften sind!(14)

Letztendlich geht es aber natürlich nicht um "Physik", auch nicht um eine kosmologische Theorie, sondern um eine Theorie des Ichs (29), bzw. um Stirners "Einzigen" und dessen "Überwindung" - wieder durch den "moralischen Imperativ": Wie seine Notizen von 1887 über den "europäischen Nihilismus" (12:211-217) zeigen, hat Nietzsche die nihilistische Idee der Ewigen Wiederkehr nicht etwa als unumstößliches "naturwissenschaftliches" Dogma betrachtet, sondern als "Zuchtmittel", das die Starken von den Schwachen separiert und so den Nihilismus, d.h. die Entwertung des Lebens, durch einen zutiefst nihilistischen Gedanken überwindet. "Das Leben selber schuf diesen für das Leben schwersten Gedanken, es will über sein höchstes Hindernis hinweg!" (10:491). Die Wiederkunftslehre bestärkt die Mächtigen, während es die Schwachen erdrückt. Auf diese Weise ist sie lebensfördernd, denn nur die "Grade der Macht" sind das, was dem Leben Wert verschafft: das Leben selbst ist aber nichts als Wille zur Macht (12:215).

Der quasi religiöse Glaube an die "Ewige Wiederkunft" begründet ein neues "Imperativ": so zu leben, daß man die ewige Wiederholung dieses Lebens will. Die vermeintlich naturwissenschaftlich begründete "ewige Wiederkunftslehre" sollte an die Stelle der zunehmend versagenden "Zuchtmittel" Metaphysik und Religion treten und ein neues, glaubhafteres und effektiveres Mittel zur "Züchtung und Auswahl" bilden (12:342f). Am Ende wird die "Ewige Wiederkehr" also zur zynischen Ideologie und dergestalt vollkommen vom "Willen zur Macht" vereinnahmt und dominiert.

Mit diesem Verrat an seiner eigenen "Wiederkunftslehre" (der auf sublime Weise gleichzeitig auch ein Verrat an Stirner war) löste sich Nietzsche von seiner einzigen Verankerung in der Welt. Das Versinken in den Wahnsinn wurde unausweichlich. Die "Ewige Wiederkehr" war nämlich die einzige Affäre dieses "eisernen Jungmanns". Das üble Gebräu dieses Religionsersatzes hatte er, um wieder seine eigenen Worte gegen ihn selbst zu wenden, aufgrund eines "mit geschlechtlichen Kräften überladenen cerebralen Systems" (12:325) verzapft. Er suchte den Trost, zum Ganzen zu gehören - auch wenn er vom wirklichen Leben ausgeschlossen blieb: "oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, - dem Ring der Wiederkunft! Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!" (4:287).

In der Geburt der Tragödie sprach er von der "wonnevollen Verzückung" beim sadomasochistischen "Zerbrechen des principii individuationis" (1:28), das später zum "man gehört zum Ganzen, man ist im Ganzen" (6:96f) der Ewigen Wiederkunft des Gleichen mutierte. Diese Sehnsucht nach dem "dionysischen Orgiasmus", wenn, um wieder mit dem jungen Nietzsche zu reden, "unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern des Seins, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt" (1:103), war Nietzsches lebenslange Gefühlslage, aus der schließlich der Gedanke der Ewigen Wiederkunft erwachsen mußte, der ihn 1884, also mit 40, ausrufen ließ: "Oh Lebens Mittag! Zweite Jugendzeit! Oh Sommergarten!" (5:243). Das dionysische Mysterium der Hellenen bedeute: "Das ewige Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens; die Zukunft in der Vergangenheit verheißen und geweiht; das triumphierende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus; das wahre Leben als das Gesamt-Fortleben durch die Zeugung, durch die Mysterien der Geschlechtlichkeit" (6:159). Bei der Ewigen Wiederkunft geht es eindeutig um den "Rausch der Geschlechtserregung, diese älteste und ursprünglichste Form des Rausches" (6:116).

Nietzsches angebliche Große Aufklärung war in Wirklichkeit eine "große Verfinsterung": der "Übermensch" stellte die Apotheose des gepanzerten "Übertiers" Mensch dar, das "Umwerten aller Werte" war der "satanistische" Hilfeschrei eines ewig Pubertierenden, der "Wille zur Macht" waren die Sekundären Triebe zur "Weltformel" geronnen und die "Ewige Wiederkehr" diente als Zuchtmittel zur Herstellung dieser sadomasochistischen Herrschaft. Alles mit Versatzstücken, die er von Stirner übernommen hatte – um Stirner zu "überwinden". In einem Atemzug polemisiert Nietzsche gegen den "Gewissenbiß" und die lebensfeindliche Moral und für das Herrschen und die Herrschenden (12:332f). So kann er sich, ähnlich wie vor ihm Marx und nach ihm Freud, als kulturrevolutionärer "Überwinder" und doch gleichzeitig als "Wahrer" der "Kultur" feiern lassen, als "Aufklärer" und gleichzeitig als letzte Rettung vor der "Zersetzung".

Nietzsche mißbraucht Stirner, indem er ausgerechnet dessen Konzept des Einzigen dazu zum Anlaß nimmt, eine neue Grundlage für den "moralischen Imperativ", daß man sich unterwerfen soll, zu schaffen. Außerdem relativiert er Stirners Satz, die aufklärerischen Atheisten seien doch noch sehr fromme Leute, da sie an "die Menschheit", "den Menschen" und andere hehre Ideen glauben, indem er dessen Grundkonzeption auf alle möglichen und unmöglichen Bereiche ausdehnt, insbesondere die Wissenschaft und ihren Glauben an "die objektive Wahrheit" (siehe z.B. den 344. Aphorismus von Die fröhliche Wissenschaft [3:574-577]) – und macht damit erneut Platz für obskurantistische Theorien.

Natürlich war dieser Ansatz in vielen Fällen auch fruchtbar. Man nehme beispielsweise Nietzsches "Anti-Darwinismus", der eine verblüffende Vorwegnahme der Soziobiologie und der "egoistischen Gene" darstellt. Das Individuum nehme den "geschlechtlichen Instinkt" nicht wegen der Gattung so wichtig, vielmehr sei das Zeugen eine Leistung, die im Interesse des Individuums liege und seine "höchste Machtäußerung" sei. Dies, so Nietzsche, "natürlich nicht vom Bewußtsein aus beurteilt, sondern von dem Zentrum der ganzen Individuation" (12:294f). Auch hier ist seine Hervorhebung des Individuums und seiner egoistischen Interessen gegenüber einem imaginären "Vorteil der Gattung" letztendlich doch nur sozusagen "übertragener Stirner":

 

 

4. Auf dem Weg zur Massenpsychologie des Faschismus

Seine "Brüder" ruft Nietzsche auf, sich zu "Vätern und Vorfahren" des "Übermenschen" umzuschaffen (4:109). Zweck der "Kindererzeugung" sei es, freiere Menschen, als wir es sind, in die Welt zu setzen. Aus diesem Grunde sei es so wichtig, über die Erblichkeit der Eigenschaften nachzudenken (8:301). Angesichts dieser Kinder, die seine höchste Hoffnung sind (4:351) und an denen er gut machen will, daß er seiner Väter Kind ist (4:155), gelten seine letzten Notizen nicht der Auseinandersetzung zwischen Staaten, Rassen und Klassen, sondern zwischen lebenspositiven und lebensnegativen Kräften, ähnlich wie in Reichs Konzept der Arbeitsdemokratie. (Siehe auch Max Stirner und die Kinder der Zukunft und Der politische Irrationalismus aus orgonomischer Sicht.)

Entgegen dem Vorurteil vertrat Nietzsche durchaus nicht den "Klassenstandpunkt", Armut war für ihn nie synonym mit "Pöbel". Es ist eine Kategorie jenseits des Unterschiedes zwischen arm und reich (4:336). Unter der "Optik des Lebens" (1:14) gibt es auch reichen Pöbel. Er beklagt, daß die herrschenden Stände "den Glauben an den höheren Menschen" schlecht repräsentiert, ja zum Teil sogar vernichtet hätten (11:361). "Schlechtweggekommen" war für ihn kein politisch-sozialer, sondern ein physiologischer Begriff. Die "Schlechtweggekommenen", die den Nährboden des "Nihilismus" liefern, fänden sich in allen Ständen. Die "Krisis", die der Nihilismus heraufbeschwöre, würde die Menschen in die Gesunden und die Kranken aufspalten, ohne Rücksicht auf alle bestehenden Gesellschaftsordnungen (12:216f). Die gleiche Hoffnung auf eine grundsätzliche Klärung und eines daraus erwachsenen Neuanfangs hegte Reich angesichts des Zweiten Weltkrieges.

Nietzsche setzt die "Umwertung aller Werte" mit einer radikalen Restrukturierung der gesellschaftlichen Schichtenfolge gleich. Er spricht von der "Umkehrung der Rangordnung": die Priester werden unter die Schlechtweggekommenen eingereiht, unter die "Charlatans, Quacksalber, Falschmünzer", während umgekehrt der "Tschandala" von einst nun obenauf sein soll: "voran die Gotteslästerer, die Immoralisten, die Freizügigen jeder Art, die Artisten, die Juden, die Spielleute - im Grunde die verrufenen Menschenklassen" (13:438). Seine Hoffnung setzt er in all jene, die später von den Real- und Nationalsozialisten verfolgt und ermordet werden sollten.

Er notiert sich sogar, daß man der "gemeinen Masse" die Verantwortung, d.h. die "Herrschaft" übertragen müsse, um sie positiv zu verändern (10:251). Dabei vertritt er Anschauungen, die durchaus Reichs Konzept der Arbeitsdemokratie entsprechen, wenn er etwa fordert, daß auch auf dem Gebiet der Arbeit die Losung "mehr Achtung vor den Wissenden" lauten sollte (2:676), statt der "demokratischen" Willkür des unwissenden Pöbels zu folgen. Man lese etwa den 318. Aphorismus von Vermischte Meinungen und Sprüche, der wie ein Auszug aus Reichs Abhandlungen über Arbeitsdemokratie wirkt (2:507f).

Im 314. Aphorismus ("Partei-Sitte") des gleichen Buches funkelt so etwas wie eine arbeitsdemokratische Einsicht in den pathologischen Charakter von Politik und formaler Demokratie auf. Die eine Partei versuche die Errungenschaften der anderen niederzumachen und wird dabei um so erbitterter, je vortrefflicher diese Errungenschaften sind (2:506). In den vorbereitenden Notizen zu diesem Aphorismus wird der arbeitsdemokratische Geist sogar noch offensichtlicher, denn dort fordert Nietzsche, daß in den Parlamenten die Parteien abgeschafft werden und nur die jeweils Sachverständigen abstimmen, während die anderen im Sinne der Wahrhaftigkeit sich ihrer Stimme enthalten (14:180).

Der reife Nietzsche von 1885 hat das Prinzip der Arbeitsdemokratie tendenziell vorweggenommen, indem er darauf hinweist, daß "heute" (also zu einer Zeit, als es den gegenwärtigen Staatsmoloch nur in Rudimenten gab!) der Staat aufgebläht und die Gesellschaft von jenen durchsetzt sei, welche die, wie Nietzsche sie nennt, "eigentlichen Arbeiter" vertreten wollen. Neben die eigentlichen Gelehrten drängen sich die Literaten und "Intellektuellen", auch die leidenden Volksschichten haben ihre "Vertreter" ("schwätzende prahlerische Tunichtgute"), am schlimmsten aber sind die Berufspolitiker, welche davon leben, daß sie vor den Parlamenten die Notstände anprangern. Als drittes Element des gesellschaftlichen Parasitismus nennt Nietzsche die Unzahl von "Zwischenpersonen", d.h. Makler, Berater, Standesfunktionäre, etc.: "in einer antiken Stadt dagegen, und im Nachklang daran noch in mancher Stadt Spaniens und Italiens, trat man selber auf und hätte nichts auf einen solchen modernen Vertreter und Zwischenhändler gegeben es sei denn einen Tritt" (11:475).

Im 203. Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse spricht er von den im positiven Sinne postdemokratischen "Führern", die den Menschen beibringen, daß die Zukunft des Menschen vom Willen des Menschen abhängt bzw. abhängen könnte, "um damit jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher 'Geschichte' hieß, ein Ende zu machen". Das demokratische Chaos und der Zufall der "größten Zahl" sei nur die letzte Ausprägung der universellen "demokratischen" Irrationalität. Mit Schrecken spricht Nietzsche davon, daß diese, um Reichs Begriff zu verwenden, "Neuen Führer" ausbleiben oder mißraten und entarten könnten (5:126).

Reich hat den "pestilenten Charakter" als jemanden gekennzeichnet, "der mit Schwung und Hingabe etwas vermeintlich Gutes tut" (35:191). Desgleichen Nietzsche: "Es ist nicht auszurechnen, was sich alles unter dem Anscheine eines Kampfes gegen das Böse von schlechten, von rachsüchtigen, von gänzlich rücksichtslosen Instinkten versteckt. Selbst schmutzige Antisemiten wie Eugen Dühring nehmen in Anspruch, die Sache des Guten zu vertreten..." (14:496). Seine Beschreibung der Emotionellen Pest und des pestilenten Charakters, etwa des besagten "Berliner Rache-Apostels Eugen Dühring", dessen Sozialismus und Antisemitismus in ihrer Untrennbarkeit sich wie eine Vorwegnahme des Nationalsozialismus ausnehmen, ist perfekt (5:368-375). Nietzsche hat das Wesen der Pest durchschaut: von "bösen Gedanken, Vorsätzen, Schurkereien" ist der "ekle Quell so häufig der Unterleib" (2:203).(15)

Die "Verschwörung der Leidenden" gegen jene, denen es besser geht: aus ihrem "Ressentiment" heraus vergiften sie alles mit ihrem dauernden Argwohn. Ständig grübeln sie über die angeblichen Machenschaften der anderen, "sie durchwühlen die Eingeweide ihrer Vergangenheit und Gegenwart nach dunklen fragwürdigen Geschichten, wo es ihnen freisteht, in einem quälerischen Verdachte zu schwelgen und am eignen Gifte der Bosheit sich zu berauschen - sie reißen die ältesten Wunden auf, sie verbluten sich an längst ausgeheilten Narben, sie machen Übeltäter aus Freund, Weib, Kind und was sonst ihnen am nächsten steht" (5:374f). Besser kann man Modju gar nicht beschreiben! Es fängt bei der Kindererziehung und der Ehemisere an und endet beim Holocaust.

Nietzsche warnt vor demjenigen, der auf seine Kinder neidisch ist, "weil er nicht mehr Kind sein kann" (3:507). "Welche Brutalität ist die gewöhnliche Erziehung, der Eingriff der Eltern in die Sphäre der Kinder!" (9:10). "Wenn uns die Freude der anderen wehe tut, zum Beispiel wenn wir uns in tiefer Trauer befinden, so verhindern wir diese Freude, wir verbieten dann zum Beispiel den Kindern das Lachen" (9:94). "Sind nicht die meisten Ehen der Art, daß man keinen Dritten als Zeugen wünscht? Und gerade dieser Dritte fehlt fast nie - das Kind - und ist mehr als ein Zeuge, nämlich der Sündenbock!" (3:143).

Von da an durchzieht die Pest das ganze Leben: "Der weiß noch nichts von der Bosheit, der nicht erlebt hat, wie die niederträchtigste Verleumdung und der giftigste Neid sich als Mitleid gebärden" (8:528). "Jene spitzigen Geschöpfe welche selbst ihr Wohlwollen nicht ohne Stiche äußern können" (9:256). "Der verfluchte Lehrer- und Reformatoren- und Bußprediger-Pathos 'und unsere Pflicht gebeut, die Menschen unglücklich zu machen'" (9:269). Und was den Holocaust betrifft: "Junge Menschen, deren Leistungen ihrem Ehrgeiz nicht gemäß sind, suchen sich einen Gegenstand zum Zerreißen aus Rache, meistens Personen, Stände, Rassen, welche nicht gut Wiedervergeltung üben können (...) So ist der Kampf gegen die Juden immer ein Zeichen, der schlechteren, neidischeren und feigeren Natur gewesen: und wer jetzt daran teilnimmt, muß ein gutes Stück pöbelhafter Gesinnung in sich tragen" (9:254).

Nicht die "Bösen", sondern die Krankhaften, sich selbst verachtenden, die "kleinen Rachsüchtigen" (3:230), mit ihren Vergeltungsbedürfnissen sind die Gefahr. Was tun? Zunächst einmal selber lernen, uns besser zu freuen, "so verlernen wir am besten, anderen wehe zu tun und Wehes auszudenken" (4:114). Und so seltsam es klingen möge: "man hat die Starken immer zu bewaffnen gegen die Schwachen; die Glücklichen gegen die Mißglückten; die Gesunden gegen die Verkommenen und erblich Belasteten." Warum? Will man die Realität dessen, was Reich "Emotionelle Pest" genannt hat, in die Form einer Moral gießen, so lautet diese nihilistische Moral: "die Mittleren sind mehr wert als die Ausnahmen, die Dekadenz-Gebilde mehr als die Mittleren, der Wille zum Nichts hat die Oberhand über den Willen zum Leben - und das Gesamtziel ist (...) besser nicht sein als sein" (13:304).

Nietzsche ruft "die Erhalter des Lebens", "die Freunde des Lebens" auf, mittels einer Organisation sich selber zu erhalten, denn ansonsten gehe alles zugrunde: "die Stärksten und Glücklichsten sind schwach, wenn sie organisierte Herdeninstinkte, wenn sie die Furchtsamkeit der Schwachen, der Überzahl gegen sich haben" (13:303). Als Feinde führt Nietzsche den Buddhismus ("die Verachtung und der Haß gegen das Leben"), "die Guten", "die Idealisten", die Moral und "die gute Sitte (z.B. die Ehe)" an (10:43f).(16) Hinter seinen Vernichtungsphantasien steckt im übrigen eine leicht nachvollziehbare Erwägung: da die Verbindlichkeit der Moral nach dem "Tod Gottes" immer mehr schwindet, "ergibt sich die Aufgabe, mit allen Kräften danach zu streben, daß die Törichten abnehmen", wenn nicht alles im Chaos versinken soll (9:97).

In seiner letzten Notizmappe beschreibt Nietzsche "die Große Politik". Wie bereits erwähnt, spricht er nicht vom Kampf zwischen oben und unten, sondern vom "arbeitsdemokratischen" Kampf quer durch alle Schichten. Er ruft zum Krieg auf, doch keinen zwischen Völkern, wobei er seine Verachtung für die "fluchwürdige Interessen-Politik" der europäischen Dynastien zum Ausdruck bringt, auch keinen zwischen Ständen, da es keine (in seinem Sinn) "höheren Stände" gibt. "Ich bringe den Krieg quer durch alle absurden Zufälle von Volk, Stand, Rasse, Beruf, Erziehung, Bildung: ein Krieg wie zwischen Aufgang und Niedergang, zwischen Willen zum Leben und Rachsucht gegen das Leben, zwischen Rechtschaffenheit und tückischer Verlogenheit..." (13:637f). In einem Brief an Georg Brandes von Anfang Dezember 1888 wird er genauer: sowohl die machtpolitischen Spiele zwischen Staaten als auch die "soziale Frage" würden vom Problem der "Rangordnung zwischen Mensch und Mensch" aufgehoben (15).

Die "Große Politik" will "die Physiologie zur Herrin über alle anderen Fragen machen" und dabei den "Todkrieg gegen das Laster" ausrufen, wobei der christliche Priester in seiner "Widernatur", die "in der Vernichtung des Lebens das Abzeichen einer höheren Art Seelen sieht", das Hauptbeispiel der Lasterhaftigkeit abgibt (13:637f). Entsprechend schlägt Nietzsche zur Beseitigung der sexuellen Perversion "Religion" ein "Gesetz wider das Christentum" vor. Wer nämlich Keuschheit predige, würde öffentlich zur Widernatur aufreizen. "Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jede Verunreinigung desselben durch den Begriff 'unrein' ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist des Lebens" (6:254). Um "allem Entarteten und Parasitischen" "unerbittlich" ein Ende zu setzen, müsse eine "Partei des Lebens" geschaffen werden (13:637f). Dergestalt stehe der stolze, wohlgeratene, zukunftsgewisse, zukunftsverbürgende, jasagende Mensch gegen die "Partei alles Schwachen, Kranken, Mißratenen, An-sich-selber-Leidenden" (6:374).

Natürlich wurde im 20. Jahrhundert diese "Große Politik" von den Bolschewisten, Faschisten und Nationalsozialisten betrieben,(17) - und hat ganz und gar nicht dem Leben gedient. Vielmehr waren diese Bewegungen Ausdruck des gegen das Lebendige gehegten Ressentiments, doch das heißt nicht, daß Nietzsches Grundimpetus falsch war. Diese nach allgemeiner Lesart "verrückteste" und verdammenswerteste seiner Ideen ist vielleicht seine wichtigste und zukunftsträchtigste: die Verteidigung des Lebens gegen – das Gesindel, das sich an der Degradierung jeder primären Lebensregung ergötzt.

In seinem Buch Zur Genealogie der Moral analysiert Nietzsche dieses zerstörerische "Ressentiment": während alle "vornehme Moral" aus einem Ja-sagen zu sich selbst erwachse, sei die "Sklaven-Moral" das Nein-sagen zu allem Anderen, Abweichenden, Besonderen. Die "Schlechtweggekommenen" erwehren sich mittels Moralisierung aller Lebensfragen gegen das Gesunde, dem sie ein schlechtes Gewissen einpflanzen wollen. Hinter der Maske der gutmenschlichen "Betroffenheit" verbirgt sich ihr Haß und ihr Rachedurst gegenüber der "Unschuld des Werdens" (5:270f).

In seinen Notizen konstatiert Nietzsche, das Kunststück des Gutmenschen bestehe darin, den Trieb, dessen Ausdruck er ist, also das besagte "Ressentiment der Schlechtweggekommenen" und den darauf beruhenden bodenlosen Haß, zu leugnen und sogar zu verurteilen und "das Gegenstück dieses Triebes durch die Tat und das Wort beständig zur Schau (zu) tragen": "diese Friedenspartei begreift, daß Verzichtleistung auf Feindseligkeit in Gedanken und Tat eine Unterscheidungs- und Erhaltungsbedingung ist: hierin liegt die psychologische Schwierigkeit, welche verhindert hat, daß man das Christentum verstand. Der Trieb, der es schuf, erzwingt eine grundsätzliche Bekämpfung seiner selber." Diese Aufstandsbewegung habe nur als "Friedens- und Unschulds-Partei" eine Möglichkeit auf Erfolg. Ihr Instinkt begreife, daß sie nur durch "extreme Milde, Süßigkeit, Sanftmut" siegen könne (13:94f). Das ist der Kern jedweden Gutmenschentums, jeder "linken", "liberalen", "aufgeklärten", "toleranten" und "emanzipatorischen" Gesinnung! Man fühlt sich unwillkürlich an die "Friedensbewegung" der 1980er Jahre und die heutigen "anti-zionistischen" (sprich antisemitischen) Friedensfreunde erinnert.

Wie kein anderer hat Nietzsche den modern liberal character durchschaut, den "Nivellierer" (5:61), den "Dialektiker", der seinen Intellekt als Kastrationsmesser benutzt ("Genitale Rache"); der den Intellekt seines Gegners, wie Nietzsche sich ausdrückt, "depotenziert" (6:70). Ein besonders widerwärtiger Ausdruck des linken ("linken") Liberalismus ist die Ironie. Ironie ist stets Ausdruck sekundärer Gefühle. Nietzsche hat diese Taktik der Selbstverkleinerung bei Sokrates gebrandmarkt, der sich als vorgeblich Wissender für unwissend ausgab, "um damit seinen Gegner arglos und sicher zu machen, so daß er sich gehen läßt und gerade heraus sagt, was er denkt: ein Kunstgriff des Pöbelmanns!" (11:435).

Nietzsche hat durchschaut, daß die "im ganzen hoffnungslose, säuerliche Sache" des Sozialismus dem Grundwesen des Lebendigen widerspricht, da das Besitzstreben "der älteste und gesündeste aller Instinkte" ist. "So nämlich klingt die Lehre, welche allem, was lebt, durch das Leben selber gepredigt wird: die Moral der Entwicklung. Haben und mehr haben wollen, Wachstum mit einem Wort - das ist das Leben selber. In der Lehre des Sozialismus versteckt sich schlecht ein 'Wille zur Verneinung des Lebens'" (11:586). Unter allen Umständen würde der Sozialismus "das Reich der tiefsten Vermittelmäßigung und Chineserei sein" (3:629).

Seine Voraussage, daß der Mensch mit Kollektiveigentum "ohne Vorsorge und Aufopferung (...), ausbeuterisch, als Räuber oder als liederlicher Verschwender" umgehen werde (2:680), war prophetisch. Tatsächlich träumte er von der Möglichkeit eines sozialistischen Gesellschaftsexperiments, selbst wenn der Beweis mit "einem ungeheuren Aufwand von Menschenleben" erkauft werden müßte. Das Forschungsprojekt mit den Versuchsmenschen sollte zeigen, "daß in einer sozialistischen Gesellschaft das Leben sich selber verneint, sich selber die Wurzeln abschneidet" (11:587). Nun, dieser Versuch wurde von "Nietzscheanischen" Marxisten (vgl. Fußnote 17) gemacht und erfolgreich abgeschlossen! 100 000 000 Menschen wurden im Verlauf dieses Vorhabens ermordet.

Da der Sozialismus die "alte religiöse Pietät gegen den Staat" zerstöre, müsse er schließlich, um an der Macht zu bleiben, zum Mittel des Staatsterrors greifen. In diesem Zusammenhang präsentiert Nietzsche eine beklemmend zutreffende Vision des 40 Jahre später aufkommenden Realsozialismus (2:307). Im 316. Aphorismus von Vermischte Meinungen und Sprüche zeigt er die verblüffende Ähnlichkeit von Feudalismus und Sozialismus (2:506f) - und greift damit den modernen Stalinismustheorien auf geradezu unheimliche Weise vor. Er nennt den Sozialismus den "phantastischen jüngeren Bruder" des feudalistischen Absolutismus. "Seine Bestrebungen sind also im tiefsten Verstande reaktionär" (2:307). Oder man nehme den 534. Aphorismus der Morgenröte, wo er auf die "pathetische und blutige Quacksalberei" der Revolution hinweist und statt dessen den Konservatismus preist, der in "kleinen Dosen" verändert, aber damit um so tiefer wirkt (3:305f).

Nietzsche zufolge werde die "Unfreiheit der Gesinnung und Person" durch einen revolutionären Hang evident. "Die Freiheit durch Zufriedenheit, Sicheinpassen und persönliches Bessermachen" (8:579). Reich schrieb an Neill: "Ich bin niemals ein Rebell oder Revolutionär (im Sinne des rebellischen Kleinen Mannes) gewesen, sondern eher ein ordentlicher, in geordneten Verhältnissen lebender, beruflich disziplinierter Mann der Naturwissenschaften und der Medizin. In dieser Hinsicht bin ich immer ein Konservativer im guten Sinne gewesen und hoffe, es auch noch den Rest meiner Tage zu bleiben" (31:575f). Reich zufolge hält sich der Konservative an die konkreten arbeitsdemokratischen Gegebenheiten, während der "Progressive" in einem Wolkenkuckucksheim von unrealistischen Utopien lebt. Zwangsläufig muß er seine Seele an den Teufel verkaufen (35).

"Objektivität" besteht für Nietzsche darin, in sich möglichst viele Affekte über eine Sache zu Worte kommen zu lassen (5:365). Entsprechend "konzipiert" der "relativ übermenschliche Typus" die Realität so, wie sie ist. Diese Art Mensch ist dazu stark genug: "sie ist nicht entfremdet, entrückt, sie ist sie selbst" (6:370). Es geht um den ideologiefreien, "unmetaphysischen" klaren Blick auf die Wirklichkeit. Gerechtigkeit gegen andere bzw. Redlichkeit gegenüber sich selbst bedeutet, eine Sache aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten (9:259f). Gerechtigkeit betrachtet Nietzsche, "als Funktion einer weit umherschauenden Macht, welche über die kleinen Perspektiven von gut und böse hinaus sieht, also einen weiteren Horizont des Vorteils hat - die Absicht, etwas zu erhalten, was mehr ist als diese und jene Person" (11:188). Dieser Blick transzendiert letztendlich die Panzerung: "Gerechtigkeit als bauende ausscheidende vernichtende Denkweise, aus den Wertschätzungen heraus: höchster Repräsentant des Lebens selber" (11:141).

Der "Kleine Mann", von dem Reich sprach, hat in dieser Beziehung ein Brett vor dem Kopf und ist "beschränkt". Nietzsche deutet auf die "schmalen Seelen" (3:357), die als Kinder ihr Herz "klein" machen mußten (5:220f). Und auch sonst äußert er sich, als wäre es ein Zitat aus Reichs Rede an den Kleinen Mann (37): "Worin besteht die Größe eines Charakters, als darin daß er, zu Gunsten der Wahrheit, im Stande ist, auch gegen sich Partei zu ergreifen?" (8:546). Entsprechend schreibt er am 31.12.1882 an seinen Freund Franz Overbeck über sich selber: "Meine Selbstüberwindung ist im Grunde meine stärkste Kraft" (15). Das erhoffte er sich auch von seinem geliebten Wagner: der Zauberer (Wagner) gibt zu, daß er nur ein Schauspieler ist - und überwindet so sein Schauspielertum (4:319).

Nietzsche greift vielen Gedanken von Die Massenpsychologie des Faschismus (33) und Menschen im Staat (39) vor.(18) Beispielsweise ist der 460. Aphorismus ("Der große Mann der Masse") aus Menschliches, Allzumenschliches eine vorweggenommene Analyse Hitlers: der "große Mann" müsse der "Masse" eine "unbezwingliche Willensmacht" vorspielen, da die Massenindividuen diese nicht besitzen und sie beim Führer um so mehr bewundern, als dieser sie anscheinend nicht für jene egoistischen Zwecke nutzt, die das Massenindividuum verfolgen würde, wäre es an seiner Stelle. Im übrigen habe der Führer jedoch alle Eigenschaften des Kleinen Mannes (2:298). "Die Völker werden so sehr betrogen, weil sie immer einen Betrüger suchen, nämlich einen aufregenden Wein für ihre Sinne" (3:161).

Für Nietzsche ist der Staat "organisierte Gewalttätigkeit". Durch die "Arbeitsteilung", etwa zwischen Gesetzgeber und Henker (13:97) und durch die "Zerteilung der Verantwortlichkeit" wird der Mensch von seiner Verantwortung entlastet. Dergestalt werden Greuel, die an sich der Natur des Täters widersprechen, doch möglich (13:187).

Auch andere Gedanken aus den späteren Zusätzen der Massenpsychologie des Faschismus und aus Menschen im Staat, etwa was die Wirkung der Maschinenzivilisation anbetrifft, hat bereits Nietzsche verfolgt: "Die Maschine lehrt durch sich selber das Ineinandergreifen von Menschenhaufen, bei Aktionen, wo jeder nur eins zu tun hat: sie gibt das Muster der Partei-Organisation und der Kriegsführung. Sie lehrt dagegen nicht die individuelle Selbstherrlichkeit: sie macht aus vielen eine Maschine, und aus jedem Einzelnen ein Werkzeug zu einem Zwecke. Ihre allgemeinste Wirkung ist, den Nutzen der Zentralisation zu lehren" (2:653). Gegen das "Maschinenwesentum" setzt Nietzsche ganz wie Reich das sich selbst steuernde Lebendige. Als Beispiel dafür die folgende Notiz: "Die Rangordnung ist das erste Resultat der Schätzung: im Verhältnis der Organe zu einander müssen schon alle Tugenden geübt werden - Gehorsam, Fleiß, Zu-Hülfekommen, Wachsamkeit - es fehlt ganz der Maschinen-Charakter in allem Organischen (Selbst-Regulierung)" (11:124).

In diesem Zusammenhang wird sogar Nietzsches Glorifizierung der Sklavenhaltergesellschaft annehmbar: Reich hat davor gewarnt, daß die Maschine zum gefährlichsten Gegenspieler des Menschen wird, "wenn er sich nicht von ihr differenziert" (33:297). Diese Aussage Reichs wird noch eine alles entscheidende Bedeutung gewinnen, wenn in Zukunft der Mensch mit "künstlicher Intelligenz" und "künstlichen Menschen" zusammenleben wird. Es besteht die Gefahr, daß diese Entwicklung, auch im Rahmen der Erfindung neuer Prothesen, den Menschen nur noch mehr zur Maschine degenerieren läßt. Wahrscheinlich kann uns hier nur, um Nietzsche zu paraphrasieren, "das Pathos der Distanz zur Erhaltung des Typus 'Mensch'" (vgl. 5:205) retten: die Maschinen nicht als Brüder, sondern als Sklaven betrachten!

 

 

5. Auf dem Weg zur Entdeckung des Orgons

Nietzsches "philosophisches" Programm ähnelt der Suche des Orgonomischen Funktionalismus nach dem Gemeinsamen Funktionsprinzip (CFP) der Natur.(19)

Gehen wir dazu von folgendem Satz aus: "Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte" (11:506). Wahrheit, also das wonach der Philosoph strebt, ist eine Funktion des Lebens. Leben wiederum ist eine Funktion des Willens zur Macht. Das Organische definiert Nietzsche als eine "Vorrichtung", bei der sich Bewußtsein entwickeln kann, da das Organische auf genau jenen Vorbedingungen beruht, die, wie bereits im 1. Abschnitt dargestellt, auch das Phänomen "Bewußtsein" ermöglichen (11:99). Zu diesen Vorbedingungen gehören Vereinfachen, Auswählen, Weglassen, kurz "Wille zur Macht". Nachdem Nietzsche zunächst das Mentale und dann das Organische auf den Willen zur Macht "reduziert" hat, zeigt er weiter, daß auch die physikalischen Naturgesetze nur eine "Formel" sind, "für die unbedingte Herstellung der Macht-Relationen und -Grade" (12:17).

Das ist in wenigen Sätzen der Kern von Nietzsches "System". Im folgenden bleibt nur noch sein "funktionelles" Denken klarer herauszuarbeiten und zu zeigen, wie weit er wirklich konzeptionell zur Orgonenergie vorgedrungen ist.

Das CFP taucht bereits in seinem ersten Buch, Die Geburt der Tragödie, auf. In seinen Vorstudien zu diesem Werk führt er beispielsweise aus, daß jede Wirkung, etwa die Rückwirkung des Einzelnen auf die Masse bzw. umgekehrt, bloßer Schein ist, denn das "Ureine" schaut "etwas als Prozeß, zeitlich, räumlich und kausal" (7:211). Dies ist eine abstrakte Vorwegnahme des Orgonomischen Funktionalismus: jede Wirkung zwischen Gegensätzen ist bloßer Schein, denn in Wirklichkeit sind sie nicht autonom, sondern werden von einer ihnen gemeinsamen einheitlichen Ebene bestimmt - etwas "Drittes" ist das Eigentliche.

Weit charakteristischer für Nietzsches Denken ist jedoch eine etwas andere Akzentsetzung: überhaupt seien alle Gegensätze illusorisch, denn wir selber hätten sie künstlich in die Welt hineingedichtet, tatsächlich gäbe es jedoch nur Gradunterschiede (12:384). Aber selbst diese Leugnung aller Gegensätze läßt den funktionellen Grundimpetus in Nietzsches Denken durchscheinen, denn, wenn es keinen "wesenhaften" Gegensatz von wahr und falsch gibt (5:53), hat, gemäß Reichs oft wiederholtem Motto, jeder irgendwo recht! "Der Einwand, der Seitensprung, das fröhliche Mißtrauen, die Spottlust sind Anzeichen der Gesundheit: alles Unbedingte gehört in die Pathologie" (5:100).

Der funktionelle Charakter seines Denkens zeigt sich etwa, wenn er, die einseitige "Seins-Mystik" der Geburt der Tragödie weit hinter sich lassend, schreibt, daß die"Kraft" keine Einheit, kein Seiendes sein kann, sondern den Widerspruch, den "Kampf" in sich tragen muß, da es ansonsten keine Veränderung gibt (9:685). Oder wenn er wissenschaftstheoretisch konstatiert: "Zwei Behandlungsarten sind zu Hindernis und Verspätung der Wissenschaft die traurigsten Werkzeuge; entweder man nähert und verknüpft himmelweit entfernte Dinge, in düsterer Phantasie und witziger Mystik; oder man vereinzelt das Zusammengehörige, durch zersplitternden Unverstand, bemüht sich nahverwandte Erscheinungen zu sondern, jeder ein eigen Gesetz unterzulegen, woraus sie zu erklären sein soll" (7:561).

Leider hat ausgerechnet der Begriff "Funktion" in Nietzsches "funktionalistischem" Denken einen pathologischen, genauer gesagt sadomasochistischen Unterton: "Sklaverei", d.h. das Unterordnen und Aufgehen in eine "Funktion" bzw. das "Erniedrigen" anderer zu einer "Funktion", kurz "Gehorsam" und "Unterwerfung" ist für ihn die Essenz des Lebens (9:491). Entsprechend seien "Ursache und Wirkung" nur eine grobe Umschreibung des ewigen Kampfes der verschiedenen Funktionen um die Herrschaft. An die Stelle der mechano-mystischen "Naturgesetze" setzt Nietzsche das vollständige Fehlen von Gesetzen: die Welt sei deshalb "berechenbar", weil "jede Macht in jedem Augenblick ihre letzte Konsequenz zieht" (5:37). Die die Welt konstituierenden und sich dabei beständig neu formierenden unermeßlich vielen "Willen zur Macht" kämpfen ununterbrochen unerbittlich bis aufs Alleräußerste!

Nietzsches gepanzerter Körper hat seine "wilde Weisheit" (4:135) oft fehlgeleitet. Man nehme etwa den 259. Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse, demzufolge "Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung" keine gesellschaftlichen Entartungen seien, sondern "ins Wesen des Lebendigen, als organische Grundfunktion" gehören (5:207f). Wie kam Nietzsche darauf? Einerseits "rezeptiv": "Wir gehören zum Charakter der Welt, das ist kein Zweifel! Wir haben keinen Zugang zu ihr als durch uns: es muß alles Hohe und Niedrige an uns als notwendig ihrem Wesen zugehörig verstanden werden!" (12:33). Andererseits "produktiv": "Was nur Wert hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach, - die Natur ist immer wertlos: - sondern dem hat man einen Wert einmal gegeben, geschenkt, und wir waren diese Gebenden und Schenkenden! Wir erst haben die Welt, die den Menschen etwas angeht, geschaffen!" (3:540). Alles hängt vom Charakter des Philosophen ab - von Nietzsches Charakter.(20)

Wie bereits erläutert, gilt es dem "Zeugnis der Sinne" zu folgen und sich am "Leitfaden des Leibes" zu orientieren. Beispielsweise bedeutet, ganz wie bei Reich, einen anderen verstehen, "sein Gefühl in uns nachzubilden" (3:133). Entsprechend macht sich Nietzsche über die mechanistische Forschungsmethode lustig: "Gesetzt, man schätzte den Wert einer Musik darnach ab, wie viel von ihr gezählt, berechnet, in Formeln gebracht werden könne - wie absurd wäre eine solche 'wissenschaftliche' Abschätzung der Musik!" (3:626). Leider strich er die folgenden Sätze aus dem Druckmanuskript: "Die Naturforscher des mechanistischen Bekenntnisses leugnen im Grunde gleich allen Tauben, daß es Musik gibt, daß das Dasein Musik ist, selbst daß es Ohren geben dürfe... Sie entwerten damit das Dasein" (14:275). Das trifft die Haltung der mechanistischen Wissenschaft zur Orgonenergie genau!

Die folgende Notiz, in der Nietzsche das Spontane, "Organismische" jeder funktionellen Forschung, die Lehre des "Philosophen Dionysos" (6:160), beschreibt, gibt in etwa auch Reichs Forschungsansatz wider: Nietzsche klagt "die Kolportage-Philosophen" an, "welche nicht aus ihrem Leben, sondern aus Sammlungen von Beweisstücken für gewisse Thesen eine Philosophie aufbauen". Dagegen setzt er: "Nie sehen wollen, um zu sehen! Als Psychologe muß man leben und warten - bis von selber das durchgesiebte Ergebnis vieler Erlebnisse seinen Schluß gemacht hat. Man darf niemals wissen, woher man etwas weiß. Sonst gibt es eine schlechte Optik und Künstlichkeit. - Das unfreiwillige Vergessen des Einzel-Falls ist philosophisch, nicht das Vergessen wollen, das absichtliche Abstrahieren: letzteres kennzeichnet vielmehr die nichtphilosophische Natur (des betreffenden Denkers)" (12:369f). "Wie die Natur nicht nach Zwecken verfährt, so sollte der Denker auch nicht nach Zwecken denken d.h. nichts suchen, nichts beweisen oder widerlegen wollen" (9:117). Nietzsche strebt danach, ähnlich dem "Stillen Beobachter" Reich, ein "unsichtbarer Zuschauer" zu sein (9:454).

Dieser gewisse Abstand zur eigenen Person(21) mag ihn dazu bewogen haben, die strenge Philologie als Fach zu wählen und von einer Existenz als Naturwissenschaftler zu träumen. Wie später für Reich waren für ihn "die Methoden, man muß es zehnmal sagen, (...) das Wesentliche, auch das Schwierigste, auch das, was am längsten die Gewohnheiten und Faulheiten gegen sich hat" (6:248). Logisches Denken müsse man lernen "als Theorie, als Praktik, als Handwerk" (6:109).

Von seiner Fähigkeit, funktionell zu denken, spricht sein Hinweis, daß, wer von "Ursache und Wirkung" spricht, die Zeit zwischen beiden, die "Dauer des Kampfes", leugne (12:33). "Beim Glauben an Ursache und Wirkung ist die Hauptsache immer vergessen: das Geschehen selbst" (13:261). Oder anders ausgedrückt: "Koordination statt Ursache und Wirkung" (11:159). Die "Umwertung aller Werte" beinhaltet, daß an die Stelle von Ursache und Wirkung "das beständig Schöpferische" tritt (11:225).(22) Die Welt ist also etwas durch und durch Lebendiges: "Das 'Sein' - wir haben keine andere Vorstellung davon als 'leben'. - Wie kann also etwas Totes 'sein'?" (12:153). Entsprechend ist in seinem Universum ausschließlich die Zeit, also das "Geschehen zwischen Ursache und Wirkung", objektiv, während Raum und Materie nur "subjektive Form" sind (10:9). Raum sei eine Abstraktion: "an sich gibt es keinen Raum, namentlich gibt es keinen leeren Raum" (11:252). Es gibt keinen leeren Raum, denn "alles ist Kraft" (10:9).

Jede Form von Mechanismus steht ihm, der sich am Lebendigen orientiert, fern. Generell macht er sich über die "herrschende mechanistische Tölpelei" lustig, "welche die Ursache drücken und stoßen läßt, bis sie 'wirkt'" (5:35). Wenn etwa der mechanistische Darwinismus das Leben als bloße reaktive Anpassung an äußere Umstände definiert, werde, so Nietzsches Einwand, "der prinzipielle Vorrang übersehn, den die spontanen, angreifenden, übergreifenden, neuauslegenden, neurichtenden und gestaltenden Kräfte haben, auf deren Wirkung erst die 'Anpassung' folgt" (5:316). Im Gegensatz zu Darwins Konzeption steht beim "Anti-Darwinisten" Nietzsche nicht die Anpassung an die Umwelt (beispielsweise an die menschliche Gesellschaft) hinter der Evolution, sondern ganz im Gegenteil die Überwindung der Umwelt (der Gesellschaft). Beim Phänomen Leben paßt sich nicht das Innere an, sondern der Wille zur Macht unterwirft und einverleibt sich von innen her immer mehr äußeres (12:295).

Diese Konzeption hebt sich gleichzeitig von jeder Art von Idealismus ab: Es gibt weder einen "freien Willen" noch einen "freien Geist". Vielmehr stellt sich die Frage nach einem schwachen oder starken Willen (5:36). Und was das Bewußtsein betrifft: die "organisierende, die zur Herrschaft berufene 'Idee'" bringt zunächst einmal alle Mittel hervor und stellt alle Voraussetzungen her, bevor "Ziel", "Zweck" und "Sinn" des Ganzen feststeht und von "Bewußtsein" überhaupt die Rede sein kann (6:294). Handlungen müssen zunächst "mechanisch als möglich vorbereitet sein, bevor sie gewollt werden" (10:663). Ganz wie Reich hebt Nietzsche hervor, daß Ursache und Entstehung einer Sache und ihr späterer Zweck nichts miteinander zu tun haben (5:313); alle Zwecke, alle "Nützlichkeiten" nur davon ein Anzeichen sind, "daß ein Wille zur Macht über etwas weniger mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat" (5:314).

Nietzsche bestreitet generell, daß es in der Natur ein "um zu" gibt (9:508). Man könnte jede Menge Stellen zitieren, in denen er zeigt, daß der "Zweck" sekundär ist: "- es gibt in der Natur weder Mittel, noch Zwecke" (9:235). "Alles, was lebt, bewegt sich; diese Tätigkeit ist nicht um bestimmter Zwecke willen da, es ist eben das Leben selber" (9:21). Beispielsweise sind "die Befriedigung des Geschlechtstriebs und die Frage der Nachkommenschaft grundverschiedene Dinge" (12:496). "Der Geschlechtstrieb hat zur Zeugung kein notwendiges Verhältnis: gelegentlich wird durch ihn jener Erfolg mit erreicht, wie die Ernährung durch die Lust des Essens" (9:232). Die geschlechtliche Begierde hat mit der Erhaltung der Gattung so viel zu tun, wie der Genuß beim Essen mit der Erhaltung des Individuums, nämlich nichts (9:234). Überhaupt ist der Begriff "Geschlechtstrieb" "ein Vorurteil" (9:207). Man sucht das Angenehme und meidet das Unangenehme, weshalb es nicht nur keinen "Gattungserhaltungstrieb", sondern auch keinen Selbsterhaltungstrieb gibt (9:479).

Es ist nur folgerichtig, daß diese Art zu denken, Nietzsche zu einer Konzeption der Welt führte, die an die Orgonomie gemahnt. Sein Biograph Curt Paul Janz faßt Nietzsches "Lehre" wie folgt zusammen: "Am Grunde aller Erscheinungen und Erfahrungen glaubt Nietzsche eine Energie, eine Kraft wirksam, die er - nicht sehr geschickt - 'Wille zur Macht' nennt. Alles was da ist, strebt sich geltend zu machen, an 'Macht' zu gewinnen. Es trifft auf Nachbarn, die von demselben Streben angetrieben sind. Das Mächtigere gewinnt die Oberhand, Äquivalentes hält sich in einem schwebenden Gleichgewicht. Aus diesem ununterbrochenen Kräftemessen entsteht die Bewegung, deren Ausdruck das Resultat 'Welt' ist, der allein Realität zukommt und hinter der es keine 'andere' oder 'höhere' Welt, kein 'Ewig-Seiendes' gibt und geben kann, auch keine 'Ideen' (Platon) oder ein 'Ding an sich' (Kant)" (20:427).

Unterstrichen werden muß, daß Nietzsche nicht an einen einheitlichen "Grund aller Erscheinungen und Erfahrungen" glaubt, nicht an den einen "Willen zur Macht". Deshalb würde ihn, wie er am 6.3.1883 an Franz Overbeck schrieb, die hinduistische Vedanta-Philosophie des "All-Einen" sicherlich als "das böse Prinzip" betrachten (15). Er blieb der Erscheinungswelt treu und sprach ganz pragmatisch im Plural von den Willen zur Macht: "es gibt keinen Willen: es gibt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren und verlieren" (13:36f). Eine Welt nicht aus "Dingen", sondern aus konkreten Energiequanten: "dynamische Quanta, in einem Spannungsverhältnis zu allen anderen dynamischen Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältnis zu allen anderen Quanten besteht, in ihrem 'Wirken' auf dieselben - der Wille zur Macht nicht ein Sein, noch ein Werden, sondern ein Pathos ist die elementarste Tatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergibt..." (13:259).

Was man sich unter "Pathos" vorzustellen hat, machen vielleicht folgende Notizen deutlich: "Seht ihr nicht, wie Zeit nur ein Übermut und Raum nur eine Ausgelassenheit ist?" (10:551). "Ich fand einen Übermut in allen Dingen, den hieß ich göttlich. Und weil ich diesen Übermut auch in meiner Seele fand, heiße ich auch meine Seele göttlich" (10:567). Für Nietzsche ist demnach "Pathos" gleichbedeutend mit "Affekt": "Lebensenergie" im wahrsten Sinne des Wortes. Orgonomisch würde man vielleicht von "Erstrahlung" sprechen.

Im 36. Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse führt er aus, daß für das Menschentier nur die Triebe Realität besäßen, weshalb auch die mechanisch-materielle Welt aus ihnen zu erklären ist und zwar als eine primitivere Vorform des Lebendigen, aus der sich das komplexere Organische abgezweigt hat. Folgerichtigerweise kann man nur eine Kausalität anerkennen: Wille kann nicht auf "Stoffe", sondern nur auf Wille wirken (5:55). Sind nicht, so frägt er, alle Quantitäten "Anzeichen von Qualitäten"? Da in einer rein quantitativen Welt alles tot, starr und unbewegt wäre, ist die Reduktion aller Qualitäten auf Quantitäten Unsinn (12:142f). Entsprechend kritisiert er die abstrakte Logik und Mathematik, weil sie nur durch das "Wegrechnen" der Qualität funktionieren (11:647). Die, wie er sie nennt, "mechanistische Auffassung", wolle nichts als Quantitäten, könne so die Vorgänge aber nur beschreiben, nicht erklären, denn die Kraft stecke in der Qualität (12:96).

Der physikalische Kraftbegriff, mit dessen Hilfe die Physiker die Welt entgöttlicht haben, bedarf also einer Ergänzung: es muß ihm eine "innere Welt" zugesprochen werden, die Nietzsche als "Willen zur Macht" bezeichnet. So wie man bei Tier und Mensch alle Triebe und organischen Funktionen aus dem Willen zur Macht ableiten kann, muß es möglich sein, auch alle rein mechanischen Bewegungen und Gesetze als Symptome eines "innerlichen Geschehens" zu erfassen (11:563). Entsprechend besitzt die Natur ein quasi bewußtes "Innenleben": "Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren 'intelligiblen Charakter' hin bestimmt und bezeichnet - sie wäre eben 'Willen zur Macht' und nichts außerdem" (5:55). Die wirkliche Welt, also nicht die logisierte und mathematisierte Welt der Philosophen und Physiker, ist "von innen her bezeichnet" Wille zur Macht (11:654).

Es ist so, wie bereits beim Bewußtsein beschrieben: die mechanische Bewegung in der Welt ist nur "Oberfläche", nur "Zeichen eines inneren Geschehens" (12:294). Man muß Bewegung als "Symptom eines nicht-mechanischen Geschehens" betrachten. "Bei der mechanistischen Weltauffassung stehen bleiben - das ist, wie als ob ein Tauber die Partitur eines Werks als Ziel nimmt" (12:306). Oder mit anderen Worten: "die mechanische Bewegung ist nur ein Ausdrucksmittel eines inneren Geschehens" (12:18). "Alle Physik ist nur Symptomatik" (11:147), "nur eine Zeichensprache für die interne Tatsachen-Welt kämpfender und überwindender Willens-Quanta", denn "das Unterste und Innerste bleibt dieser Wille: Mechanik ist eine bloße Semiotik der Folgen" (13:262).

Ist das nicht purer Mystizismus? Nietzsche dreht die Frage um und behauptet, daß die "rein objektive" Physik mit ihrer Atomtheorie durchaus nicht wesensverschieden vom "Subjektiv-Weltbild" ist, da der Physiker die Welt auch nur nach seinen Sinnen "konstruiert". Damit vollziehe der Physiker bloß jenen "Perspektivimus" nach, "vermöge dessen jedes Kraftzentrum - und nicht nur der Mensch - von sich aus die ganze übrige Welt konstruiert, d.h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet..." Die Physiker haben "vergessen, diese perspektivensetzende Kraft in das 'wahre Sein' einzurechnen... In der Schulsprache geredet: das Subjektsein" (13:373). Das "Subjektsein" ist dabei natürlich selbst nur eine Funktion des Perspektivismus: "Eine Art von Perspektive im Sehen wieder als Ursache des Sehens selbst zu setzen: das war das Kunststück in der Erfindung des 'Subjekts', des 'Ichs'!" (12:162).

Vor diesem Hintergrund kann die Psychologie von neuem "Herrin der Wissenschaft" werden, "denn Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen" (5:39). Es ist ganz wie bei Reich, der beklagte, daß bisher Biologie, Medizin und Psychiatrie der Physik und Chemie nachgelaufen seien, um eine naturwissenschaftliche Basis zu finden. Durch die Entdeckung der Orgonenergie kehre sich dieses Verhältnis nun wieder um: die Lücken und Unstimmigkeiten im Gebiete von Physik und Chemie würden jetzt anhand der Funktionen des lebendigen Organismus aufgeklärt werden (32:E-27). Der entsprechende Dreischritt bei Nietzsche lautet, wie schon angedeutet: das Denken und "Wertschätzen" ist nur Ausdruck der dahinter waltenden Triebe, genauso lassen sich die organischen Grundfunktionen auf den Willen zur Macht reduzieren und analog dazu auch die rein mechanischen Prozesse, die nur äußerlich sind und eines inneren Antriebes bedürfen (12:17).(23)

Trotzdem wäre eine "Gleichsetzung" von "Wille zur Macht" und Orgonenergie sinnlos, gäbe es nicht Aussagen Nietzsches, die auf spezifisch "Orgonomisches" verweisen. Man nehme etwa folgende Notizen, die genau dem entsprechen, wie Reich das Orgonomische Potential im Bereich des Lebendigen beschrieben hat:

Die "niedersten belebten Wesen" strebten danach, über die bloße Kompensation von Verlusten hinaus sich (gemäß ihrem "Willen zur Macht") möglichst viel einzuverleiben, um sich schließlich in zwei Wesen aufzuspalten (9:490). "Das Schwächere drängt sich zum Stärkeren, aus Nahrungsnot; es will unterschlüpfen, mit ihm womöglich eins werden. Der Stärkere wehrt umgekehrt ab von sich, er will nicht in dieser Weise zu Grunde gehen; vielmehr, im Wachsen, spaltet er sich zu Zweien und Mehreren. Je größer der Drang ist zur Einheit, um so mehr darf man auf Schwäche schließen; je mehr der Drang nach Varietät, Differenz, innerlichem Zerfall, um so mehr Kraft ist da" (11:560).(24) "Die Teilung eines Protoplasma in 2 tritt ein, wenn die Macht nicht mehr ausreicht, den angeeigneten Besitz zu bewältigen: Zeugung ist Folge einer Ohnmacht" (12:38).

Das Verhalten des Protoplasmas ist der Schlüssel zum Verständnis des "chemischen Verhaltens" jener Stoffe, die sich das Protoplasma aneignet und "anorganisiert" (12:420). Nietzsche wagt auch den Schritt zur Kosmologie, indem er konstatiert, daß der "Wille zur Akkumulation der Kraft" spezifisch für das Phänomen des Lebens ("für Ernährung, Zeugung, Vererbung, für Gesellschaft, Staat, Sitte, Autorität") sei und weiter frägt: "sollten wir diesen Willen nicht als bewegende Ursache auch in der Chemie annehmen dürfen? und in der kosmischen Ordnung?" (13:261).

Diese Ordnung betrachtet er nicht, wie es der Platonismus tut, als minderwertigen Ausfluß perfekter überweltlicher "Wirkstrukturen", vielmehr sei "der werdende Gott (...) der mythologische Ausdruck für die wahren Vorgänge" (9:123). Dies bedeutet, daß die Welt nicht, gemäß dem Mechanischen Potential, die Verminderung eines Ideals ist, sondern ein Entwicklungsprodukt, dem das Orgonomische Potential zugrunde liegt. Das "Gesamtwerden" ist für Nietzsche ein Energieprozeß auf der Basis einer konstant bleibenden Menge an Energie. "Ökonomisch betrachtet, steigt sie bis zu einem Höhepunkt und sinkt von ihm wieder herab in einem ewigen Kreislauf." Dieser Höhepunkt ist die "Verwandlung der Energie in Leben und Leben in höchster Potenz" (12:535).

Seine "neue Welt-Konzeption" widerspricht dem Zweiten Thermodynamischen Gesetz und beinhaltet deshalb, wie er glaubt, logisch zwangsläufig die Ewige Wiederkehr des Gleichen: "Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts, was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehen - sie erhält sich in beidem... Sie lebt von sich selber: ihre Exkremente sind ihre Nahrung..." (13:374). Alles wird von der Pulsation bestimmt: "Beide Prozesse: den der Auflösung und den der Verdichtung als Wirkungen des Willens zur Macht zu begreifen. Bis in seine kleinsten Fragmente hinein hat er den Willen, sich zu verdichten. Aber er wird gezwungen, um sich irgendwohin zu verdichten, an anderer Stelle sich zu verdünnen usw." (11:702).

 

 

Literatur

  1. Nietzsche, F.: Die Geburt der Tragödie u.a. KRITISCHE STUDIENAUSGABE, Hrsg. C. Colli und M. Montinari, München 1988
  2. Nietzsche, F.: Menschliches, Allzumenschliches KRITISCHE STUDIENAUSGABE, Hrsg. C. Colli und M. Montinari, München 1988
  3. Nietzsche, F.: Morgenröte u.a. KRITISCHE STUDIENAUSGABE, Hrsg. C. Colli und M. Montinari, München 1988
  4. Nietzsche, F.: Also sprach Zarathustra KRITISCHE STUDIENAUSGABE, Hrsg. C. Colli und M. Montinari, München 1988
  5. Nietzsche, F.: Jenseits von Gut und Böse u.a. KRITISCHE STUDIENAUSGABE, Hrsg. C. Colli und M. Montinari, München 1988
  6. Nietzsche, F.: Der Fall Wagner u.a. KRITISCHE STUDIENAUSGABE, Hrsg. C. Colli und M. Montinari, München 1988
  7. Nietzsche, F.: Nachgelassene Fragmente 1869-1874 KRITISCHE STUDIENAUSGABE, Hrsg. C. Colli und M. Montinari, München 1988
  8. Nietzsche, F.: Nachgelassene Fragmente 1875-1879 KRITISCHE STUDIENAUSGABE, Hrsg. C. Colli und M. Montinari, München 1988
  9. Nietzsche, F.: Nachgelassene Fragmente 1880-1882 KRITISCHE STUDIENAUSGABE, Hrsg. C. Colli und M. Montinari, München 1988
  10. Nietzsche, F.: Nachgelassene Fragmente 1882-1884 KRITISCHE STUDIENAUSGABE, Hrsg. C. Colli und M. Montinari, München 1988
  11. Nietzsche, F.: Nachgelassene Fragmente 1884-1885 KRITISCHE STUDIENAUSGABE, Hrsg. C. Colli und M. Montinari, München 1988
  12. Nietzsche, F.: Nachgelassene Fragmente 1885-1887 KRITISCHE STUDIENAUSGABE, Hrsg. C. Colli und M. Montinari, München 1988
  13. Nietzsche, F.: Nachgelassene Fragmente 1887-1889 KRITISCHE STUDIENAUSGABE, Hrsg. C. Colli und M. Montinari, München 1988
  14. Nietzsche, F.: Kommentar KRITISCHE STUDIENAUSGABE, Hrsg. C. Colli und M. Montinari, München 1988
  15. Nietzsche, F.: Sämtliche Briefe (8 Bde.) KRITISCHE STUDIENAUSGABE, Hrsg. C. Colli und M. Montinari, München 1986

  16. Andreas-Salomé, L.: In der Schule bei Freud, Zürich 1958
  17. Danto, A.C.: Nietzsche als Philosoph, München 1998
  18. Freud, S., L. Andreas-Salomé: Briefwechsel, Frankfurt 1966
  19. Gerhardt, V.: Friedrich Nietzsche, München 1992
  20. Janz, C.P.: Friedrich Nietzsche Bd. 2, München 1981
  21. Janz, C.P.: Friedrich Nietzsche Bd. 3, München 1981
  22. Köhler, J.: Zarathustras Geheimnis, Nördlingen 1989
  23. Koenen, G.: Utopie der Säuberung, Berlin 1998
  24. Lange, F.A.: Geschichte des Materialismus, Frankfurt 1974
  25. Laska, B.A.: Ein dauerhafter Dissident, Nürnberg 1996
  26. Laska, B.A.: "Nietzsches initiale Krise" (2002) www.lsr-projekt.de/nietzsche.html
  27. Martin, J.: Wilhelm Reich and the Cold War, Fort Bragg, CA 1999
  28. Maurois, A.: Don Juan oder Das Leben Byrons, Hamburg 1969
  29. Nehamas, A.: Nietzsche, Göttingen 1991
  30. Nietzsche, F.: My Sister and I, Revised and Updated Edition of Nietzsche's Suppressed Final Work, Los Angeles 1990
  31. Placzek (Hrsg), B.R.: Zeugnisse einer Freundschaft, Köln 1986
  32. Reich, W.: The Einstein Affair, Rangeley, Maine 1953
  33. Reich, W.: Die Massenpsychologie des Faschismus, Frankfurt 1974
  34. Reich, W.: Frühe Schriften, Köln 1977
  35. Reich, W.: Christusmord, Olten und Freiburg im Breisgau 1978
  36. Reich, W.: Äther, Gott und Teufel, Frankfurt 1983
  37. Reich, W.: Rede an den Kleinen Mann, Frankfurt 1984
  38. Reich, W.: Charakteranalyse, Köln 1989
  39. Reich, W.: Menschen im Staat, Frankfurt 1995
  40. Reich, W.: Die kosmische Überlagerung, Frankfurt 1997
  41. Reich, W.: American Odyssey, New York 1999
  42. Ross, W.: Der ängstliche Adler, München 1994
  43. Safranski, R.: Nietzsche, München 2000
  44. Stirner, M.: Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1981

 

 


Fußnoten

(1) Nietzsche: "Seltsam! Ich werde in jedem Augenblick von dem Gedanken beherrscht, daß meine Geschichte nicht nur eine persönliche ist, daß ich für viele etwas tue, wenn ich so lebe und mich forme und verzeichne: es ist immer als ob ich eine Mehrheit wäre, und ich rede zu ihr traulich-ernst-tröstend" (9: 339). – In diesem Aufsatz wird Nietzsches altertümliche Schreibweise weitgehend der modernen angepaßt.

(2) Diese durchaus "proto-orgonomisch" zu nennenden Einflüsse auf Nietzsche reichten vom Begründer der Entwicklungsphysiologie Wilhelm Roux (1850-1924), insbesondere dessen Aufsatz von 1881 "Der züchtende Kampf der Teile oder die 'Teilauslese' im Organismus, zugleich eine Theorie der 'funktionellen Anpassung'", bis hin zu Buchtiteln wie "Die Kraft. Eine realmonistische Weltanschauung. Bd. I: Die Kontraktionsenergie, die letztursächliche einheitliche mechanische Wirkungsform des Weltsubstrates" von J.G. Vogt (Leipzig 1878).

(3) Ganz im Reichschen Sinne sagt Nietzsche: "Zwei wird aus Eins, Eins aus Zwei: das sieht man mit Augen bei der Zeugung und Vermehrung der niedrigsten Organismen; der Mathematik wird beständig im wirklichen Geschehen widersprochen, widerlebt, wenn der Ausdruck erlaubt ist" (11:631).

(4) Man vergleiche den besagten "Einbeiner" mit den einbeinigen Tänzerinnen ("Mädchen-Katzen") der Dionysos-Dithyramben (6:384f).

(5) Freud hat Nietzsche bereits 1877 gelesen! Er gehörte einem der ersten informellen "Nietzsche-Studiengruppen" überhaupt an. Freuds Freund, der Physiologe Joseph Paneth (gest. 1890), der Nietzsche 1883/84 in Nizza kennengelernt hatte, brachte ihm Nietzsche persönlich näher (22).

(6) Anders als Freud ist Nietzsche gegen das Bewußtmachen und "Analysieren" um jeden Preis: "Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig, bewußt, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine Krankheit, eine andere Krankheit - und durchaus kein Rückweg zur 'Tugend', zur 'Gesundheit', zum Glück... Die Instinkte bekämpfen müssen - das ist die Formel für Dekadenz: so lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt" (6:73).

(7) So gehen die als Motto dieses Artikels gewählten Sätze Reichs weiter.

(8) Daß Nietzsche hier voll und ganz für "Saharasia" plädiert, wird daraus ersichtlich, daß er "Asiens Instinkt-Überlegenheit" preist, denn dort werde "das Weib als Besitz, als verschließbares Eigentum, als etwas zur Dienstbarkeit vorbestimmtes und in ihr sich vollendendes" behandelt (5:175). In den Dionysos-Dithyramben feiert er sein (im übrigen sehr zeittypisches) Ideal: den Harem und die "Wüstenoase", wo die "Töchter der Wüste" auf seiner "heißen Dattel" herumbeißen (6:384).

(9) In seinem bekannten Nietzsche-Buch wehrt sich Rüdiger Safranski dagegen, Nietzsche auf die "Geheimgeschichte seiner Sexualität" reduzieren zu wollen. "Man macht sie zum privilegierten Ort des Wahrheitsgeschehens. Die Sexualität gilt als Wahrheit der Person. Es ist dies die vielleicht prominenteste Wahrheitsfiktion des 20. Jahrhunderts, doch schon im 19. Jahrhundert war sie aufgekommen. Unter der Roheit und versteckten Aggressivität eines solchen Willens zur Wahrheit, der die Person von ihrer Sexualgeschichte her entschlüsselt, hat Nietzsche gelitten. Zwar hat auch er das Triebgeschehen erforscht, aber er hat darin eine unendliche Vielfalt entdeckt, er war in dieser Angelegenheit Polytheist und huldigte nicht dem phantasielosen Monotheismus der Sexual-Deterministen" (43:255).

(10) Auch Nietzsches "Triebtheorie" kann zum "Todestrieb" führen: "Preis der toten Welt. Die Triebe und ihre Entwicklung zeigen zuletzt ihre Unvernunft, sie widersprechen sich (in der Form des Intellekts, der das Dasein nicht mag) wie der Schmerz dasselbe zeigt" (9:420).

(11) "Meine Macht ist mein Eigentum. Meine Macht gibt Mir Eigentum. Meine Macht bin Ich selbst und bin durch sie mein Eigentum" (44:203).

(12) Wie gesagt wird im Rahmen der Philosophie vom Willen zur Macht dies vollständig anti-Stirnersche Konsequenzen nach sich ziehen: der Übermensch, der über sich selbst herrscht, will letztendlich die gesamte Menschheit vereinigen, indem er über sie neue "Gesetzgebungen, Religionen und Sitten" stellt (11:581).

(13) Bei Stirner lesen wir: "(...) es ist ein mächtiger Unterschied, ob Ich Mich zum Ausgangs- oder zum Zielpunkt mache. Als letzteren habe Ich Mich nicht, bin mir mithin noch fremd, bin mein Wesen, mein 'wahres Wesen', und dieses Mir fremde 'wahre Wesen' wird als Spuk von tausenderlei Namen sein Gespött mit mir treiben" (44:368).

(14) In gewisser Weise nimmt Nietzsche das Denken der Quantenmechanik vorweg, wenn er etwa über das "Reich der Atome" sagt: "Eine Linie ist eine Abstraktion im Verhältnis zu dem wahrscheinlichen Tatbestand: wir können mit keinem Zeichen eine bewegte Kraft malen, sondern isolieren begrifflich 1) die Richtung 2) das Bewegte 3) den Druck usw. In Wirklichkeit gibt es diese isolierten Dinge nicht!" (9:548). Es gibt keine "Linien", die sich beliebig teilen ließen, sondern nur unteilbare funktionelle Ereignis-Ganzheiten mit bestimmten unteilbaren Eigenschaften!

(15) Zwar können wir "unseren Leidenschaften ein höheres Leben geben, wenn wir ihre direkten Entladungen verhindern. Aber mitunter ist es ekelhaft z.B. beim Geschlechtstrieb" (9:300).

(16) "Die hohe und ehrliche Form des Geschlechtsverkehrs, die der Leidenschaft, hat jetzt noch das böse Gewissen bei sich. Und die gemeinste und unredlichste das gute Gewissen" (10:30). Damit zielt Nietzsche auf die "grundverlogene" Institution Ehe (12:496). Sie funktioniere nur, weil Mann und Frau vorher nie erfahren hätten, was Liebe und Freundschaft sei: "Die Ehe ist auf verkümmerte Halbmenschen eingerichtet" (10:31).

(17) Zwar beriefen sie sich nur teilweise explizit auf Nietzsche, aber sein Einfluß läßt sich bei ihnen durchgehend nachweisen. Beispielsweise war der russische Kommunismus eine Art "Nietzscheanischer Marxismus". "Der von Nietzsche philosophisch artikulierte Wunsch, die gesamte zähe Deckschicht der jüdisch-christlichen und bürgerlichen Zivilisation abzustoßen und den Weg zurück zu einem 'dionysischen Zustand', einer neuen 'Echtheit' des Lebens und einer Moral 'jenseits von Gut und Böse' zu finden, hatte gerade auch in Rußland eine - später sorgsam kaschierte - Wirkungsgeschichte" (23).

(18) Reich merkt dazu an: "Wenn wir die Wahrheit über gesellschaftliche Dinge erfahren wollen, so lesen wir bei Ibsen und Nietzsche nach, die beide 'verrückt' geworden sind, und nicht in den Schriften irgendeines angepaßten Diplomaten oder in den Resolutionen kommunistischer Parteikongresse" (38:522).

(19) Dem berühmten Nietzsche-Interpreten Arthur C. Danto zufolge war Nietzsche weniger ein Philosoph, sondern eine Art "Naturforscher": "Ein philosophisches Problem ist für Nietzsche eine Frage, die nicht zu beantworten, sondern zu überwinden wäre; erst durch die Wissenschaft, und insbesondere die von ihm angeblich selbst entwickelte Wissenschaft, ist dies zu bewerkstelligen. (...) Sein ganzes intellektuelles Leben hindurch blieb er ein sogenannter Szientist - eine Mischbildung aus einem 'Historiker des Denkens', einem Psychologen und auch einem spekulativen Physiker" (17:90f).

(20) Es ist nur folgerichtig, daß er am Ende sein Projekt einer geschlossenen Philosophie des "Willens zur Macht" aufgab und sich statt dessen einem anderen Thema zuwandte: der Person Nietzsche.

(21) Für Nietzsche ist ein "Was liegt an mir!" Ausdruck der wahren Leidenschaft (9:326). Natürlich ist dabei die "Entselbstung" nur scheinbar: "man lebt für seine Passion! und opfert etwas Geringeres von sich!" (9:425). Er spricht von einer "stolzeren Art von Selbstigkeit" (9:425).

(22) Zum Prozeß der Schöpfung, die Reich in Die kosmische Überlagerung (40) beschrieben hat, paßt Nietzsches Notiz: "Die Gegensätze sich paarend wie Mann und Weib zur Zeugung von etwas Drittem – Genesis der Werke der Genies!" (11:67).

(23) Das alles aber nur, um zu einem Ergebnis zu kommen, das dem widerspricht, wofür Reich stand: Nietzsche leitet die "guten" (primären) aus den "schlimmen" (sekundären) Trieben ab und betrachtet die letzteren als Bedingung des Lebens im allgemeinen und seiner Steigerung im besonderen (5:38f).

(24) Hier liegt kein Widerspruch zu Reichs Krebstheorie vor, nach der der Organismus bei Energieverlust zerfällt. In Der Fall Wagner beschreibt Nietzsche selbst die organismische Zersetzung, so als wolle er Reichs Konzept der Krebsbiopathie illustrieren. Nietzsche zufolge ist die "kleine Form" Beweis dafür, daß sich "das Leben aus dem Ganzen zurückgezogen hat und im Kleinsten luxuriert" (Brief an Carl Fuchs vom 26.8.1888[15]). Reich spricht von der Reorganisation auf dem primitivsten biologischen Niveau: das Teil entfaltet sich auf Kosten des Ganzen. Oder wie Nietzsche sagt: "Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt" (6:27).


zuletzt geändert
10.08.06

 

 


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